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Achtzehntes Kapitel

»Sie hat ihn nicht ermordet!«

Das war das erste, was Elma bei Kamps Eintritt sagte.

Es war ein ganz gemütliches Zimmer, das Gerda bewohnte, wenn auch mit dem gewöhnlichen Pensionskitsch ausgestattet. Es gab ein Sofa und sogar einen Schreibtisch darin, und wenn nicht das Bett und der Waschtisch gestört hätten, hätte man sich ganz behaglich darin fühlen können. Kamp erschien es jetzt selbstverständlich, daß Gerda gerade hier wohnte. Natürlich war ihr das Pensionat von Reuschhagen empfohlen worden, und sie stieg wohl immer hier ab, seit sie von Berlin zu den Gerichtsterminen herüberkam.

»Sie hat ihn nicht ermordet!« sagte Elma. Sie lag halb ausgestreckt auf dem Sofa und war mit einer Decke zugedeckt

»Wie kamen Sie auf diese wahnsinnige Idee?« fragte Gerda.

Kamp sah sie erstaunt an.

»Es gibt einige Umstände –« sagte er.

»Sie wußte überhaupt nichts von allem. Ich habe es ihr erst sagen müssen«, unterbrach Elma ihn.

Der Student war einigermaßen betroffen. Er hatte sich sein Wiedersehen mit Elma anders vorgestellt Noch gestern war er ihre einzige Stütze gewesen. Sie hatte sich an ihn geklammert Auf einmal war sie ihm entschwunden. Er merkte, daß Gerda ihn ausgeschaltet hatte. Er war ein gleichgültiger junger Mann geworden.

»Was sagen Sie zu dem allen, gnädige Frau?« fragte er.

Gerda zuckte die Achseln. »Wenn Sie irgendwelche Verzweiflungsausbrüche von mir erwarten, sind Sie zu spät gekommen, Herr Kamp.«

»Ich bewundere Ihre Ruhe, gnädige Frau!«

»Ach, was haben wir in der letzten Stunde durchgemacht Otmar«, warf Elma dazwischen. »Das haben Sie freilich nicht gesehen.«

Kamp mußte an Werneuchens Worte über Gerda denken: »Sie wird ihre Rolle als Witwe herrlich spielen!«

»Daß sowohl Elma wie ich der Ansicht waren, daß Sie an Herrn Werneuchens Verschwinden immerhin nicht ganz unbeteiligt sind, hatte einige Gründe, gnädige Frau«, sagte er eisig.

»Aber so schweigen Sie doch!« rief Elma von ihrem Sofa. »Ich habe ihr doch schon alles erklärt«

»Vielleicht wußten Sie selbst noch nicht alles, Elma!« sagte er und beobachtete Gerda scharf.

Sie wurde unter seinem Blick rot und im Augenblick erkannte er, daß sie Elma ihre Regensburger Verabredung mit Ernst Alexander verschwiegen hatte. Sollte er sprechen? Aber wie konnte er es vor Elma? Sollte er ihr sagen: Werneuchen hat sich hinter Ihrem Rücken mit seiner Frau verabredet und ist nach Regensburg gefahren, um sie zu treffen, und nicht nur, um über seine Stellung zu verhandeln? Und war er selbst nicht derjenige, der diese Schriftstücke vor dem Zugriff der Polizei bewahrt hatte, um Gerda zu retten? Wollte er sie denn überhaupt noch retten? Er wußte nicht mehr ganz, was er wollte. Vielleicht hatte er es sich in seiner jugendlichen Einbildungskraft und – er gestand es sich selbst ein – Eitelkeit etwa so vorgestellt, daß Gerda vor Angst verzweifelt sein würde, und dann würde er kommen und sie trösten und als Helfer auftreten. »Haben Sie keine Furcht, gnädige Frau! Ich habe Ihre letzten Briefe bei mir verwahrt und werde sie nie einem Menschen zeigen!« Und er würde dann groß dastehen, als Helfer und Retter, aber auch als der Überlegene, auf den alles ankam. Vor Gerda würde er so dastehen und – vor Elma! So hatte er es sich ungefähr gedacht, und nun ging er als ein recht unscheinbarer junger Schlacks in dem Zimmer hin und her und wußte nicht recht, was er mit seinen langen ungeschickten Gliedmaßen anfangen sollte. Er spielte, gewiß auch in den Augen Elmas, gar keine besondere Rolle mehr, seit Gerda so rein gar nichts mit Werneuchens Verschwinden zu tun hatte und vollkommen schuldlos war.

