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Zehntes Kapitel

Eine Viertelstunde später wurden sie in ein kahles Bürozimmer geführt, und der Kommissar ließ sie eine ganze Weile allein. Erst jetzt kam ihnen zu Bewußtsein, daß die Angelegenheit wie eine Lawine vorwärtsgestürzt war. Aus einer unklaren Befürchtung war in wenigen Stunden »der Fall Werneuchen« geworden.

Noch heute abend würde in dem gelben Schreibtisch, hinter dem sie Platz genommen hatten, ein neues Aktenstück mit Werneuchens Namen liegen.

Kamp beobachtete das junge Mädchen. Ob sich Elma die ganze Schwere der Ereignisse bereits klargemacht hatte? Wie sie jetzt vor ihm saß, bemerkte er auf einmal, daß sie um Jahre gealtert war. Man konnte sie jetzt nicht mehr für achtzehn Jahre alt halten. Wie eine Witwe saß sie da, die alle Hoffnung begraben hat. Kamp mußte an die Hast denken, mit der sie Gerdas Bekanntschaft hatte machen wollen. Versprach sie sich noch etwas von einer Unterredung mit der Frau ihres Freundes? Aber es war wohl bei ihr nur noch ein Nachschwingen früherer Einstellung.

Kamp jedenfalls hatte die Hoffnung, daß Werneuchen noch am Leben sein könnte, vollkommen aufgegeben. Er saß nicht mehr hier, um noch zu helfen oder zu retten. Er wollte nur noch sein möglichstes beitragen, um den Täter oder die Täter zu entlarven. Ja, bei aller Erschöpfung spürte er sogar etwas wie einen gespannten Tatendrang in sich. Dabei dachte er im Innern natürlich fortgesetzt an Ernst Alexander. Er wußte auch, daß in den nächsten Tagen und Wochen immer wieder Augenblicke kommen würden, wo er um ihn weinte. Ja, geradezu weinte. Alle Worte, die Werneuchen je zu ihm gesprochen hatte, würden auferstehen und ihm mit Werneuchens leiser Stimme, dieser immer ein wenig ironischen Stimme, im Ohr weiterklingen. Werneuchen, dachte er, war sicher ein guter, ein ausgezeichneter Mensch gewesen. Nur die Ungunst der Zeit, dieser angespannte Existenzkampf, die Lebensangst, unter der er ständig litt, und die etwas ganz anderes war als nur Angst um sein Leben, – alles das hatte vielleicht die stachligen Seiten seines Wesens übermäßig hervorgekehrt. Hätte er Offizier bleiben können, so wäre er heute vielleicht ein glücklicher Mann und erfreute sich an Frau und Kindern, Rekruten und Pferden. Diesen Menschen hatte wirklich das Schicksal durch und durch geschüttelt

So hielt Kamp ihm im Innern die stille Totenrede. Derweilen er aber noch in aufrichtiger Trauer an ihn dachte, ruckte und stieß bei ihm eine ganz andere und in diesem Augenblick sicher sehr wenig angebrachte Frage unter der Oberfläche: hatte er, Kamp, recht daran getan, seine Partei zu nehmen? Gerdas Gesicht stieg vor ihm auf, und als er an ihre Bezeichnung »Spion Werneuchens« dachte, wurde er über und über rot. Wer konnte wissen, was alles in dieser Frau vorgegangen war, ehe sie sich mit Reuschhagen eingelassen hatte? Und wußte überhaupt jemand mit Bestimmtheit, was zwischen diesen Menschen spielte? Es gab so merkwürdige Dinge im Leben! Vielleicht hätte Kamp längst mit Gerda sprechen und zwischen ihr und Werneuchen vermitteln sollen.

»Wie gefällt Ihnen Reuschhagen?« fragte er überraschend Elma, die still zusammengesunken dasaß.

»Reuschhagen ist furchtbar!« sagte sie, als hätte seine Frage bei ihr sofort den richtigen Kontakt ausgelöst. »Was hat die arme Frau durchmachen müssen! Wie ist sie gealtert! Sahen Sie nicht wie sie von Reuschhagen behandelt wurde? Wie ein Tier ging sie neben ihm! Ach, Otmar, ich glaube, wir Menschen sind alle furchtbar schlecht zueinander!«

Dann verstummte sie wieder.

