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Graues Zwielicht begann eines Sommerabends rubinfarbenes Glühen zu entfärben. Über den dunkelnden Fluß glitten Nachen mit leichter Jugendfracht, und so weich wie das von den Rudern rinnende Wasser klangen die Stimmen: »Auf den Bergen die Burgen – Im Tale die Saale« ... Auf dem Marktplatz hinterm Rücken des bronzenen, wohlbeleibten Herzogs Johann Friedrich, Hanfried genannt, saßen unter bunten Papierlaternen Studenten, becherten und sangen: »Ja, in Jene – da lebt's sich bene.« Gegenüber aus der »Sonne« aber erscholl es: »Wir sind hier versammelt zu löblichem Tun ...« Durch die winklig enge Johannisstraße, auf die aus der Höhe das Lichtchen des Türmerstübchens freundlich gemütlich niederschaute, drängte sich junges Volk in bunten Mützen und Blumenhüten. Alles schlenderte, summte, war vergnügt und sorglos.
Nur Irmgard irrte aufgeregt und angstbelastet durch den laulichen Sommerabend. Den ganzen Tag über hatte sie keine Nachricht über Heinzens Befinden bekommen. Gestern und vorgestern war ihr von Viktor gemeldet worden, es ginge ihm leidlich gut. Aber heute hatte dieser sie im Stich gelassen. Nachmittags war sie in der Guhnottschen Villa gewesen, wo man ihr mitteilte, daß die Herrschaften mit Berliner Bekannten eine Autofahrt in den Thüringer Wald unternommen hätten. Da hatte sie in der Angst um den Geliebten Mädchenscheu und Sorge um den guten Ruf fahren lassen und war die Stiegen des alten Hauses hinaufgeeilt.
Nur an der Tür wollte sie fragen, wie's ihm ginge. Doch niemand öffnete auf ihr Klingeln. Jetzt war sie wieder auf dem Weg zu Guhnotts.
Da gewahrte sie vor dem Schaufenster einer Buchhandlung den Geheimrat. Eine abenteuerliche Hoffnung leuchtete in ihr auf. Ohne sich zu besinnen, überquerte sie die Straße.
Er bemerkte sie erst gar nicht, in so schwere Gedanken war er gebannt. Doch endlich, nach einem verwunderten Blick, erkannte er sie.
»O, Fräulein Raumer.«
Er wies mit halbem Lächeln auf das andere Schaufenster.
»Die schöne Literatur liegt nebenan.«
»Mich interessieren medizinische Bücher sehr.«
»War Ihr Herr Vater etwa Arzt?«
»Nein. Aber Papa war lange leidend. Da habe ich ihn gepflegt.«
»Haben die Ärzte ihm denn helfen können?«
»Leider nicht.«
»Da haben Sie also gleich das Schwerste in unserem Beruf gelernt: verzichten.«
»Das sagen Sie, Herr Geheimrat, der so vielen geholfen hat?«
»Vielen Gleichgültigen und eben dem einen nicht, den ich so gern gerettet hätte.«
Er kam gerade vom Krankenbett eines jungen, hoffnungsvollen Kollegen, dessen verzweifelter Frau er hatte mitteilen müssen, daß hier alle Hilfe vergeblich sei. Und er, der an Erfolge so gewöhnt war, daß der glückliche Ausgang einer Operation ihn als etwas Selbstverständliches kaum noch erfreute, litt in einem solchen Fall unter den Grenzen seiner Kunst wie unter einer persönlichen Unzulänglichkeit, fast wie unter einer Schuld.
Er warf noch einen Blick auf das Schaufenster und fragte dann:
»Sie gehen nach Haus? Da darf ich Sie vielleicht ein Stück begleiten?«
Mit schweren, langsamen Schritten ging er an ihrer Seite, ohne auf das Singen, das aus der »Rose« herausschallte, zu hören.