Gewiß, er wollte ihr helfen! Natürlich wollte er ihr helfen! Aber vorher wollte er sie gewissermaßen auf die Knie zwingen, sie überführen, ihr im entscheidenden Augenblick ihre Briefe vorhalten, fragen: »Weshalb haben Sie ihn denn nach Regensburg gelockt? Was wollten Sie denn so Wichtiges mit ihm besprechen?« Dann würde sie zusammensinken. Er aber würde ihr sogar das Geständnis ersparen, ganz Ritter sein, sie aufrichten. So mußte er handeln, um Elmas willen.

»Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, gnädige Frau,« fragte er, »daß das Verschwinden Werneuchens mit dem Ende Ihres Prozesses zusammenhängt? Jetzt, da dieser Prozeß in einem einzigen Termin beendet sein mußte, und zu Ihren Ungunsten, gerade da wird Herr Werneuchen nach Regensburg gelockt und verschwindet! Gibt es da nicht einen ganz seltsamen Zusammenhang?«

»Wieso Ende des Prozesses?« fragte Gerda. Man konnte ihr die Erregung ansehen. Kamp fühlte deutlich, wie seine Worte sie beunruhigten.

»Weil Herr Reuschhagen jetzt seine gerichtliche Aussage verweigert und damit seine Beziehungen zu Ihnen zugegeben hat, gnädige Frau!« sagte er scharf.

Die Wirkung seiner Worte war stärker, als er gedacht hatte. Gerda ließ sich in einen Stuhl fallen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Dieser Mensch!« rief sie. »Dieser entsetzliche Mensch!«

»Ich denke, Sie sind mit Herrn Reuschhagen befreundet?« fragte Kamp mit eisiger Stimme weiter.

»Otmar, lassen Sie das doch bitte!« mischte sich Elma ein. »Es ist ja alles ganz anders gewesen, als wir es uns gedacht haben. Seien Sie doch still!«

»So!« sagte Kamp ratlos und sah sich im Zimmer um. Er überlegte, ob er nicht kurzerhand herausgehen und sich überhaupt nicht mehr um die ganze Geschichte bekümmern sollte. Waren denn alle Gründe und Zweifel mit einer kurzen Erzählung Gerdas auszulöschen? Wie oft hatte Werneuchen Gerda eine Meisterin der Lüge und Verstellung genannt? Und jetzt erfand sie eine rührende Geschichte, und Elma hing gläubig an ihren Lippen! Er aber wollte kalt bleiben und der Heuchlerin entgegentreten, bis sie unter ihrer Schuld zusammenbrach. Er sah, wie Elma ihn ängstlich beobachtete, ob er nicht mit diesem furchtbaren Gespräch ein Ende machte. Aber er konnte noch nicht aufhören.

»Nun, wie es auch sein mag,« sagte er, »jedenfalls ist Ihr Prozeß nun faktisch zu Ende. Niemand mehr wird Ihnen, gnädige Frau, einen Vorwurf machen, denn der Ankläger ist tot. Oder haben Sie die Hoffnung,« – er sprach das Wort »Hoffnung« mit starker, fragender Betonung aus – »daß Bensch schlecht gearbeitet hat und Herr Werneuchen noch am Leben ist?«

»Ich weiß nicht«, sagte Gerda ruhig. »Ich war im Begriff, auf die Polizei zu gehen.«

»Von diesem Gang rate ich Ihnen dringend ab. Noch ist niemand darauf verfallen, Sie mit Werneuchens Ende in Verbindung zu bringen. Elma und ich werden schweigen, weil wir wissen, was Sie durchgemacht haben. Bringen Sie sich bei der Polizei nicht unnötig in Erinnerung, gnädige Frau! Ich will Ihnen ganz offen sagen: ich glaube fest daran, daß Sie Ihren Mann durch Bensch haben ermorden lassen!«

Bei diesen Worten sah er ihr scharf ins Gesicht. Würde sie zusammenzucken oder sich sonst irgendwie verraten? Aber sie nahm nur ihre Handtasche vom Tisch.

»Sie sind wahnsinnig!« sagte sie kurz und schickte sich an zu gehen. »Ich gehe jetzt zur Polizei. Wenn Sie Lust haben, können Sie mich ja dort angeben. Sie lieben es ja von jeher, mir die merkwürdigsten Dinge nachzusagen.«

»Ich ...« Kamp wollte etwas erwidern. Aber Gerda war bereits hinausgegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen.

»Elma!« rief er. »Fräulein Elma!« Er setzte sich zu ihr. »Das ist alles so furchtbar! Sie hat ihn ja doch ermordet!«

Elma strich ihm mit der Hand über das Gesicht. »Sie sind ein lieber Junge«, sagte sie leise. »Aber mit Gerda und Ernst Alexander ist alles ganz anders gewesen. Quälen Sie sich und uns nicht. Ich erzähle Ihnen einmal alles.«

»Sie hat aber doch Werneuchen jahrelang mit diesem Menschen betrogen!«

»Es ist alles ganz anders. Otmar! – Waren Sie bei mir zu Hause?«

Er berichtete ihr von seiner Unterhaltung mit ihrer Mutter, und wie er davongeeilt war, um sie zu suchen.