Ja, dachte er, sie hat recht. Wir Menschen sind alle furchtbar schlecht zueinander. Und nicht aus Schlechtigkeit, sondern aus Angst. Weil sich alle vor allen fürchten!

Der Kommissar war hin und wieder für einen Augenblick hereingekommen, um die Wartenden zu vertrösten. Einmal drehte er das elektrische Licht an, da es inzwischen dunkel geworden war. Schließlich nahm er an seinem Schreibtisch Platz. Er hatte von seinen Vorgesetzten erwirkt, daß er die Angelegenheit, in die er ganz zufällig auf seinem Inspektionsgang hineingeraten war, zu Ende führte. Natürlich wünschte er nichts dringender, als die Schlappe, die er erlitten hatte, baldmöglichst wieder auszugleichen.

Kamp wußte nicht, ob er sich über Leutholds Eifer freuen sollte. Auf ihn machte der Kommissar keinen besonders klugen Eindruck. Jetzt allerdings am Schreibtisch schien er ein ganz anderer Mensch zu sein als draußen. Vielleicht war er ein Mann der Organisation und nicht der Praxis.

Elma schien alles gleichgültig hinzunehmen. Sie hatte sich kaum gerührt, als Leuthold eröffnete, daß er die Untersuchung trotz der späten Stunde sofort ins Werk gesetzt habe.

»Würden Sie nach einer guten Photographie diesen Herrn Bensch auch in anderer Aufmachung wiedererkennen?« fragte er sie.

Sie nickte mit dem Kopf.

Vor Kamp erschien auf einmal das Bild, wie Elma sich auf dem Elisabethplatz Bensch mit zusammengekniffenen Augen angesehen hatte. Wie sie immer sah, wenn sie sich etwas ganz genau einprägen wollte.

»Mein Gott!« rief er hastig aus. »Sie haben es ja schon damals gewußt, daß er ein Mörder ist! Deshalb sahen Sie sich ihn so scharf an.«

»Ja«, nickte sie. »Das war mir alles nicht bewußt, aber etwas in mir rief mir zu, daß ich diesen Menschen ganz in mich aufnehmen müßte. Deshalb habe ich ihn ja auch gleich wiedererkannt, als ich nur seinen Rücken sah.«

»Um so eher werden Sie ihn vielleicht auch auf einer Photographie wiedererkennen«, sagte der Kommissar und ließ sie durch einen Beamten, der draußen wartete, zu dem sogenannten Verbrecheralbum führen.

»Sie werden dort lange zu tun haben, Fräulein Diepenbroich. Unsere Sammlung ist reichhaltig, wenn auch leider nicht vollständig. Sehen Sie sich diese Galerie schöner Männer recht genau an.«

Als sie unter vier Augen waren, fragte Leuthold den Studenten nach dem Verhältnis zwischen Elma und Werneuchen. Kamp sagte ihm das Nötige, ohne auf seine Vermutungen einzugehen. Dann gab er ihm einen zusammenhängenden Bericht über die ganze Geschichte. Während er erzählte, rückte auch der Besuch bei Berdelow, an den Kamp seit Stunden überhaupt nicht mehr gedacht hatte, wieder in den Vordergrund. Leuthold hörte aufmerksam zu, ohne zu unterbrechen.

»Kann es nicht sein,« sagte er schließlich, »daß Herr Werneuchen wirklich nach Amerika abgedampft ist?«

Er setzte die Gründe dafür im einzelnen auseinander. Vielleicht war es dem Unglücklichen in Regensburg klar geworden, daß er nie und nimmer eine kaufmännische oder sonstige Anstellung erlangen würde. Die Zeiten waren nicht danach. Ihm fehlten Empfehlungen und auch eine kaufmännische oder sonstige Ausbildung. Unter diesen Umständen war es vielleicht sogar das richtige, daß er sein Glück in der Ferne versuchte. Jetzt hatte er noch Geld, um in Amerika etwas zu beginnen. Es war gewissermaßen der letzte Termin. Wenn er jetzt nicht handelte, saß er ein halbes Jahr später ohne einen Pfennig da und konnte überhaupt nicht mehr ein und aus.

