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Herr Berdelow hatte das Fräulein Hubermeier nicht geheiratet und seither überhaupt kein ganz reines Gewissen mehr. Seit fünf Jahren hatte er Fräulein Hubermeier, Therese, nicht geheiratet, obwohl sie ihn des öfteren daran erinnerte. Schließlich war es ihr zu bunt geworden, und sie hatte gekündigt. Fräulein Hubermeier, Therese, war Herrn Berdelows rechte Hand. Die Berufung des Herrn Werneuchen war nur einer der vielen fruchtlosen Versuche gewesen, sich eine andere rechte Hand anzuschaffen. Damals war man reumütig zu Fräulein Hubermeier zurückgekehrt. Als aber Fräulein Hubermeier nun endlich kündigte, hatte man sie dummerweise gehen lassen und durch Fräulein Margot Liedtke ersetzt. Seitdem hatte man keine ruhige Stunde mehr.
Fräulein Margot Liedtke war nach dem Prinzip ihrer Verschiedenheit von Fräulein Hubermeier, Therese, ausgesucht worden. Man wollte einmal etwas ganz anderes haben, und sie war ganz anders. Fräulein Hubermeier war schwerfällig, pfiffig, treu und arbeitsam gewesen. Fräulein Liedtke hingegen war ungemein fix. Kaum sprach man ein Wort, hatte sie es schon in ihrer Schreibmaschine drin. Es war eine Qual, ihr Briefe zu diktieren, so schnell schrieb sie. Mit Fräulein Hubermeier hatte man alles durchsprechen können, aber Fräulein Liedtke mußte man alles erzählen, und eigentlich hatte sie es schon gewußt und wußte schon Rat und hatte bereits Anordnungen gegeben. Es war kein ordentliches Durchsprechen einer Angelegenheit mit ihr möglich, sie hatte einfach alle Zügel in Händen, und das Kutschieren machte ihr Spaß. Die ganze Fabrik einschließlich des Herrn Berdelow machte ihr Spaß. Sie war dem Fabrikanten unheimlich, und das einzige, was ihn mit ihrem ständigen Umgang versöhnte, war der Umstand, daß sie nicht geheiratet werden wollte. Ja, sie hätte Herrn Berdelow nicht einmal genommen. Sie gehörte einer anderen Welt an.
Am Sonntagnachmittag traf man sie in der Odeonbar und am Abend im Tabarin, wo sie Blues und Charleston tanzte. Oder sie saß mit jungen Künstlern in der »Diana«. Als der Juniorchef eines großen Nürnberger Schuhhauses in dem Privatkontor des Herrn Berdelow eine Bestellung aufgab, forderte er sie auf, den Abend mit ihm zu verbringen. Und sie tat es ohne weiteres. Am nächsten Tag wurde die Bestellung vergrößert. Herr Berdelow mußte einsehen, welchen Nutzen ihm Fräulein Liedtke brachte, und er sah es ein. Fräulein Liedtke gefiel ihm gar nicht, aber er wäre dumm gewesen, sie laufen zu lassen. Eine tüchtigere Person bekam er für das Geld nicht.
Dennoch war ihm in ihrer Nähe nicht ganz wohl. Sie war ihm unheimlich, weil er sie und ihre Welt nicht überschauen konnte. Oft saß sie abends spät noch in ihrem Büro und arbeitete. Er hatte das Gefühl, daß sie dann andere Dinge tat, als in ihrem eigentlichen Pflichtenkreise lagen. Wenn er durch die Treppentür, die von seiner Villa in das Fabrikgebäude führte, hinaufschlich, um sie zu überraschen, saß sie freilich bei der Abschrift von Briefen oder über kaufmännischen Büchern, gegen die er nichts einwenden konnte. Aber er traute ihr dennoch nicht. Sie nahm alles zu leicht. Wenn sie, ganz offensichtlich sie, der Fabrik einen Auftrag besorgt hatte, redete sie nicht davon. Wenn die Schwierigkeit der Konjunktur die Existenz der Fabrik fast in Frage stellte, ging sie ebenso mit einem leichten Wort darüber hinweg. Kurzum, sie hatte kein Herz. Herr Berdelow malte sich einmal aus, was sie tun würde, wenn er eines Tages in seinem Schreibtischstuhl tot zusammenbrach. Solche Phantasien lagen ihm sonst eigentlich nicht, aber um über Fräulein Margot Liedtke nachzudenken, mußte man schon zu den ausgefallensten Situationen greifen. Was würde sie also tun, wenn er eines Tages tot aufgefunden wurde? Er sah es genau vor sich: sie würde seinen Puls anfassen, ausrufen: »Na, wer ist denn nun eigentlich hier der Chef?« und an ihre Arbeit gehen. So war sie!