»Um Gottes willen, ich muß doch Ihre Mutter verständigen, daß ich Sie gefunden habe!«

»Das ist nun alles ganz gleichgültig geworden, Otmar. Ich gehe nicht mehr nach Hause zurück.«

»Und wohin gehen Sie, Elma?«

»Ich bleibe bei ihr!«

»Bei Gerda?«

»Sie hat mich darum gebeten. Ich bleibe nun bei ihr, bis alles vorüber ist. Sie wissen schon, was ich meine.« Sie sah an ihrem Leibe herunter. »Und dann werde ich mir vielleicht eine Stelle suchen. Ich weiß nicht, das ist ja auch alles nebensächlich.«

Kamp sprang auf. Gerda war eine Teufelin! Merkte Elma denn nicht, was sie beabsichtigte? Sie brauchte Elma, um ihrem Vater zu beweisen, daß nicht sie, sondern Werneuchen die Ehe gebrochen hatte. Elma und das Kind sollten Unterpfand für Gerdas Unschuld sein.

»Oh, man wird Sie herrlich aufnehmen und für Sie und das Kind sorgen. Das ist ja so edelmütig und muß alles schlimme Gerede zum Schweigen bringen. Wir haben noch die Geliebte Werneuchens aufgenommen und ziehen jetzt sein uneheliches Kind groß. – Merken Sie gar nicht, welche Rolle man Ihnen zugedacht hat? Und Sie fallen auf so etwas hinein!«

»Vielleicht ist es so«, sagte Elma ganz ruhig. »Vielleicht braucht Gerda mich, um ihren Vater zu beruhigen. Aber wenn es nun schon so ist? Ach Otmar, was haben wir alles durchgemacht! Sollen wir jetzt nicht auch vielleicht ein wenig lügen dürfen, um endlich unsere Ruhe zu bekommen?«

»Aber sie hat ihn doch ermordet! Ich werde es Ihnen beweisen!«

»Nein, Otmar, sie hat ihn nicht ermordet. Sie hat ihn geliebt, wie ich ihn geliebt habe.«

»Reuschhagen hat sie geliebt!«

»O Gott, Reuschhagen! Nein, den hat sie wirklich nicht geliebt! Glauben Sie mir, sie hat Ernst Alexander geliebt, auch wenn sie zuzeiten unter ihm litt und ihn manchmal hassen konnte. Aber im Grunde hat sie ihn immer geliebt. Und nun sind wir beide allein ... mit seinen Kindern. Wir sind Freundinnen geworden. Otmar, lassen Sie uns in Frieden!«

Kamp schob ihre Hand zurück und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Seine blonde Tolle flog vor der Stirn. Nun hatten sich die beiden Frauen gefunden und waren Freundinnen geworden. Alles war gut. Niemand würde einen Verdacht gegen Gerda aussprechen. Nur er allein, er, Otmar Kamp, störte noch. Ihn mußte man mit guter Manier loswerden, damit er nicht Dummheiten machte. So hatten es die beiden wohl verabredet. Er war ausgeschaltet. Elma war ihm für ewig verloren. Wenn er sie nicht jetzt eroberte, war alles zu Ende. Niemals wieder würde sie sich in späterer Zeit durch seine Person an diese Monate erinnern lassen. Er würde vielleicht noch hier und da in ihrem Leben auftauchen, und man würde sich beim Vornamen nennen, weil man schließlich einiges miteinander erlebt hatte, aber man würde immer sehen, ihn baldmöglichst wieder abzuwimmeln, weil er der einzige Zeuge dieser peinlichen Vorgänge war. Es war wirklich das beste, wenn er jetzt still aus dem Zimmer ging und nichts mehr von sich hören ließ.

»Otmar, wir haben doch alle so Furchtbares durchgemacht. Ist es da schlimm, wenn wir jetzt ruhig miteinander leben wollen? Gerda hat eine eigne Wohnung in Berlin bekommen. Sie will mich vorläufig aufnehmen.«

»Und Geld?«

»Ach, einige hundert Mark habe ich noch, und jetzt, wo der Prozeß zu Ende geht, bekommt Gerda von ihrem Vater genügend Geld. Und ich werde mir bald etwas verdienen.«

»Das dürfen Sie nicht tun!«

»Sagen Sie mir etwas Besseres!«

Kamp blieb mit einem Ruck vor ihr stehen. Etwas Besseres sollte er ihr sagen? Er wußte, daß es vergeblich war, daß er noch viel zu jung war, aber er sagte dennoch:

»Ich liebe Sie!«

»Ach, lieber Freund, lassen Sie mich mit Liebe in Frieden!«

Das war alles. Er atmete tief die Luft ein. Natürlich mußte es so kommen.