Man konnte es sogar verstehen, daß er selbst nicht mehr nach München zurückkehrte, um sich sein Geld zu holen. Freilich hätte er Kamp bitten können, es ihm nach Hamburg zu senden. Aber vielleicht wollte er vermeiden, daß sein Entschluß vorzeitig bekannt würde. Seine Bekannten und Angehörigen sollten nichts mehr von ihm hören, bis es ihm besser ging. Deshalb schickte er einen Boten. Es war nicht gerade ein sehr vertrauenerweckender Bote, aber Werneuchen mochte Gründe haben, ihm zu trauen. Vielleicht hatte dieser Bote das Geld längst durch Postanweisung an Werneuchen gesandt, und alles war in Ordnung.

»Ist das nicht eine ganz erträgliche Lesart?«

Kamp zuckte die Achseln.

»Man kann allerdings erhebliche Gegengründe anführen«, fuhr Leuthold fort. »Auffallend ist natürlich, daß sich ein so finsterer Bursche das Geld abholen kam, mag es nun Bensch, dieses sagenhafte Untier, oder irgendein anderer Kerl sein. Im übrigen, wenn es Sie interessiert, nehme ich auch an, daß es sich hier um diesen Packer handelt. Dieses freche Hervortreten und Wiederkommen scheint nun einmal sein Stil zu sein. Auch diese Unvorsichtigkeit, mit der er sich nach allem noch am hellichten Tag in München herumtreibt, scheint zu dem eigentümlichen Habitus dieses Menschen zu gehören. Außerdem setzt sein Auftreten in der Villa draußen vor Ihnen eine gewisse Bekanntschaft mit der Örtlichkeit voraus. Ich glaube also wirklich, daß wir es hier mit diesem Bensch zu tun haben, und damit ist natürlich die Annahme, daß Herr Werneuchen nach Amerika abgedampft ist, hinfällig.

»Aber wie kommt dieser Bensch nun zu dem Brief? Die einfachste Annahme ist die, daß er den Brief dem richtigen Direktor Erkner abgenommen hat. Dann aber hätte man eigentlich schon etwas von einem solchen Überfall hören müssen. Es ist doch wohl nicht gut anzunehmen, daß er ausgerechnet gerade diesen Brief gestohlen hat, wenn er von seiner Wichtigkeit keine Ahnung hatte. Man hat also vorderhand als wahrscheinlich anzunehmen, daß Bensch, oder wie er heißt, mit jenen Leuten in Verbindung steht, die den Herrn Werneuchen nach Regensburg gelockt haben. Anders ausgedrückt, mit den Herren, die das Inserat aufgegeben haben.

»Hierfür gibt es einen Gegenbeweis. Es ist nun ein Jammer, daß Sie den Namen der Firma nicht wissen. Ja, Sie sagen mir, daß Sie nicht einmal wissen, ob es sich um eine Hamburger Firma handelt oder um eine Firma, die in Hamburg lediglich eine Vertretung hat. Immerhin scheint es möglich, daß die beiden Direktoren, deren Namen wir ja kennen, Goldschmidt und Erkner, in Hamburg wohnen. Wenn es also zwei kaufmännische Direktoren dieses Namens in Hamburg oder sonstwo gibt, die brave, unbescholtene Leute sind, so wäre unsere Hypothese damit zusammengebrochen. Aber dieser Gegenbeweis ist nicht ganz einfach zu führen, da Sie ja Namen und Sitz der Firma nicht wissen.

»Es fragt sich nun, wie wir überhaupt mit der Sache weiterkommen, und da scheint mir der Ausgangspunkt der Geschichte jenes Inserat zu sein, auf das Werneuchen sich gemeldet hatte. Wo hat dieses Inserat gestanden?«

Leider wußte Kamp auch das nicht einmal anzugeben. Werneuchen, der sonst alles oder doch das meiste und wichtigste mit ihm durchsprach, hatte ihm von seiner Meldung auf das Inserat erst etwas gesagt, als er eine Antwort erhalten hatte. Unter welcher Adresse Werneuchen dann korrespondiert hatte, wußte er ebenfalls nicht anzugeben.

