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Neuntes Kapitel

»Werneuchen ist doch verreist«, sagte Kamp, um überhaupt etwas zu sagen. Er stand unschlüssig da. Er wußte, diese überraschende Szene verlangte etwas Ungewöhnliches von ihm, aber er war außerstande, auch nur einen Gedanken zu fassen.

»Setzen Sie sich nicht?« fragte Reuschhagen und schob ihm mit seiner Lakaienhöflichkeit einen Stuhl hin. Kamp nahm automatisch Platz. Die Kellnerin erschien. Er bestellte wie auf eingeflüsterten Befehl Kaffee und ertappte sich bei dem Gedanken, daß er nun endlich zu seinem Nachmittagskaffee kommen würde. Frau Gerda sagte inzwischen etwas, das er vor Aufregung nicht verstand. Er verstand überhaupt nichts mehr. Gerda – Bensch, Bensch – Gerda! ging es ihm durch den Kopf. Gerda will ihre Möbel haben, es erscheint Bensch! Man verfolgt Bensch – auf einmal findet man Gerda! Natürlich war das nur ein Zufall. Er sagte es sich selbst. Es konnte gar nichts anderes als ein merkwürdiger Zufall sein. Aber dieser Zufall übertölpelte ihn. Er war wie vor den Kopf geschlagen.

Schon unter gewöhnlichen Umständen mußte ihm die Nähe dieser Frau peinlich sein. Auch wenn er davon absah, daß draußen Elma mit drei Polizisten wartete, so bestand doch immerhin noch die Tatsache, daß der Mann dieser Frau seit einigen Tagen verschwunden war und sie wahrscheinlich noch nichts davon wußte. Und Kamp, der doch schließlich ihr Feind war, mußte es ihr vielleicht mitteilen. Es lag ein geradezu wahnsinniges Durcheinander in dieser Verschlingung.

»War nicht ein Herr in diesem Raum?« fragte Kamp endlich. »Ein auffallend großer starker Herr im grauen Anzug?«

Die beiden schüttelten den Kopf. Sie wollten nichts gesehen haben, verstanden vielleicht nicht einmal Kamps Frage.

Das Zimmer hatte drei Türen: die große offene Schiebetür, durch die man aus dem Büfettraum kam, eine Tür, die in die Küche führte, und eine kleinere Tür zur Toilette. Durch die Küche konnte Bensch kaum gegangen sein, ohne Aufsehen und Lärm zu erregen. Blieb nur die dritte Tür übrig.

»Wie lange sitzen Sie schon hier?« fragte Kamp.

»Mein Gott!« fuhr Gerda nervös auf. »Sie verhören uns ja geradezu!«

»Gnädige Frau, es handelt sich um eine merkwürdige Angelegenheit, die der Aufklärung bedarf«, fing Kamp an, stockte aber gleich wieder. Er wußte nicht, ob er vor diesen beiden Menschen den Namen Bensch überhaupt erwähnen und besonders von Elma ein Wort sagen durfte. Oder von dem Polizeiaufgebot draußen, oder den fünftausend Mark, oder überhaupt von allem.

»Ich beschwöre Sie, gnädige Frau, sagen Sie mir um Gottes willen, wie lange Sie schon hier sitzen!«

»Seit einer Stunde!« sagte Gerda. »Wir haben hier nämlich einiges zu besprechen. Sie können das ruhig Ihrem Freund Werneuchen, dessen Spion Sie doch wohl sind, mitteilen.«

»Ich bin kein Spion!« fuhr Kamp auf, dachte aber gleich daran, daß diese Frau ein gewisses Recht hatte, ihn so zu bezeichnen.

»Gestatten Sie, daß ich darüber anders unterrichtet bin«, sagte Frau Gerda scharf.

»Gnädige Frau, wollen wir diese Sachen nicht einen Augenblick ruhen lassen? Es steht hier etwas ganz anderes auf dem Spiel. Wenn Sie schon solange hier sitzen, müssen Sie gesehen haben, wie jemand hier durchging.« Kamp sagte es fast flehend. Schließlich handelte es sich doch immerhin um das Leben ihres Mannes.

»Vielleicht, daß hier jemand durchging«, sagte Gerda. »Ich habe nicht so genau darauf geachtet. Dann muß er jedenfalls dort drin sein.« Sie zeigte mit der Hand nach der kleinen Tür.

Bensch war also jedenfalls in jenem Raum. Er wagte wohl nicht, herauszukommen, da er von Gerda und Reuschhagen, die ihn ja kennen mußten, erkannt zu werden fürchtete.