»Das dachte ich mir!« sagte er. »Wie herrlich, daß er tot ist! Nun ist alles Leid zu Ende. Nun sammelt ihr euch unter der Trauerfahne. Wissen Sie auch, was Werneuchen in seinem letzten Tagebuch geschrieben hat? Daß vielleicht Sie, Elma, Sie ihn einmal ermorden werden. Sie seine Braut, seine Geliebte! Das hat er geschrieben. Und Sie machen es wahr, wenn Sie jetzt mit seiner Mörderin zusammenziehen. Erinnern Sie sich, wie Werneuchen uns immer wieder sagte: Gerda wird ihre Rolle als Witwe herrlich spielen! Besinnen Sie sich?«

»Aber sie hat ihn doch nicht ermordet!«

»Wissen Sie das so genau? Ich rate Ihnen, seien Sie vorsichtig mit Ihrem Urteil. Noch ist die Untersuchung nicht abgeschlossen. Treiben Sie mich nicht zum Äußersten! Zwingen Sie mich doch nicht, etwas zu tun, was ich nachher vielleicht bereuen würde.«

»Otmar, bitte! Können Sie nicht endlich davon aufhören?«

Er senkte schuldbewußt den Kopf.

»Elma!« fing er nach einer Weile noch einmal an. »Sagen Sie mir noch etwas: Wenn sie ihn nun ermordet hätte! Wenn sie es doch getan hätte, – würden Sie auch dann zu ihr ziehen? Gestern sagten Sie mir doch, daß sie recht getan hat. Wenn sie es getan hat, hat sie dann recht getan?«

»Niemand tut recht!« sagte Elma ruhig.

»Sagen Sie es mir ganz offen: würden Sie in diesem Falle auch zu ihr ziehen?«

Elma dachte lange nach. Er zweifelte schon daran, daß sie ihm überhaupt noch antworten würde. Schließlich fing sie aber doch an:

»Ach Otmar, mir kommen so seltsame Gedanken. Kann man überhaupt sagen, daß da ein Unterschied ist, wenn man etwas getan oder wenn man es nicht getan hat? Sehen Sie, ich kann es mir vorstellen, daß auch ich Ernst Alexander, wie er es ja geschrieben hat, ermorden lassen könnte. Ich habe es nicht getan und hätte es wahrscheinlich nicht getan. Aber in meinen tiefsten Gedanken würde ich es vielleicht doch mehrere Male getan haben. Wenn es alles so zwischen Gerda und Werneuchen gewesen wäre, wie ich es noch gestern glaubte, dann kann ich mir denken, daß sie manchmal ganz dicht an der Tat war. Und wenn sie dann wirklich einmal zu einem Bensch das eine Wort gesagt hätte, so wäre es gar nicht viel mehr, als was sie oft gedacht hat Ich glaube, daß ich auch das verstehen könnte.«

»Elma!« beschwor er. »Wissen Sie, was Sie da sagen? Wenn Sie es ganz genau wußten, daß Gerda ihn ermorden ließ, – stellen Sie sich das vor: wie sie einen Plan ausheckt, ihn in allen Einzelheiten berechnen muß, wie sie stundenlange Unterhandlungen mit dem Mörder hat, wie sie vielleicht Briefe schreiben muß, um ihn in einen Hinterhalt zu locken –, stellen Sie sich das einmal vor! Stellen Sie sich dann vor, daß sie die Nachricht von der gelungenen Tat bekommt und Trauer heuchelt! Und dann sagen Sie mir, ob Sie noch zu ihr ziehen würden!«

Elma senkte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es ist doch furchtbarer, als ich dachte. Ich würde nicht zu ihr gehen.«

»Sehen Sie, sehen Sie, triumphierte er. »Und wenn ich Ihnen nun beweise, daß sie das alles getan haben muß, – was dann?«

Sie sah ihn kopfschüttelnd an. Sie überlegte sich etwas. Er merkte, daß sie zu zweifeln anfing. Ja, sie hatte ihre Zweifel nur betäubt. Es war ein Scheinfrieden zwischen ihr und Gerda geschlossen worden. Zwischen Elma, die ihre Augen vor der furchtbaren Tat verschließen wollte, und Gerda, die der neuen Freundin noch nicht einmal ihre Regensburger Verabredung gestand. Er wollte sie überführen. Nicht gerade vor Gericht, aber vor Elma. Oder vielleicht auch vor Gericht?