»Ja,« fuhr er wie im Selbstgespräch fort, »wir haben manches erreicht. Aber dem Tod gegenüber sind wir doch Stümper. Man sagt uns Ärzten nach, daß wir gegen den Tod abstumpfen. Aber das ist nicht wahr: niemand empfindet so tief und bitter wie wir den schmerzlichen Spruch: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen ... Gewiß der Tod selbst ist eine Naturnotwendigkeit, ist der Gegenpol des Lebens. Aber die Stunde, die er sich aussucht, die gnadenlose Blindheit, mit der er verfährt, das ist es, was man nie verwinden kann ... Und gerade darin sind wir Ärzte seine ebenso blinden Antipoden. Müssen es sein. Denn wo Leben zu erhalten ist, befiehlt uns die Pflicht, es zu halten. Wie manchem armen Krüppel habe ich sein nutzloses Dasein um Jahre verlängert und habe mir im stillen gedacht: Dir wäre wohler, wenn du im Grab lägst, und deinen Angehörigen auch ... Aber da ragt ein stolzer Lebensbau auf, da sind Pläne und Arbeiten im Gang, die für die Menschheit etwas bedeuten. Und zugleich mit all den Hoffnungen wächst irgendein durch mikroskopische Lebewesen hervorgerufenes Gebilde heran, von niemandem geahnt – bis es eines Tages den stolzen Bau unterminiert hat. Und all unser Wissen reicht gerade aus, um das zu konstatieren ... Haben es da nicht die anderen Berufe leichter? Offiziere, Juristen, Kaufleute? Vielleicht ist ihr Ziel weniger hoch. Aber sie sind auch weniger schmerzlichen Enttäuschungen ausgesetzt.«
So schwer fielen seine Worte aus dem erschütterten Innern, daß Irmgard empfand, jeder Widerspruch müsse hier nur als taktlose Banalität wirken. Schweigend gingen sie ein Stückchen die spärlich erleuchtete und menschenleere Straße hinunter, bis er selbst wieder das Wort ergriff.
»Da mache ich Ihnen nun das Herz schwer, statt es mir von Ihnen erleichtern zu lassen. Erzählen Sie doch ein wenig! Sie wohnen noch nicht lange hier. Wo haben Sie früher gelebt?«
Sie waren beide, der reife Mann und das kaum den Kinderschuhen entwachsene Mädchen, in dieser seelischen Erregung, in der man alle Unterschiede vergißt, in der das verwundete Herz sich unwiderstehlich dem mitfühlenden Herzen entgegendrängt.
Die Angst selbst um Heinz gab Irmgards Worten Farbe und Wärme und ihrem Ton Innigkeit. Sie erzählte von dem herrlichen, freien Leben auf dem Lande. Bis zu ihrem vierzehnten Jahr hatte sie kaum die Stadt gesehen.
Die grünen Koppeln, auf denen sie jedes Pferd und jedes Rind kannte, der Wald, in dem sie die Vögel bei ihrem Nesterbau und das Wild in seinen Schlupfwinkeln belauschte, und die langen Winterabende, in denen das ganze bunte Leben in einer Lampe Lichtschein zusammenrückte und ein Gefühl glücklichen Geborgenseins sich entzündete, das in dieser Helligkeit und Wärme nur der naturnahe Mensch empfindet ... dies alles war ihre Welt gewesen.
In Guhnott rief ihre Erzählung verwandle Empfindungen wach. Er hatte ja selbst als Pastorensohn seine Kindheit auf einem Dorf verbracht. Zuerst hörte er nur aufmerksam und teilnehmend zu. Aber dann beschlich wundersame Freude sein Herz, da er fühlte, daß die dunkle Schwermut sich zerteilt hatte, und daß gleich einem Stück blauen Himmels aus zerrissenen Wolken die Erinnerung an eigene Jugendlust ihm entgegenlächelte.
Wie gut muß es sein, ein Kind zu haben, dachte er mit sehnsüchtigem Weh. Ein verjüngtes Du-Selbst! Ein Wesen, in dem ein Etwas mit Naturkraft zu dir hintreibt, weil ein Etwas von dir in ihm ist.
Er hatte einst mit zäher Liebe, mit Aufopferung selbst seiner pädagogischen Grundsätze sich die zu gewinnen gesucht, die seine Frau ihm mit in die Ehe gebracht hatte. Vergeblich! Nur hinterhältige Verschlossenheit oder offene Auflehnung waren sein Lohn gewesen, bis er es endlich aufgab, den ihm Wesensfremden sich zu nähern.
Wie eine dunkle Begleitung zu der hellen Melodie, die Irmgards Erzählen in seinem Seele ertönen ließ, raunten diese Gedanken. Aber das Helle überwog, die tauige Weichheit des sich lösenden Herzens, welches das Frühlingswunder junger Empfindungen erlebt.
Sie hatten sich Heinzens Wohnung auf Sehweite genähert. Irmgards Ton klang matter, ihre Worte wurden verworrener, schließlich schwieg sie ganz, während sie durch die Dunkelheit nach seinem um diese Zeit sonst stets erleuchteten Fenster hinaufstarrte und es nicht fand.