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick!« sagte Kamp und erhob sich. Er glaubte, Elma und dem Kommissar dieses seltsame Zusammentreffen nicht länger verheimlichen zu dürfen.

»Ist er drin?« fragte Elma draußen erregt

Kamp zuckte die Achseln und erzählte, was ihm drinnen begegnet war. Elma brannte förmlich auf. Sie schien über diese Nachricht alles andere zu vergessen.

»Ich muß sie kennenlernen!« rief sie in höchster Erregung. »Ich muß die Frau kennenlernen. Ich muß sie sprechen. Es hängt ja soviel davon ab! Nehmen Sie mich als eine Bekannte von sich mit hinein!«

Kamp sah den Kommissar an. Er verstand Elma nicht. Was konnte sie in diesem Augenblick von Frau Gerda wollen?

»Haben die Herrschaften dort drin mit dem Verschwinden des Herrn Werneuchen irgend etwas zu tun?« fragte der Kommissar.

Elma und Kamp sahen sich an. »Nein!« sagten sie dann gleichzeitig.

In diesem Augenblick traten Gerda und Adalbert Reuschhagen aus dem Cafe heraus, grüßten kurz und gingen die Lindwurmstraße hinab nach der Stadt. Elma verschlang die Frau mit den Augen.

»Das ist sie!« sagte sie leise. »Das ist sie!«

Sie sahen den beiden nach, wie sie die Straße hinunterschritten, die schlanke, große Frau, die sich leicht in den Knien wiegte, und der kleine, frisch aufgebügelte Reuschhagen mit dem wippenden Gang. Wieder war es Kamp unverständlich, was diese Menschen aneinanderband. Und doch mußte es so stark gewesen sein, daß es alle Beteiligten unglücklich gemacht hatte. Wie mochten sie jetzt miteinander stehen, da Reuschhagen seine Zeugenaussage verweigert hatte?

»Ob diese Herrschaften nicht doch in dem Café mit Bensch verabredet waren?« fragte der Kommissar.

Kamp schüttelte den Kopf. Ein solcher Gedanke wollte ihm nicht eingehen.

»Man erlebt oft die merkwürdigsten Sachen!« bemerkte Leuthold.

»Nein!« rief Elma dazwischen. »Jetzt ist es mir klar, wie es gewesen ist. Bensch sah Frau Werneuchen zufällig auf der Straße und erkannte sie. Er ging ihr nach, weil es ihm natürlich nicht gleichgültig sein konnte, was diese Frau hier in München trieb. Deshalb benahm er sich auch so seltsam. Ich hatte gleich den Eindruck, daß er jemandem unbemerkt folgen wollte. Als er in das Café eintrat, bemerkte er, daß er selber verfolgt wurde. Er ging hinein, um durch einen Hinterausgang zu entkommen. Er wird das Café nicht gekannt haben, vielleicht vermutete er mehrere Räume darin. Nun gab es nur das eine Hinterzimmer. Damit Herr Reuschhagen und Frau Werneuchen ihn nicht erkennen, mußte er schnell hindurchgehen, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als in das Kabinett zu treten. So ist es!«

Der Kommissar gab ihr recht Es konnte in der Tat sein, daß Bensch seine Verfolger bemerkt hatte. Wahrscheinlich hatte er bereits Verdacht geschöpft, als er den Radfahrer ständig vor sich sah. So war er denn schnell in das Café eingetreten, wo er sich wiederum vor Reuschhagen und Frau Werneuchen verbergen mußte und jetzt festsaß.

»Schnell, schnell! Worauf warten wir denn noch!« drängte Elma. »Das ist ja doch jetzt alles viel zu spät!«

»Das eine möchte ich noch bemerken,« sagte der Kommissar, »daß dieses Zusammentreffen zwischen Bensch, oder wie er heißen mag, und den beiden Herrschaften dort aus dem Café auf keinen Fall ein reiner Zufall ist. An solche Zufälle glaubt der Kriminalist nicht. Immerhin mag die Erklärung des gnädigen Fräuleins genügen. Aber nun wollen wir das Nest ausheben.«

»Viel zu spät!« sagte Elma. »Es ist niemand mehr drin!«

»Unsinn!« gab Leuthold zurück und erteilte den Beamten seine Befehle. Die Kriminalisten gingen hinein, Kamp und Elma folgten.