»Ich hatte in der letzten Zeit gerade viel zu arbeiten, und gerade in den letzten Tagen haben Werneuchen und ich uns weniger gesprochen. Außerdem pflegte er seine Briefe immer selbst auf die Post zu tragen.«

»Wieso tat er das eigentlich?«

»Es war eine Laune von ihm, eine Art Aberglauben. Er glaubte immer alles allein tun zu müssen, was nur irgend in seiner Kraft stand. Aber man wird die Briefe der Firma ja in seinem Schreibtisch vorfinden.«

»Den Schreibtisch werde ich mir morgen ansehen kommen, aber die Briefe werden wahrscheinlich nicht darin sein. Gewöhnlich pflegt man doch solche Briefe zu der endgültigen Unterredung mitzubringen.«

Auch das konnte sein. Dann war es jedenfalls ausgeschlossen, jemals Näheres über die Firma zu erfahren.

»Da gibt es noch andere Wege«, sagte der Kommissar, gerade als Elma aus der Kartothek zurückkam. Man merkte es gleich an ihrer müden Gleichgültigkeit, daß sie Bensch unter den Bildern nicht gefunden hatte.

»Es sind viele, denen er ähnlich sieht. Aber immer fehlt etwas oder es ist etwas zuviel. Furchtbare Gesichter!« Sie schüttelte sich vor Ekel. Es hatte sie mitgenommen, zu denken, daß Ernst Alexander in die Hände solcher Menschen gefallen war.

Der Kommissar fragte sie nach der Anzeige, auf die sich Werneuchen gemeldet hatte.

Ihr Gesicht klärte sich auf. Sie hatte sie selbst abgeschrieben. Es war im Café gewesen, wo sie das Inserat, das einen guten Posten in Aussicht stellte, entdeckt hatte. Sie machte Werneuchen sofort darauf aufmerksam und schrieb es gleich für ihn ab. Sie hatte die Abschrift sogar noch im Notizbuch bei sich. Als sie es abgeschrieben hatte, erschien es ihnen besser, wenn Werneuchen sich sofort vom Café aus meldete. Er bestellte Feder und Tinte und steckte nachher den Brief in der Hauptpost ein.

»Ich hätte die Anzeige also gar nicht abzuschreiben brauchen. Hier ist sie!«

Sie zog ein kleines Buch aus der Tasche und wies die betreffende Seite vor: eine bekannte Fabrikationsfirma suchte einen seriösen Herrn von ausgezeichneter Allgemeinbildung für die Absatzpropaganda in einem auswärtigen Bezirk. Verlangt wurde eine größere Kaution, zugesichert angenehme Lebensstellung. Es folgte die Chiffre, unter der man an die Geschäftsstelle des Blattes schreiben sollte.

Der Kommissar sah nach der Uhr. »Die Büros der Zeitung sind bereits geschlossen,« sagte er, »manche Abteilungen pflegen auch nach Geschäftsschluß noch zu arbeiten. Vielleicht haben wir Glück!«

Er notierte Inhalt und Chiffre des Inserats auf einen Zettel und klingelte. Ein Beamter erschien. Es war derselbe, der Elma zur Kartothek geführt hatte. Leuthold ging mit ihm auf den Korridor, um ihm draußen Weisungen zu geben.

»So,« sagte er zurückkommend, »in einer halben Stunde werden wir, wenn wir Glück haben, wissen, wer die Anzeige aufgegeben hat und wo die Angebote hingegangen sind.«

»Kann man das herausbekommen?« fragte Kamp erstaunt

»Nicht immer! Manche Firmen holen ihre Eingänge ab, ohne ihren Namen zu nennen. Manche geben hingegen auch ihre Adresse an und lassen sich die Angebote zusenden. Da es sich hier offenbar um eine auswärtige Firma handelt ist anzunehmen, daß die Adresse bekannt ist«