Er sah Werneuchen wieder vor sich, mit dem ironischen Lächeln um den Mund, mit den leisen hilflosen Bewegungen, die alles Schwere behutsam auszulöschen versuchten. Er sah ihn neben dem Bücherregal stehen, so wie er ihn in der letzten Nacht im Traum gesehen hatte. Es war etwas rätselhaft Liebeheischendes in ihm, das Zwingende der tiefen, stillen Leidbereitschaft, die aufreizte und zugleich entwaffnete. Vielleicht mußte man diesem Menschen wehtun und ihn doch zugleich liebhaben. Ja, das war es! Weil er litt und leiden wollte und vor dem Leiden doch zugleich Furcht hatte. Weil er Kreatur war! Ihn lieben und ihm wehtun! Vielleicht war das das Schicksal Gerdas gewesen. Vielleicht wäre das das Schicksal Elmas geworden. Vielleicht war es im Grunde das Schicksal aller Menschen an allen Menschen?

Sie standen beide in Gedanken, als auf einmal Gerda zur Türe hereinkam.

»Da, da!« rief sie und zeigte mit ausgestreckter Hand auf das Fenster. »Ich habe eine Viertelstunde gewartet, aber er geht nicht fort!«

Sie sahen hinaus. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße ging Adalbert Reuschhagen auf und ab. Wie ein kleiner unscheinbarer Kommis sah er aus in dem gebügelten blauen Anzug und mit dem steifen schwarzen Filzhut. Mit dem viel zu großen Stock schlenkernd, eine viel zu große Zigarre im Mund, ging er langsamen Schrittes vorwärts und kehrte wieder um. Wie ein harmloser, gutgelaunter Spaziergänger promenierte er vor dem Hause hin und her mit der Gleichmäßigkeit eines Uhrpendels.

Die drei standen am Fenster und sahen hinaus.

»Ich kann nicht vorbei! Er wird noch stundenlang auf mich warten!« sagte Gerda verzweifelt.

»Ist er nicht furchtbar?« stieß Elma aus.

Kamp war es noch nie eingefallen, in Reuschhagen etwas Furchtbares zu sehen. Er mochte ihn nicht, weil er ihm mit seinen banalen Schwätzereien auf die Nerven fiel. Aber furchtbar? Und doch, wenn er jetzt den Blick zwischen diesem rosigen Antlitz und dem Entsetzensausdruck in Gerdas Gesicht hin und herschweifen ließ, dann wollte ihm etwas von der Furchtbarkeit dieses Menschen aufdämmern.

»Frau Gerda!« sagte er. »Wie konnten Sie sich mit diesem Menschen einlassen?«

»Ja, wie konnte ich! Wie konnte ich!« Ihr Gesicht überzog sich mit einer tiefen Blässe. »Einmal, einmal habe ich es getan! In einem Augenblick der Verstörung, als ich bemerkte, daß Ernst Alexander mich nicht mehr liebte. Damals ging ich zu ihm, um ihn um Hilfe zu bitten. Er hat mich übertölpelt, überwältigt. Ich wollte nicht, ich liebte ihn nicht, ich habe mich gewehrt, aber er hat mich schließlich doch bekommen. Das war alles! Seit der Zeit hat er mich nicht mehr aus den Krallen gelassen. Ich habe ihm geflucht, ich habe ihn auf meinen Knien gebeten, mich frei zu lassen. Er gab mich nicht mehr frei. Ich habe ihm Geld geben müssen, soviel ich entbehren konnte. Ich habe meinen Mann bestehlen müssen, um ihm die Taschen zu füllen. Meine Uhr, meine Schmucksachen, alles hat er bekommen, nur damit er mich nicht verriet. Ich war ja in seiner Hand! Und die Kinder! Und mein Vater!«

Sie fiel auf einen Stuhl nieder und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Kamp schwankte zwischen Mißtrauen und Erschütterung. War das wirklich das Leben dieser Frau gewesen? Hatte sie sich in der Umarmung von Erpresserhänden gewunden?

»Wenn Sie es Ihrem Mann gesagt hätten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte doch nicht! Er haßte mich ja damals schon. Er hätte ihn vielleicht totgeschlagen, aber mich hätte er hinausgeworfen. Nein, ich konnte ihm nichts sagen. Vielleicht hätte ich es tun sollen, aber ich wagte es nicht«

»Nein«, sagte Kamp entschieden. »Das ist nicht wahr! Sie sind mit Reuschhagen lange Jahre befreundet gewesen. Man hat Sie immer wieder mit ihm gesehen. Sie sind bei ihm in seiner Wohnung gewesen. Sie saßen immer wieder im Café mit ihm zusammen. Ein Erpresser taucht auf und verschwindet wieder. Diesen Mann aber haben Sie jahrelang um sich gehabt«

Sie senkte ihren Kopf noch tiefer.