Vor einigen Tagen hatte sie Herrn Berdelow die Mitteilung des Finanzamts überbracht, daß gegen ihn ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung schwebe. Auch dabei war sie ganz sachlich geblieben. Herr Berdelow hatte hin und her geraten, auf wessen Veranlassung das Verfahren eingeleitet sein konnte.
»Da fragen Sie noch?« hatte Fräulein Liedtke ausgerufen. »Das ist doch ganz klar: Fräulein Hubermeier! Und wahrscheinlich wird sie auch schon für das nötige Material gesorgt haben.«
»Material!« sagte Herr Berdelow erregt. »Was Material! Es gibt kein Material!«
»Ach Gott, Herr Berdelow! Um Material braucht man da wirklich nicht verlegen zu sein, wenn man Sie hereinlegen will.« Und sie hatte ihm gleich aus dem Kopf einige Fälle aufgezählt: »Wie haben Sie denn die Holzleisten für die Lackschuhe verbucht? Was für Spesen haben Sie denn zu dem letzten Auftrag aus Offenburg angegeben, der Ihnen ganz spesenfrei ins Haus flog? Und wie haben Sie den Preis für das Kalbleder angesetzt? Und das Sohlenleder, das Sie aus Brasilien bezogen haben und das nun mit Inlandpreisen zu Buch steht? Material, Herr Berdelow, ist schon da, wenn man ein bißchen herumsucht.«
»Das machen alle so!« hatte Herr Berdelow bekümmert gesagt. Vor dieser Person wurde sogar er ganz kleinlaut
»Ja, aber einer fliegt mal hinein!« sagte sie achselzuckend. »Und aus der Zeit von Fräulein Hubermeier liegen doch noch ganz andere Dinge vor. Ich habe doch mit Fräulein Hubermeier gesprochen und dann in den Büchern nachgesehen. Es stimmte!«
»Was?« schrie Herr Berdelow. »Sie haben sich mit dieser Person eingelassen? Das verbitte ich mir! Dieser Schandperson, die mich ins Gefängnis bringen will?«
»Gott, Herr Berdelow, wenn sie mich auf der Straße anspricht! Glauben Sie, es macht mir Spaß, mich mit so einer zusammen sehen zu lassen? Nun wissen wir doch wenigstens, woher es kommt.«
Aber Herr Berdelow wußte nichts. Er traute Fräulein Liedtke seit diesem Gespräch noch weniger. Vielleicht steckte sie mit der Hubermeier unter einer Decke. Vielleicht war das ganze Fräulein Liedtke ein Racheakt der Hubermeier, Therese. Er konnte sich ordentlich vorstellen, wie die beiden zusammenstanden und die Liedtke sagte: »Was? Den Berdelow? Den mache ich Ihnen in zwei Monaten so kirre, daß er sich die Finger danach leckt, Sie zurückzurufen und zu heiraten!« Das hätte er der Person glatt zugetraut Und noch viel Schlimmeres!