Plötzlich aber sagte sie:
»Ich habe eine große Bitte, Herr Geheimrat. Sie müssen mir helfen.«
Guhnott hatte von Heinzens Mensur schon flüchtig gehört. Jetzt aber verlangte er Genaueres zu wissen und ließ sich alles erzählen. Während sie beide im Schein einer Gaslaterne standen, konnte er nicht aufhören, ihren zitternden, herzentrungenen Worten zu lauschen, und sich von ihrem Anblick nicht losreißen.
Wie ihre Wangen glühten von einem Feuer heißer als Scham! Wie viel leidenschaftliche Hingabe aus ihrem großäugigen, dunklen Blick strahlte! Er dachte an den Glücklichen, dem dies Herz gehörte.
Und wie eines fernen Wetterleuchtens zuckende Flamme huschte eine Erinnerung in ihm auf, lautlos und jäh. Eine Empfindung mehr als eine Vorstellung von zweier blauer Augen hellem Strahlen, von einer weichen, hingerissenen Stimme süß törichtem Geflüster. Ihm hatte es gegolten ... einst, vor unwahrscheinlich langer Zeit.
»Gehen Sie getrost nach Haus! Ich werde mich um ihn kümmern,« sagte er. »Es soll ihm an nichts fehlen. Und wenn es nötig ist, nehme ich ihn zu mir in die Klinik.«
Er fühlte ihre schlanke Hand in seiner. Aber wie er nun, noch einmal sich umwendend, ihrem dankbar lächelnden Blick begegnete, da war es, als verschwände nicht sie im Dunkel, sondern eine andere ... lang, lang Vergessene.
Nun trat er ein. Wie seltsam es in dem alten Hause roch, nach verdorrtem Grün, nach vermodertem Holz und, stärker als nach beidem, nach begrabenem Glück. Und wie die alten Holzstiegen stöhnten und ächzten, als wäre jede ein Stück eingetrockneter Vergangenheit und möchte erzählen und mahnen und fände nur die Worte nicht ... Warum gerade jetzt diese tiefverschütteten Erinnerungen und das wehmütig süße Nachgefühl eines Erlebnisses, das einst um seine kahle Jugend den Blütenkranz der Liebe geschlungen hatte?
Er klingelte, aber auch ihm öffnete niemand. Da war es wie eine letzte, aufwachende Erinnerung an alte Zeiten, daß er nach dem Schlüssel suchte. Er gewahrte einen Schrank im Winkel des Flurs, auf dessen staubiges Dach er mühelos hinauflangte. Richtig, da lag auch der Schlüssel.
Die Schneidersleute waren auf eine Kirmse gezogen und hatten Heinz der Obhut einer alten Waschfrau empfohlen. Dieser aber waren aus der Nachbarschaft die Düfte von Zwiebelkuchen in die Nase gestiegen, die ihr weit lieblicher dünkten als der Karbolgeruch des Krankenzimmers, so daß sie sich bereits vor zwei Stunden empfohlen hatte, um »'n Häppchen frische Luft zu genießen«, wie sie sagte.
Auch Heinzens neuer Freund von den Zimbern, Peter Brandis, hatte ihn heute einer Fuchsturmpartie halber nicht besuchen können. So war denn der Kranke ganz sich selbst überlassen und litt an Durst und Fieber. Der glühende Durst erhöhte seine Temperatur, und das über 39 Grad erhitzte Blut ließ ihn fast verschmachten.
Diesen Zustand der Wehrlosigkeit benutzte seine alte, jetzt aber im Stich gelassene Freundin, die Philologie, um einmal tüchtig über ihn herzufallen. Das ganze Korps wurde mobilgemacht, Schulmagister, Universitätsprofessoren, Verfasser von Grammatiken, vor zweitausend Jahren begrabene Klassiker, ja selbst Wesen niederster Art, wie die Halbvokale des Indogermanischen, liquida sonans und nasalis sonans, schwirrten bedrohlich als ein vertrackter Gespenstertrupp um ihn herum, und Heinz wußte sich nicht anders zu helfen, als daß er – einbildungsweise – mit einem Säbel kräftig um sich schlug.
Als Professor Guhnott eintrat, nahm er auch diesen als einen von der anderen Fakultät, wollte aus dem Bett heraus und stracks auf ihn los.
»Was machen Sie denn? Bleiben Sie doch im Bett!« ertönte eine sonore Stimme. »Ich bin's. Professor Guhnott. Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen.«
Aber das war in der fast vollständigen Dunkelheit einigermaßen schwierig. Deshalb fragte Guhnott nach Streichhölzern. Da Heinz, der jetzt wieder aufrecht in seinem Bett saß, nicht gleich antwortete, suchte er selbst welche auf dem Nachttisch und entzündete eine Kerze.
»So – also wie steht's denn? 'n bißchen Fieber? Geben Sie mir mal die Männerhand!«
Einige Augenblicke herrschte Schweigen.