»Ja«, sagte sie. »Das ist alles richtig. Aber es war trotzdem so, wie ich gesagt habe. Ich fror doch bei Ernst Alexander! Er liebte mich doch nicht mehr. Und Reuschhagen hat mich angebetet Ich floh immer wieder zu seinem Klavierspiel, wenn ich es zu Hause nicht mehr aushalten konnte. Auch das ist richtig.«

»Sehen Sie!« sagte Kamp. »Sie sind also doch seine Geliebte gewesen!«

»Niemals wieder!« schrie sie auf. »Während des ganzen Prozesses hat er mich beschworen, zu ihm zu kommen. Er wollte falsch vor Gericht aussagen, einen Meineid schwören. Ich sollte seine Frau werden. Ich aber konnte nicht mehr. Seit Monaten geht dieser Kampf zwischen uns, und als ich ihm jetzt endgültig schrieb, daß ich nie wieder ihm gehören würde, da –«

»Da?«

»Da hat er dem Gericht mitgeteilt, daß er seine Aussage verweigert. Ich wußte nun, daß ich verloren war, aber ich konnte nicht anders.«

»Und gestern im Café?«

»Es war unsere letzte Unterredung!«

Sie sank völlig in sich zusammen. Ihr Kopf lag fast in ihrem Schoß. Kamp sah, daß sie kein Wort mehr sprechen wollte.

»Ich sah das alles schon gestern, als sie aus dem Café herauskam«, sagte Elma. »Nur glaubte ich da noch, daß sie ihn ermordet hat«

Nach diesen Worten wurde es still im Raum. Gerda blieb in ihrer zusammengekrümmten Haltung auf dem Stuhl. Elma und Kamp sahen durch das Fenster, wie Reuschhagen unaufhörlich vor dem Hause hin- und herging.

Kamp schwankte noch immer zwischen Erschütterung und Unglauben. Konnte ein Mensch wirklich so sehr Theater spielen, über alle Register der Verzweiflung gebieten, wie es Gerda tun mußte, wenn sie jetzt schauspielerte? Dann war sie jedenfalls die abgefeimteste Verbrecherin. Konnte man ihr glauben? War da nicht ein Widerspruch in ihren Worten oder kam da nur das doppelte Gesicht zum Vorschein, das nun einmal alle Dinge haben?

Gerda richtete sich auf. Wie gut sie weiß, schoß es Kamp durch den Kopf, wie lange eine solche Pause der Ergriffenheit dauern muß!

»Herr Kamp, ich muß jetzt auf die Polizei. Wollen Sie mich an Reuschhagen vorüberbringen?«

»Ja!« sagte er. »Aber vorher muß ich noch einmal Elmas Mutter anrufen.«

Im Hausflur ist das Telephon!«

»Was werden Sie ihr sagen, Otmar?« fragte Elma.

»Daß Sie heute nacht noch hierbleiben und morgen oder übermorgen nach Hause kommen werden.«

Sie lächelte. »Haben Sie selbstsüchtige Gedanken dabei?«

Er wurde rot. Hoffte er immer noch auf sie?

»Ich werde nicht mehr nach Hause kommen, aber Sie können es ja meiner Mutter immerhin zur Beruhigung sagen.«

Als Kamp zurückkam, hatte sich Gerda das Gesicht gewaschen. Man konnte ihr von den Aufregungen der letzten Stunden nichts mehr ansehen. Sie war fertig.

»Warten Sie, Elma?« fragte sie. »In zwei Stunden hoffe ich zurück zu sein.«

Dann ging sie an den Nachttisch, zog die Schublade auf und entnahm ihr einen kleinen Revolver.

»Im Notfall halten Sie mir Reuschhagen hiermit vom Leibe!« sagte sie.

Im Augenblick bebte Kamp vor der Waffe zurück, auch Elma war kreidebleich geworden.

»Was ist das!« rief er aus. Gerda wurde dunkelrot

Beim Anblick der Waffe gingen alle Gedanken in dem kleinen Zimmer in einer Richtung, und alle drei bemerkten es im gleichen Augenblick. Gerda hob die Hand, als wollte sie durch Zurücknehmen der Waffe den Besitz des Revolvers vergessen machen. Kamp hielt bleich und erschrocken das kleine Ding von sich ab. Elma starrte entsetzt auf den dunklen Stahl. Sekundenlang waren sie alle betreten.