Als es mit den Bestellungen gar nicht mehr vorwärtsging, hatte sie ihn auf den Gedanken gebracht, irgend jemanden zu engagieren und eine größere Kaution zu verlangen. Mit drei- oder fünftausend Mark konnte man allerhand beginnen. Man müsse einmal die Propaganda ordentlich auf den Schwung bringen. Der alte Reisende, Herr Schürrmann, tauge absolut nichts. Man mußte einmal Dampf hinter ihm machen, damit er sich rührte. Es wurde ein Inserat aufgesetzt Und wer meldete sich? Herr Werneuchen!
Herr Berdelow erzählte, was er mit Herrn Werneuchen erlebt hatte. Aber Fräulein Liedtke wußte es schon, und sie war dafür, Herrn Werneuchen einzustellen. Fünftausend Mark hätte er, und die wären nicht zu verachten. Und von allen Bewerbern schiene er ihr der beste und tüchtigste, auch wenn er nichts von Buchführung verstand. Natürlich war das alles nur Opposition, um ihn zu ärgern, empfand Herr Berdelow sehr genau. Er aber hatte Werneuchens Brief genommen und auf den Boden gewettert.
»Verdammt noch mal, wenn ich den ekelhaften Schwätzer noch einmal einstellen sollte!« Werneuchen war ihm von seinem letzten verunglückten Besuch her in allerschlechtester Erinnerung. Fräulein Liedtke zuckte nur mit den Achseln, hob den zusammengeknitterten Brief auf und faltete ihn glatt.
»Dann nicht!« sagte sie. »Sie sind ja der Chef und haben zu befehlen!«
Man engagierte Herrn Bötticher, der in vierzehn Tagen eintreten sollte. Dabei stellte es sich heraus, daß Fräulein Liedtke Herrn Bötticher kannte und protegierte. So machte sie es nun einmal. Man kam ihr nicht hinter die Schliche. Bei alledem fühlte sich Herr Berdelow sehr ungemütlich.
»Was mache ich nun bloß mit dem Finanzamt?« schrie er Fräulein Liedtke an.
Sie war dafür, erst einmal abzuwarten, was man denn überhaupt von ihm wollte. Die Bücher wären doch soweit in Ordnung. Na also! Und Fräulein Hubermeier würde mit sich reden lassen.
Herr Berdelow aber nahm die ganze Geschichte als schlechtes Omen. Das Geschäft ging zu schlecht. Nirgends war Kapital. Die Arbeiter waren auf halbe Schicht gestellt. Wenn es so weiterging, konnte man die Bude in einigen Wochen zumachen. Und nun kam noch dieser Ärger mit dem Finanzamt hinzu. Wenn er das Geringste an Steuern nachzahlen mußte, konnte ihm das den Hals brechen. In diese Situation platzte Otmar Kamp mit seiner Nachricht hinein, daß Herr Werneuchen plötzlich verschwunden war.
Herr Berdelow ging durch die Treppentür in das Privatkontor hinüber, wo Fräulein Liedtke an ihrer Schreibmaschine saß.
»Was mache ich nun?«
Er dachte natürlich, daß sie mit einem leichten Wort darüber hinweggehen würde. Aber sie wurde rot und aufgeregt. Herr Berdelow hatte sie noch nie so gesehen.
»Das ist ja eine hübsche Geschichte!« rief sie aus. »Nun steckt Fräulein Hubermeier mit Herrn Werneuchen zusammen! Und vielleicht ist Fräulein Hubermeier nicht einmal das Karnickel! Wer weiß, was da noch alles herauskommt! Wissen Sie, Herr Berdelow, das mit dem Finanzamt mag ja noch hingehen. So etwas kommt vor. Aber wenn die Kriminalpolizei kommt, hört die Gemütlichkeit auf. Gottseidank, daß ich bereits eine andere Stelle in Aussicht habe!«
»Was? Sie wollen mir kündigen?« rief Herr Berdelow erschrocken.
»Sie merken auch nichts!« sagte sie. »Seit acht Tagen schreibe ich vor Ihren Augen Bewerbungen um eine andere Stellung. Ich lege die Briefe Ihnen schon so vor die Nase, daß Sie darüber stolpern müssen, und Sie sehen es nicht. Ich dachte, Sie hätten es längst bemerkt. Na denn, damit Sie es wissen: ich kündige Ihnen zum nächsten Ersten!«
Er hatte die Empfindung, daß die Ratten das sinkende Schiff verließen.