»Sie waren wohl einigermaßen erstaunt über den plötzlichen Besuch?«
Heinz, der den Geheimrat aus erregten Fieberaugen anstarrte, schüttelte nur lächelnd den Kopf.
»Nicht erstaunt? Wer, glauben Sie denn, hat mich geschickt? Meine Kinder? Nein. Jemand anders. Jemand, der Ihnen sehr gut ist. Raten Sie's? ... Jawohl, Fräulein Raumer. Na, sehen Sie, da freuen Sie sich. Aber nun möchte ich doch mal eine Lampe haben. Was ist denn das überhaupt für 'ne Wirtschaft, daß man Sie hier allein läßt? Die Lampe steht vermutlich in der Küche. Wo die ist, das weiß ich schon.«
Gleich darauf kam er mit einer brennenden Petroleumlampe wieder.
»So! Sie haben eine Säbelmensur gehabt. Was? Und 'nen tüchtigen Brusthieb bekommen. Den will ich mir jetzt mal ansehen. Bleiben Sie nur ruhig so sitzen! Die Hände können Sie getrost auf die Knie legen.«
Mit aufmerksamem Blick verfolgte Heinz, wie diese schlanken, weißen Hände mit den kurz geschnittenen Fingernägeln die langen Gazestreifen abwickelten.
»Nun können Sie sich lang hinlegen. Fassen Sie nur nicht die Wunde an mit Ihren Dreckfingern! Dreckfinger haben wir nämlich alle. Ich auch. Wenn ich mich immer sterilisieren wollte, hätte ich überhaupt keine Haut mehr.« Mit einem leichten Griff hob Guhnott das alkoholgetränkte Tuch ab.
»Seit wann ist denn der Verband gewechselt worden? Heute überhaupt noch nicht? So eine Schweinerei, 's gefällt mir nicht recht, wissen Sie. Das beste wird sein, ich schleife Sie gleich mit in die Klinik.«
»Und operieren mich?« fragte Heinz hastig.
»Nein, nein, so gefährlich ist die Geschichte nicht.«
»Ich möchte Sie dann nur bitten, mich lokal zu anästhesieren. Damit ich doch was sehe.«
»Na, das nennt man noch Wißbegierde. Ja, Sie haben so arg Lust, Doktor zu werden, aber kein Geld ... erzählte mir Fräulein Raumer. Stimmt's?«
»Es stimmt.«
»Was ist denn Ihr Vater?«
»Schulpedell. Ich hatte ja schon immer Lust zur Medizin, ließ es aber aus äußeren Gründen. Aber dann wurde es mir mal eines Tages klar ... und seitdem steht's fest, daß ich Arzt werde. Bombenfest!«
Guhnott lächelte unwillkürlich.
»Seit wann wurde Ihnen das denn klar?«
»Seit ... seit ich Sie operieren sah.«
So treuherzig kam das heraus. Wie eine schüchterne und doch starke Liebeserklärung klang es. Und Guhnott fühlte einen leisen Schauer, als griffe eine Hand ihm ans Herz.
»Da hätte ich Sie ja eigentlich auf dem Gewissen und wäre verpflichtet. Ihnen zu helfen? Was?«
»So habe ich es nicht gemeint.«
»Das weiß ich. Wir sprechen noch darüber. Jetzt sind Sie erst mal selber Patient.«
Er nahm die Lampe, um sie auf den Schreibtisch zu stellen. Dabei fiel sein Blick auf sein eigenes Bild. Es stand da, neben zwei andern, offenbar den Photographien der Eltern. Und wieder fühlte Guhnott das rätselhafte jähe Ergriffensein.
Während er das von Blutverlust und Fieber abgezehrte, scharfkantige, aber gut geschnittene Gesicht ansah, huschten wieder langverwehte Erinnerungen auf, und er dachte: Wenn damals das Schicksal oder meine eigene Schwäche mir die Geliebte nicht entrissen hätte, könnte ich auch einen Sohn haben wie diesen da!
Und dieser zuerst nur aufflatternde Gedanke warf sich über ihn wie ein Mantel und hüllte ihn in einen Augenblick selbstvergessenen, schmerzlichen Grübelns.
Aber dann war es der Arzt, der ihn wieder zur Besinnung rief.
»Also auf Wiedersehn!« sagte er. »Ich werde Ihnen schleunigst mein Auto herantelephonieren, das Sie in die Klinik bringen soll. Ich muß mich beeilen, sonst kriege ich Schelte von meiner Operationsschwester. Die brummt ohnehin immer, wenn's nach neune noch zu tun gibt.«