Man hatte jetzt nichts weiter zu tun, als abzuwarten. Der Kommissar arbeitete weiter an irgendwelchen Akten. Von Zeit zu Zeit ging er hinaus. Die beiden saßen schweigend da. Auf einmal bedeckte Elma ihr Gesicht mit den Händen und weinte. Kamp trat zu ihr und fuhr ihr mit den Händen leise über das Haar. Es war das erstemal, daß er sie so berührte, und er wußte selbst nicht, wie er dazu kam. Aber ganz plötzlich stieg eine leise und innige Zärtlichkeit für das junge Mädchen in ihm auf. Seine Berührung schien ihr wohlzutun. Der Kommissar saß über seinen Akten und tat, als bemerkte er nichts. Elma schluchzte in einem fort. Ihr Körper wurde förmlich geschüttelt. Endlich stieß sie einige Worte hervor.

»So glücklich waren wir damals, als wir die Briefe schrieben und immer noch hofften. Jetzt ist alles zu Ende – alles zu Ende!«

Der Student verstand sie so gut. Die ganze Zeit hatte er auf einen solchen Ausbruch gewartet. Ihr Notizbuch mit der abgeschriebenen Anzeige rief ihr jene Zeit des Glücks mit Ernst Alexander zurück. Wahrscheinlich war es für die beiden ein großer Augenblick gewesen, als sie den Brief mit der Bewerbung in den Kasten warfen. Alles konnte sich zum besten wenden, wenn er die Stellung erhielt. Wie gespannt mochten sie über die Aussichten gesprochen haben. Ach, es war auch damals für sie natürlich eine furchtbare Zeit gewesen, voller Suchen und Ringen und Angst. Und doch, wie wundervoll mußte selbst diese Zeit der gemeinsamen Hoffnung noch erscheinen gegen die Stunden des Wartens in dem nüchternen Polizeizimmer, da man nicht nach dem Lebenden, sondern nur noch nach dem Mörder suchte. Auch wenn das Furchtbare vor Elma noch mit keinem Wort ausgesprochen war.

Der Kommissar blickte auf. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Sie sprachen eben von Briefen. Nicht von einem Brief, sondern von Briefen, die Sie damals im Café schrieben. Haben Sie damals mehrere Briefe geschrieben?«

Elma starrte ihn fassungslos an. »Mehrere Briefe?« fragte sie in Gedanken zurück. »Mehrere Briefe?« In diesem Augenblick ging das Telephon. Leuthold schien eine wichtige Meldung zu erhalten. Kamp kannte ihn nun schon. Wenn er sich aufregte, bekam sein Gesicht etwas Zugeknöpftes, Eisiges. Wie genau würden sie diesen Menschen noch kennenlernen! dachte er. Und wie viele Menschen würden sie noch kennenlernen bei dieser ganzen Geschichte! Menschen, von denen sie heute noch nichts ahnten.

Leuthold machte sich während des Ferngesprächs einige Notizen. »Danke!« sagte er schließlich und wandte sich den beiden zu.

»Diese Nachricht dürfte von Wichtigkeit sein!« Er zögerte ein wenig. »Leider scheint sie nichts Gutes zu sagen. Herr Werneuchen ist also am Donnerstag voriger Woche im Parkhotel in Regensburg abgestiegen. Gepäck hatte er nicht bei sich, außer einer Handtasche, die er selber trug und bei sich behielt. Er fragte den Portier nach einem Herrn, dessen Namen der Mann vergessen hat« – »Direktor Goldschmidt wahrscheinlich«, schob Leuthold ein. – »Aber es war ein Brief für Herrn Werneuchen abgegeben worden, den derselbe sofort las. Er bestellte dann kurz ein Zimmer, merkte sich die Nummer und ging fort. Seitdem ist er nicht wieder in das Hotel zurückgekehrt. Der Portier nahm an, daß er vielleicht noch abends, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, weitergereist ist und deshalb das Zimmer nicht benutzt hat. Es fiel ihm nicht weiter auf, da es öfters vorkommt, daß ein Reisender seine Pläne ändert