»Meinetwegen können Sie gleich gehen«, sagte er und wollte hinausgehen. Ihre Kündigung hatte ihm einen Stich ins Herz gegeben. Auf einmal wußte er, daß ihn ihre Seidenstrümpfe und die kniefreien Röcke nicht unbeeindruckt gelassen hatten. Auch hatte sie schlanke weiße Hände und trug einen grünen seltsamen Stein am Ringfinger.
Sie rief ihn zurück. »Herr Berdelow!«
Er kam gehorsam wieder herein. Vielleicht war es das beste, es ihr gleich zu sagen.
»Wollen Sie mich heiraten?« fragte er barsch.
Sie lachte, sie bog sich vor Lachen. »Sie heiraten, Herr Berdelow!«
Sie wollte nur über die Werneuchen-Affäre mit ihm sprechen. »Wenn diesem Herrn etwas zugestoßen ist, steht es schlimm um Sie.« Er hätte ein nachweisbares Interesse an Werneuchens Verschwinden. Der letzte Besuch Werneuchens käme hinzu. Niemand wüßte, was sie da miteinander besprochen hätten. Sie wären jedenfalls in Unfrieden geschieden. Nun wäre Werneuchen noch Zeuge in dem Strafverfahren, und wer weiß, was noch alles hinzukäme an Indizien, die man jetzt noch gar nicht überschauen könnte. Kurzum, es würde Unannehmlichkeiten geben.
Gegen Abend war Herr Berdelow zu seiner alten Mutter in die Stadt gefahren. Er fuhr immer dorthin, wenn ihn etwas bedrückte. Dort konnte er sein Herz ausschütten und hatte die Annehmlichkeit, alles ohne Gefahr der Entlarvung so darstellen zu dürfen, wie es ihm paßte. Denn seine Mutter kam nie aus dem Hause und bezog ihre Kenntnisse von Welt und Menschen lediglich von ihrem Sohn und einer schwerhörigen Köchin.
Herr Berdelow erzählte der alten Dame von den Verwicklungen, in die er geraten war. Natürlich unter Umgehung des Korbes, den ihm Fräulein Liedtke erteilt hatte. Frau Berdelow konnte die Liedtke nicht leiden. Sie hatte sie im Verdacht, an der ganzen Geschichte schuld zu sein. Natürlich hätte sie selbst die Anzeige bei dem Finanzamt erstattet und wäre vielleicht sogar an dem Verschwinden dieses Herrn Werneuchen beteiligt.
»Und weißt du, wozu das alles? Sie will dich zwingen, sie zu heiraten!«
Herr Berdelow wollte nicht gestehen, daß dieser Verdacht sich als gegenstandslos bereits entpuppt hatte. Er wiegte nur bedenklich den Kopf hin und her und sagte nichts.
Inzwischen saß Fräulein Liedtke in ihrem Büro und arbeitete. Sie schrieb heute eine Doktorarbeit ab. Im Nebenberuf verdiente sie mit Abschreiben noch etwas Geld für Strümpfe und Zigaretten.
Gegen neun Uhr rief die Kriminalpolizei an und erkundigte sich nach Herrn Berdelow.
Nein, Herr Berdelow wäre nicht hier. Er wäre zu seiner Mutter in die Stadt gefahren. Worum es sich handelte?
Wann Herr Berdelow zurückkäme?
Gegen elf Uhr pflegte er zu Hause zu sein, falls er nicht noch länger ausbliebe. Wenn er Aufregungen habe, bliebe er gewöhnlich länger aus.
Eine Viertelstunde später empfing Fräulein Liedtke Herrn Kommissar Leuthold, mit dem sie sich bestens unterhielt, während sie dem begleitenden Wachtmeister Neumann die Bücher aus dem Schreibtisch und von den Regalen zureichte.