Gerda faßte sich zuerst

»Sie erschrecken, daß ich diesen Browning besitze?« sagte sie mit ruhiger Stimme. »Ich habe ihn mir vor einigen Wochen gekauft, weil ich ihn einmal zu brauchen fürchtete. Aber ich habe ihn nicht gebraucht, und ich gebe ihn jetzt auch zum erstenmal aus der Hand.«

Kamp bewunderte sie. Mit einem Schlag hatte sie die Gedanken der andern erfaßt und sagte schon im nächsten Augenblick alles Notwendige, was diese dunkel aufsteigenden Gedanken zurückweisen konnte. Nicht einmal die Möglichkeit, daß sie den Revolver zur Mordtat jemandem geliehen haben könnte, war außer acht gelassen. Diese Frau war gefährlich klug.

»Kommen Sie!« sagte er kurz und steckte die Waffe ein. Aber er warf Elma einen bedeutungsvollen Blick zu.

Draußen auf der Straße machte Reuschhagen nicht die mindesten Anstalten, sich ihnen zu nähern. Er tat, als bemerke er die beiden nicht, ging pfeifend und mit dem Stock schlenkernd nach der anderen Seite.

Schweigend schritt Kamp neben der Frau. Er mußte daran denken, daß es nur einen Tag her war, daß sie hier mit Reuschhagen aus dem Café durch diese selbe Straße gegangen war. Was mochte in ihr vorgehen? Er sah sie von Zeit zu Zeit scheu von der Seite an. Sie schien sich nicht im geringsten um ihn zu kümmern. Hatte diese Frau eine große Macht über alle Menschen, die sich ihr näherten, oder war sie selbst hilflos und anlehnungsbedürftig? Beides konnte sein. Er suchte ihr Leben zu überfliegen. Beide Gleichungen gingen auf. Vielleicht hatte sie starker an Werneuchen gelitten als er an ihr, vielleicht hatte sie ihn wahnsinnig gemacht. Sie war ihm ein Rätsel.

Noch einmal dachte er nach, ob er sie schonen oder bei der Polizei ganz plötzlich mit ihren Briefen hervortreten sollte. Hatte er nicht zwischen Werneuchen und ihr zu wählen? Wen schonte er eigentlich, wenn er sie schonte? Eine Bestie, die Unheil über Unheil anrichten würde? Oder eine arme, gejagte Frau? Er wußte es noch immer nicht. Man mußte vielleicht die Dinge laufen lassen.

Aber vielleicht wurde sie von den Polizisten überführt? Vielleicht verfolgte der kleine stille Neumann schon längst diese Spur?

Er wurde unterbrochen. Sie waren am Sendlinger Torplatz angelangt Der Zeitungsverkäufer rief das Abendblatt aus. Durch den Straßenlärm hörten sie deutlich die Worte seines Ausrufs:

»Die Ermordung des Hauptmanns Werneuchen!«

Schaurig klang ihnen beiden der bekannte Name ins Ohr.

»Kaufen Sie ein Blatt!« bat Gerda.

Als sie es in der Hand hatten, wagten sie es nicht zu öffnen.

»Kommen Sie! Wir wollen uns auf die Bank setzen.«

Auf der Vorderseite der Zeitung gab es nur Politik. Sie hatten Angst vor dem Augenblick, wenn sie die Zeitung aufschlugen und der Name ihnen in fetter Überschrift entgegenspringen würde. Der Verkäufer rief immer noch sein »Die Ermordung des Hauptmanns Werneuchen!«

»Ich halte es nicht aus,« sagte Gerda, »kommen Sie weiter!«

Während sie gingen, schlug Gerda plötzlich das Blatt auf und blieb stehen. Kamp sah an ihrer Seite hinein. Wie ein paar gleichgültige Zeitungsleser standen sie mit sachlichen Gesichtern da und lasen den Bericht von Werneuchens Ermordung.

Zwei fettgedruckte Überschriften schrien sie an: »Der Fabrikant Berdelow verhaftet!« und »Die Leiche unterhalb Regensburg in der Donau gefunden!«

»Wußten Sie das schon?« fragte Gerda.

»Nein! Daß die Leiche gefunden ist, wußte ich nicht.«

Nun war gar kein Zweifel mehr. Hatte er immer noch geglaubt, daß Werneuchen lebendig zurückkehren würde? Nein, er hatte es nicht geglaubt. Aber daß nun die endgültige Bestätigung da war, jagte ihm doch Schauer über den Rücken.

Sie lasen von den Steuerhinterziehungen der Firma Berdelow & Hahn, von dem Zusammenstoß Werneuchens mit seinem Chef, von der anonymen Anzeige beim Finanzamt und dem Inserat jener unbekannten Firma, von der aus die Spur zu Berdelow & Hahn weiterführte. Sie lasen von Fräulein Margot Liedtke und ihrer Aufsehen erregenden Flucht, die wie eine Bestätigung der Schuld aussah. »Vorläufig leugnet der Verhaftete!« stand in gesperrten Buchstaben da. »Weitere Verhaftungen stehen unmittelbar bevor!« Personen, die über die Tat etwas aussagen könnten, sollten sich auf dem Polizeipräsidium in einem bestimmten Zimmer melden.