»Ferner, eine Fahrkarte nach Hamburg ist weder an jenem Donnerstag, noch in den beiden nächsten Tagen in Regensburg ausgegeben worden. Immerhin besteht die Möglichkeit, daß sämtliche Herren über Berlin gefahren sind. Das ist alles, was in der Eile aus Regensburg ermittelt werden konnte. Zu erkunden bleibt nun natürlich noch, ob die beiden Direktoren in einem Hotel angemeldet waren. Was sagen Sie dazu?«

»Er ist also in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag verschwunden«, sagte Kamp und schauderte bei dem Gedanken, daß ihm im Augenblick von Werneuchens Abreise die Ahnung eines bevorstehenden Unglücks gekommen war, das so kurze Zeit darauf schon eintrat. Ihm schwebte das Bild vor Augen, wie er draußen am Zug noch eine Strecke nebenherlief, ohne den Freund noch einmal zu sehen.

Elma starrte vor sich hin. Sie schien von dem ganzen Gespräch keine Notiz genommen zu haben. Die beiden Männer sahen sie fragend an.

»Was ist?« fuhr sie auf. »Ich habe im Augenblick nicht zugehört.«

Der Kommissar wiederholte kurz, was er aus Regensburg gehört hatte.

»Ja«, sagte sie einfach. »Er ist ermordet worden. Er und ich, wir wußten es immer, daß er ermordet werden wird. Ich gehe jetzt.«

Sie stand wirklich auf und machte Anstalten, hinauszugehen. Aber sie mußte sich an der Stuhllehne festhalten, so schwach war sie.

»Bitte, bleiben Sie noch einen Augenblick«, sagte Leuthold und drückte sie auf ihren Stuhl zurück. Sie saß wie leblos da.

»Ja, weshalb? Er ist ermordet. Jetzt ist kein Zweifel mehr, daß er ermordet ist. Nun ist alles aus. Laßt mich doch allein!«

Auf einmal schrie sie gellend los: »Und ich habe noch mit dem Mörder gesprochen! Ich habe ihm noch die Hand gegeben! Ich habe ihn gesehen und fühlte es nicht! Ich habe immer gewartet, daß ich ihn wiedertreffe! Und ihr habt ihn laufen lassen!«

Endlich sank sie wieder in sich zusammen und saß mit gesenktem Kopf da. Die Männer sahen sich an. Hier war ein Mensch mit seiner Kraft zu Ende.

»Sie müssen mir noch etwas sagen«, begann der Kommissar wieder nach einer Weile mit leiser Stimme. »Wie war das mit den Briefen, die Herr Werneuchen in dem Café schrieb? Waren es vielleicht mehrere Briefe? Bewarb er sich um verschiedene Stellen?«

Elma schien krampfhaft nachzudenken. Offenbar besann sie sich im Augenblick nicht einmal darauf, wo sie war.

Kamp stand hinter ihr und streichelte immer wieder ihr Haar. »Elma!« sagte er manchmal leise. Es schien sie zu beruhigen. Noch nie hatte der junge Student einen Menschen in solchem Jammer gesehen. Das Merkwürdige aber war, daß sich in ihm auf einmal ein leiser Haß gegen Werneuchen zu regen begann. Er suchte dieses Gefühl, das so unerwartet in ihm aufstieg, niederzukämpfen, aber es blieb doch da. Ja, es schien ihm, als wenn es schon aufgetaucht wäre, als er Gerda wiedersah. Weshalb quälte Werneuchen alle Menschen? mußte er denken. Wenn er schon ermordet werden sollte, war das schließlich seine Sache, aber weshalb spielte er immer und ewig mit seiner Angst? Dadurch ist ja erst alles so gekommen!

Natürlich wußte Kamp, daß solche Gedanken sinnlos waren. Aber er konnte sich dieser sonderbaren Logik nicht entziehen, während er hinter Elma stand und ihre Haare streichelte.

Leuthold fragte mit leiser Stimme noch einmal nach den Briefen.