Fräulein Liedtke wollte von einer Verfehlung Herrn Berdelows nichts wissen. Sie kenne alle Vorgänge im Geschäft ganz genau, und niemals gäbe es die geringste Unregelmäßigkeit. Von wem die Anzeige bei dem Finanzamt eingelaufen wäre, könnte man sich hier lebhaft vorstellen. Aber sie sagte nicht, von wem. Jeder Esel hätte Herrn Werneuchen als Zeugen benennen können. Das besagte noch gar nichts. Im Gegenteil, daß man gerade Herrn Werneuchen als Zeugen angegeben habe, beweise die Haltlosigkeit der Beschuldigung. Denn die Eingeweihten wüßten ganz genau, daß Herr Werneuchen in die Bücher fast keinen Einblick gehabt hätte. Der Angeber könne keine Ahnung von den Verhältnissen hier haben, denn sonst hätte er Herrn Werneuchen gewiß nicht als Zeugen angeführt. Allerdings scheine dieses Papier hier gegen Herrn Berdelow zu zeugen.
Sie entnahm dem Schreibtisch Werneuchens zusammengeknüllten und wieder geglätteten Brief und reichte ihn Herrn Leuthold hin.
Der Kommissar sah das Schreiben aufmerksam durch. Das war also einer der beiden Briefe, die Werneuchen am letzten Donnerstag des März in dem Café geschrieben und nachher in der Hauptpost eingesteckt hatte. Das Datum stimmte genau.
Wachtmeister Neumann bat den Kommissar für einen Augenblick heraus.
Draußen fragte er ihn, ob es ihm nicht auffiele, daß die Sekretärin Herrn Berdelow hineinzureiten versuche.
Aber Herr Leuthold wollte davon nichts wissen. Er hatte den gegenteiligen Eindruck. Und wie sollte sie auch dazu kommen?
Es wären zwei Möglichkeiten, meinte Neumann. Entweder hielte sie Herrn Berdelow für schuldig und wolle ihn ein wenig schikanieren. Oder sie selbst wäre, ohne Herrn Berdelows Mitwissen, in die Sache verwickelt. Der Kommissar möge bedenken, daß die Dame genau wußte, was los war. Sie konnte die Korrespondenz mit Briefbogen der Firma und gefälschter Unterschrift von sich aus weiterführen und Herrn Werneuchen in eine Falle locken. Fünftausend Mark wären für eine solche Dame eine ganz andere Sache als für Herrn Berdelow, und sie mache ihm keinen guten Eindruck. Er wolle noch nichts Bestimmtes sagen, aber nach seiner Ansicht müsse man diese Spur verfolgen.
Der Kommissar war einigermaßen betroffen. An eine solche Möglichkeit hatte er noch gar nicht gedacht.
»Aber würde sie uns in diesem Falle Werneuchens Brief vorgezeigt haben?« fragte er.
Neumann zuckte die Achseln. »Manche machen es mit anscheinender Sorglosigkeit.«
Sie beschlossen, sich vorderhand nichts merken zu lassen, aber morgen sofort dem Vorleben von Fräulein Liedtke nachzuspüren, und gingen wieder hinein. Margot Liedtke warf ihnen einen fragenden Blick zu. Ihre Nasenflügel bebten leise, aber sie reichte weiter, als wenn nichts geschehen wäre, dem Beamten die Bücher aus dem Regal zu.
In dem Augenblick ging das Telephon. Alle horchten auf. Die Sekretärin nahm den Hörer ab.