Der Wirt und die Kellnerin waren im Augenblick verständigt. Das Liebespaar in der Ecke vorn stand neugierig auf und sah sich die Geschichte an.

»Es ist niemand mehr dal« sagte Elma noch einmal.

Der Wachtmeister Neumann war schnell durch die Küche in den Hof gegangen. Auf einmal trat er aus der Tür des Kabinetts heraus und sagte mit seiner leisen unpathetischen Stimme:

»Der Vogel ist fort!«

Er sagte es mit einem kaum versteckten Lächeln. Wahrscheinlich war er längst davon überzeugt. Elma stieß einen Schrei aus. Der Kommissar errötete vor Wut.

Das Rätsel löste sich sehr einfach. Von dem verschwiegenen Raum führte ein breites Fenster in den Hof. Bensch hatte in aller Gemächlichkeit hinaussteigen und durch das Hinterhaus ins Freie gelangen können. An dieses Fenster hatte Leuthold nicht gedacht. Gewiß war er ein ausgezeichneter Kriminalist, aber diesmal hatte er einen Bock geschossen. Man hätte Bensch wirklich sofort auf der Straße verhaften sollen.

»Ich bin ein Riesenrindvieh! Ich bin ein Idiot!« tobte er gegen sich selber. Der eine Beamte grinste dazu. Neumanns kleines Vogelgesicht war wieder unbeweglich und ausdruckslos geworden.

Jetzt, nachdem die Spannung der letzten Stunden verflogen war, fühlten sie sich sämtlich stark erschöpft. Man setzte sich hin. Kamp bestellte Kaffee und einige Schnäpse. Der Wirt, die Kellnerin und das Pärchen bestätigten ihnen, was sie schon wußten oder sich denken konnten:

Reuschhagen hatte bereits längere Zeit in dem Hinterzimmer gesessen, wo er fast jeden Tag seinen Kaffee einzunehmen und Zeitungen zu lesen pflegte. Gegen halb fünf war Frau Gerda hereingekommen, und kaum eine halbe Minute später der große Mann in dem dunkelgrauen Anzug. Er war rasch durch das Lokal gegangen und nachher verschwunden. Die Kellnerin hatte sich wohl gewundert, aber nicht weiter auf ihn geachtet, da es oft vorkam, daß Personen nur einen Blick in das Lokal warfen und wieder hinausgingen. Als sie in das hintere Zimmer kam, waren nur noch Reuschhagen und die Dame dort anwesend.

»Das nenne ich eine verunglückte Expedition!« sagte Leuthold und goß seinen Kognak hinunter.

Die beiden Wachtmeister wußten von den Zusammenhängen der Geschichte noch gar nichts.

»Heißt er wirklich Bensch?« fragte Neumann.

Man konnte ihm darauf nichts antworten. Es war ja sogar möglich, daß Bensch schon als Packer einen falschen Namen angenommen hatte, und es war immerhin noch fraglich, ob es sich überhaupt um jenen Packer handelte.

»Ich meine nur,« sagte der andere Wachtmeister, »wenn man den Namen wüßte, wäre schon viel gewonnen. Man kennt doch die Hauptkunden. Allerdings bei diesem Ausreißer kann ich mich nicht entsinnen, ihn schon gesehen zu haben. Vielleicht arbeitet er nur selten in München.«

Kamp fragte, ob sie diesen Mann überhaupt für einen schweren Verbrecher hielten und ob hier kein Irrtum möglich wäre.

Die beiden Wachtmeister lächelten. »Nein, Herr! Das ist ein ganz schwerer Junge. Da ist kein Zweifel!«

»Herrschaften!« sagte der Kommissar und erhob sich. »Jetzt muß gearbeitet werden!« Man brach auf.

Draußen entließ Leuthold die beiden Beamten und forderte Elma und Kamp auf, ihn ins Polizeipräsidium zu begleiten. »Jetzt müssen wir methodisch vorgehen!«

Während sich Elma von den beiden Wachtmeistern verabschiedete, fragte Kamp leise den Kommissar, was nach seinem Empfinden aus Werneuchen geworden wäre.

»Wissen Sie,« sagte Leuthold, »wenn ich das Gesicht dieses Herrn Bensch, oder wie er heißen mag, gesehen hätte, könnte ich es Ihnen mit Bestimmtheit sagen. Manches in der Rückenpartie scheint mir aber auch schon deutlich genug. Ich fürchte, Herr Werneuchen ist tot!«

Kamp hatte es gedacht.


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