»Briefe?« wiederholte Elma. »Mehrere Briefe?« Auf einmal wurde sie lebhaft »Natürlich!« rief sie. »Er schrieb zwei Briefe! Ich hatte es ganz vergessen. In demselben Blatt stand ja noch eine ganz ähnliche Anzeige. Ich wies ihn noch selbst darauf hin. Er schrieb auch an diese Adresse. Jetzt besinne ich mich. Er warf zwei Briefe in den Kasten, und als nachher eine Antwort eintraf, wußte er nicht, auf welchen Brief sie sich bezog.«

»Haben Sie diese zweite Anzeige auch abgeschrieben?«

»Nein! Da wußten wir ja schon, daß er gleich im Café schreiben würde. Sie stand aber in derselben Nummer. Ich würde sie gleich wiederfinden. Es war am letzten Donnerstag im März!«

Leuthold ging hinaus und kam mit einigen Zeitungen zurück.

Der Student hatte den Augenblick benutzt, um seine Lippen auf Elmas Scheitel zu drücken. Die Frage, ob sie es bemerkte und duldete oder ob sie es gar nicht beachtete, schien ihm in diesem Augenblick wichtiger als alles andere. Ihm war ganz heilig zumute, als er seine Lippen von ihren Haaren nahm. »Ich liebe sie!« dachte er in seligem Erschrecken. »Ja, ich liebe sie und habe sie immer geliebt. Ich wagte es nur nicht.«

Elma schlug die Zeitungen auf und fuhr mit dem Finger die Reihen entlang. Es erinnerte Kamp daran, wie Herr Berdelow in seinen Listen gesucht hatte.

»Hier diese!« rief sie. Es klang wie erfreut. »Die habe ich abgeschrieben. Und gleich darunter steht die andere. Um diese Stelle hat Ernst Alexander sich auch beworben.«

Der Wortlaut der zweiten Anzeige stimmte mit dem anderen fast überein. Es war ebenfalls von einer größeren Kaution die Rede. Nur fehlte der Hinweis, daß es sich um einen auswärtigen Bezirk handelte.

»Nun, der Beamte muß dann eben nochmals hinübergehen. Er wird übrigens gleich zurück sein«, sagte der Kommissar.

Während sie noch mit der Zeitung beschäftigt waren, tat sich die Tür auf, und der Beamte kam von der Geschäftsstelle der Zeitung zurück. Trotz der späten Stunde war es ihm gelungen, den Anzeigenchef zu treffen und Auskunft von ihm zu erlangen.

»Die Bewerbungen sind an die Schuh- und Lederwarenfabrik Berdelow & Hahn gesandt worden!«

Kamp bebte zurück. »Berdelow!« rief er entsetzt. »Berdelow – die Vorladung – der Termin – Steuerhinterziehung!«

Auf Elma schien die Nachricht keinen Eindruck zu machen. Ging ihr Verdacht in anderer Richtung, oder überwog der Verlust des Geliebten bei ihr alles andere? Sie war schon wieder in ihren Schmerz versunken.

Das Gesicht des Kommissars war eisern. Er verriet mit keiner Miene, was er dachte. Vielleicht hatte er in diesem Augenblick einen Entschluß gefaßt, vielleicht drängte er ihn krampfhaft zurück, bis er Auskunft über die zweite Anzeige haben würde.

»Genug für heute!« sagte er nach einer Weile des Schweigens. Er fürchtete wohl bei der allgemeinen Ermüdung zu voreiligen Schlüssen zu greifen, und hielt den Augenblick für geeignet, die Sitzung abzubrechen.

»Die Protokolle über Ihre Aussagen werde ich fertigstellen lassen. Sie unterschreiben sie dann vielleicht morgen. Morgen um zwölf Uhr mittags komme ich in die Villa hinaus. Es wäre mir lieb, wenn das gnädige Fräulein sich ebenfalls dort einfinden würde. Lassen Sie bitte alle Sachen bis dahin unberührt.«

Kamp versprach es.

Beim Verlassen des Zimmers wies der Kommissar hinter Elmas Rücken auf sie, um dem Studenten anzudeuten, daß er auf sie achten möge. Es wäre freilich nicht nötig gewesen, denn Kamp war in einer Stimmung, daß er für dies unglückliche Geschöpf sein Leben hingegeben hätte.


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