»Hier Berdelow & Hahn! – Ja! – Nein, ich kann noch nicht! – Heute überhaupt nicht? Ich hoffe doch! – Wann du wieder anrufen kannst? Einen Augenblick!«
Sie wandte sich dem Kommissar zu. »Eine Verabredung mit einem Freunde. Wann meinen Sie, Herr Kommissar, werde ich hier fortgehen können? Eigentlich ist ja keine Bürozeit mehr.«
»Wollen Sie noch tanzen gehen?«
»Ja, ich habe mich ins »Grüne Schiff« verabredet, und jetzt sitzt der Unglücksmensch da und wartet.«
»Ich glaube, wir brauchen Sie nicht länger aufzuhalten, Fräulein, denn zu dem eigentlichen Zweck unseres Besuchs werden Sie uns doch wohl nicht behilflich sein.«
»Sie wollen Herrn Berdelow verhaften?« fragte sie. Der Kommissar nickte.
»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück!« lachte sie. »Sie werden ihn bald wieder freilassen. Aber einen kleinen Schrecken gönne ich ihm schon. Sind wir fertig? – Freddi!« rief sie in den Apparat »Ich komme sofort!«
Sie verließen zu dritt die Fabrik. Draußen stand das Polizeiauto. Margot Liedtke bat, sie ein Stück mitzunehmen. Herr Leuthold tat ihr gern den Gefallen. Am Maxmonument wollte er sie entlassen.
»Bitte«, mischte sich Herr Neumann schüchtern ein. »Können wir die Dame nicht bis zum Nationaltheater fahren? Sie hat es dann näher.«
So fuhr man sie bis zum Nationaltheater und ließ sie auf dem Platz aussteigen.
»Jetzt können Sie in einer Viertelstunde im ›Grünen Schiff‹ sein«, sagte der Kommissar.
Fräulein Liedtke bedankte sich und entschwand. Sie fuhren weiter.
Hinter der nächsten Ecke ließ Neumann plötzlich halten.
»Nanu?« sagte Herr Leuthold.
»Es ist doch selbstverständlich, daß ich die Dame beobachte«, gab Neumann wie erstaunt zurück. »Die geht doch nicht tanzen!«
Damit tauchte er ins Dunkel und rannte bis zur Ecke zurück, während Leuthold erstaunt allein weiterfuhr.
Der Wachtmeister hatte es sich überlegt, daß Fräulein Liedtke auf dem Platz immerhin einige Zeit brauchen würde, ehe sie in einer Straße verschwinden konnte. Er sah sie gerade noch um eine Ecke biegen. Aber sie ging nicht in der Richtung auf die Ludwigstraße, sondern entgegengesetzt. Er rannte ihr nach, aber sie war nicht mehr zu sehen.
»Welche Dummheit von dem Kommissar,« dachte er, »etwas von der bevorstehenden Verhaftung zu sagen! Jetzt läuft sie natürlich, Herrn Berdelow zu warnen!«
Er rannte um die nächste Ecke, bog nach links, rannte wieder zurück und bog nach rechts ein. Wenn sie nicht gerade lief, mußte er sie noch sehen. Aber Fräulein Liedtke war verschwunden.
»Ob ich noch ins ›Grüne Schiff‹ gehe?« fragte er sich. Oder sollte er lieber ein Auto nehmen und dem Kommissar nachfahren? Nach einiger Überlegung schlug er die Richtung zu dem Tanzlokal ein. Vielleicht konnte er dort wenigstens den Freund des Fräuleins kennenlernen.
Er blieb über eine Stunde im »Grünen Schiff« zwischen tanzenden und trinkenden Gruppen. Er unterhielt sich mit einem Dutzend unbekannter Personen, ohne auf eine Spur von Margot Liedtke zu stoßen. Er stand draußen noch eine ganze Weile vor dem Lokal, um es zu beobachten. Er ging dann in die »Diana« weiter, um sie vielleicht dort ausfindig zu machen. Aber er konnte keine Spur von ihr entdecken.
Als er spät ins Polizeipräsidium zurückkehrte, war Herr Berdelow ohne Schwierigkeiten verhaftet worden. Sie hatte ihren Chef also nicht gewarnt, sondern es vorgezogen, auf eigene Faust zu verschwinden. In ihr Zimmer in einer kleinen Straße des Ostens war sie ebensowenig in der Nacht zurückgekehrt. Das stellte man am nächsten Morgen in aller Frühe fest.