»Was heißt das?« fragte Gerda. »Weitere Verhaftungen stehen unmittelbar bevor? Ich denke, sie haben den Anstifter. Wen wollen sie denn noch verhaften?«

»Bensch!«

»Natürlich! Aber die Mehrzahl: weitere Verhaftungen?«

»Sie und mich vielleicht!« sagte Kamp ernst.

Er dachte an die unterschlagenen Schriftstücke. Konnte nicht jemand sie inzwischen gefunden haben?

»Uns!« warf Gerda ablehnend hin, sagte aber nichts weiter. Ihre Augen eilten zu dem Bericht über die Auffindung der Leiche.

Diese Nachrichten mußten auf dem Polizeipräsidium eingelaufen sein, als Leuthold und Naumann in der Villa draußen waren. Die Kriminalisten waren damit überrascht worden, als sie in ihre Amtszimmer zurückkehrten.

Die Leiche war am frühen Morgen einige Kilometer östlich von Regensburg angeschwemmt und von Kindern entdeckt worden. Der Ermordete wies Würgspuren am Halse auf, die offenbar von einem verzweifelten Ringen mit dem Täter herstammten. Der Tod selbst war durch einen Messerstich mitten ins Herz herbeigeführt worden.

»Er hat sich noch gewehrt!« sagte Gerda schaudernd. »Und ein Messerstich, kein Revolver!« Sie wollte noch einmal ihren Revolver entschuldigen.

Aus Briefen und Papieren konnten die Personalien der Leiche festgestellt werden. Es gelang dieses um so eher, da ja die Regensburger Kriminalpolizei bereits von dem Verschwinden Werneuchens Kenntnis hatte. »Die bei dem Toten gefundenen Papiere geben über den Täter und die Gründe der Tat wertvolle Aufschlüsse«, las Gerda halblaut vor.

»Ja«, sagte Kamp. »Darum freue sich, wer reinen Herzens ist!«

»Hoffentlich ist nichts Mißverständliches in diesen Papieren vorhanden«, warf Gerda ein. Er sah, wie die letzten Sätze sie erregt hatten. Fürchtete sie, daß der Tote ihre letzten Briefe bei sich trug?

»Kommen Sie! Wir wollen ein Auto nehmen. Ich kann nicht mehr.«

Sie gingen an die Autohaltesteile. »Polizeipräsidium, Ettstraße!« sagte Kamp und öffnete den Schlag. Gerda stieg zuerst ein.

»Welch ein Zufall!« ertönte eine Stimme hinter ihnen. »Können die Herrschaften mich vielleicht mitnehmen?«

Sie fuhren herum. Wachtmeister Neumann stand hinter ihnen.

»Ich muß gerade auf das Polizeipräsidium und hörte eben die Adresse angeben. Und nun sind Sie es. Darf ich mich Ihnen anschließen?«

Kamp stellte den Beamten Gerda vor. Sie nickte nur kurz mit dem Kopf und schien durch das Zusammentreffen nicht sonderlich erfreut zu sein. Auch während der Fahrt verhielt sie sich schweigend und sah auf die Straße hinaus.

»Es ist inzwischen viel geschehen, nicht wahr?« sagte Neumann und zeigte auf die Zeitung, die der Student noch in der Hand hielt. Der Wachtmeister schien ohne den Kommissar ein ganz anderer Mensch zu sein. Kamp mußte sich zwingen, ihn für den zurückhaltenden Untergebenen zu halten, der sich nur im Hintergrund leise zu räuspern wagte.

»In der Tat!« sagte er. »Berdelow verhaftet, die Sekretärin entflohen, die Leiche aufgefunden, Papiere entdeckt, die Aufschlüsse geben!«

»Oh, noch viel mehr, als in der Zeitung steht«, sagte der Wachtmeister mit einem kurzen Blick auf Gerda.

Mit einemmal schoß dem Studenten das Blut ins Gesicht. Wie kam Neumann hierher? Hatte er vielleicht doch die beiden versteckten Hefte und die Briefe zwischen seinen Büchern gefunden? Hatte er ihn beobachtet, wie er Gerda aufsuchte? War er selbst vielleicht wirklich unter denen, deren Verhaftung nach der Zeitung »unmittelbar bevorstehen« sollte? Er oder Gerda, oder beide?

»Hören Sie, Herr Neumann«, fuhr er auf. »Sollen wir uns vielleicht als verhaftet betrachten?«

»Um Gottes willen!« rief der Wachtmeister lachend. »Wie kommen Sie nur auf so etwas?«


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