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Noch lange nach Mitternacht saß Guhnott am Fenster seines Schlafzimmers. Glühender Dampf wie aus einem Feuerkessel umbrodelte träge den Himmelsrand. In der Tiefe grollte es vom dröhnenden Rasseln der Elektrischen, vom harten metallischen Getön ihrer Glocken, indes die Autos mit pfeifendem Sausen den Asphalt zu zerreißen schienen. Aber die geduldige Erde jagte noch immer der unstete Menschenwille in Gier und Furcht. Aber aus der Höhe blinkte auf dunklem, nebligem Grund die stille Silbersaat der Sterne.
Auf das winzigste dieser Pünktchen hatte Guhnott den sehnsüchtigen Blick gerichtet, als müßte sein Geist aus der Lebenswirrnis in eine Ferne fliehen, die unausdenkbar ist.
Aber im nächsten Augenblick arbeitete dann sein Hirn wie ein harter Lastträger schon wieder an Plänen und Sorgen. Eine ungeheure Verantwortung war durch das Vermächtnis seiner Frau auf ihn gewälzt. Ein neues medizinisches Institut sollte erstehen. Bau, Einrichtung, Organisation, Leitung ... alles war seinen Händen anvertraut. Seinen müden Händen! Der so viele Menschenleben gerettet hatte, krankte nun selbst an den Menschen und beneidete den Tod um sein Handwerk.
Er ging die Schar seiner Assistenten und Schüler durch, ob niemand darunter sei, dem er die Erfüllung dieser Aufgabe übertragen konnte. Aber lag es an seiner düsteren Stimmung, war es wirklich so? Es gab genug, denen er die Tüchtigkeit und Intelligenz, nicht einen, dem er die Charakterreinheit zutraute. Sie war von anderm Schlag, diese junge Generation. Ihre Vertreter glichen alle diesem Doktor Tann: begabt und strebsam, von eisernem Fleiß, aber nicht minder eisernem Egoismus.
Wo gab es noch die selbstlose Aufopferung für den Dienst der Wissenschaft, wo waren unter den Jungen Männer, die sich als Helfer der Leidenden fühlten? Was sein Schönstes gewesen war, was ihm die Fülle der Kraft und seinem Leben den unendlichen Sinn gegeben hatte, der Glaube und die Freude an der Jugend, das war in ihm vernichtet. Früher, in seinen glücklichen Tagen, war er sich manchmal, wenn sein Blick über die dichtgefüllten Bänke seines amphitheatralischen Auditoriums schweifte, wie ein König, der über ein freudig folgendes Volk gebietet, vorgekommen. Jetzt löschte er von den Tafeln seiner Erinnerung einen Namen nach dem andern aus. Ein enttäuschter Mann, der am Zahltag sieht, daß sein Besitzstand wertlos ist.
Er erhob sich, und bei der Vorstellung, daß er nun die Kleider ablegen und sich im Bett ausstrecken würde, während er doch wußte, daß der Schlaf nicht kam, ergriff ihn neue Qual. So wurde schließlich alles zur Gewohnheit, ohne Sinn und Inhalt, ein Leben, das sich vom Tode nur durch die Friedlosigkeit unterschied.
Noch einmal ging er die Treppen hinunter in sein Arbeitszimmer und suchte alte Briefe seiner Frau hervor. Als der Fieberwahn die Sterbende in sein Elternhaus zurückversetzt hatte, da war auch ihm mit zauberischer Deutlichkeit jene Zeit wieder nahegerückt. Gleich einem lange verschollenen Freund hatte er sich selbst wieder gesehen, und es hatte ihn mit wehmütigem Glück erfüllt, zu wissen, daß er seine Frau wirklich geliebt hatte.
Nun las er die alten Briefe wieder, diese Briefe einer Dreißigjährigen, die noch immer ein Kind war, und immer deutlicher wurde ihm sein eigener Seelenzustand.
Während er diese teils versiegelten, teils mit Bändern verschnürten Papiere hervorholte, fiel ihm ein größeres Kuvert in die Hände, dessen Aufschrift nur in zwei Daten aus zwei aufeinander folgenden Jahren bestand. Was war darin? Er schnitt den Umschlag auf. Ein paar Briefe und eine Photographie glitten heraus. Er betrachtete diese und ließ sie sinken, während sein Blick sich von der Lampe weg ins Dunkel richtete.
Deutlicher als das verblaßte Stück Karton spiegelte seine erregte Seele das Bild des Mädchens wider, das unvermutet in sein Leben getreten war und ihm ihr Herz geschenkt hatte, wie Kinder wohl auf einen zueilen und rufen: »Das schenke ich dir,« und ehe man sich bedanken kann, sind sie schon wieder fort. Was für ein wundervoller, rätselhafter Mensch! Hatte sein kahles Leben, das bis dahin nur Arbeit und Entsagung kannte, mit allem geschmückt, was Jugend sich wünschen kann: mit Schönheit, Lachen und ihrer Küsse Seligkeit ... und keinen Dank verlangt. Er war willens gewesen, seine Zukunft mit ihr zu teilen, sie aber hatte es verschmäht.
»Du sollst nie Grund haben, deine Liebe zu bereuen,« hatte sie ihm geschrieben. Und wie sie aus dem Ungefähr ihm genaht war, so hatte sie sich lautlos, ohne Bitte, ohne Klage, wieder entfernt.
Was mochte aus ihr geworden sein? dachte Guhnott. Vielleicht war sie heute eine zermürbte, von Sorgen gefurchte Frau, wie er ein enttäuschter müder Mann war. Vielleicht erinnerte nichts mehr an sie als ein grünbewucherter Grabhügel ....
Wenn du aber noch unter den Lebenden weilst, Maria, so mögest auch du nie deine Liebe bereut haben. Mögen die Menschen dir deine Hochherzigkeit besser belohnt haben, als ich es konnte! Mögen Kinder, die dich liebhaben, deinem Alter Trost und Freude spenden! Sei gesegnet! Um deines reinen Herzens willen, das in diesem Augenblick noch dem Verschmachtenden wohltut, sei gesegnet! ...
Am nächsten Morgen, als der Frühnebel den Straßen noch ein nächtliches Aussehen gab, meldete der Diener, daß eine Frau den Geheimrat zu sprechen wünschte. Sie komme von außerhalb und habe sich nicht abweisen lassen.
Guhnott befahl, die Besucherin hereinzuschicken.
Eine Frau in mittleren Jahren trat in sein Zimmer. Sie trug ein graues Reisekleid und einen schwarzen, mit breiten Bändern unter dem rundlichen Kinn zugebundenen Kapotthut. In der Hand hatte sie eine flache, altmodische Sammettasche. Aus diesem einfachen, doch gut sitzenden Kleid, aus ihrem bescheidenen, aber nicht unfreien Auftreten konnte selbst sein tausendfach geübter Blick nicht gleich erkennen, welchem Stand sie angehörte. Nur wunderte es ihn, daß die Frau ihn so prüfend betrachtete. Sonst waren die Besucher meist befangene Objekte seiner Beobachtung.
Und nicht nur prüfend war ihr Ausdruck. Aus ihrem sympathischen Gesicht, das eine starke innere Erregung und die Spuren durchgemachter Strapazen, vielleicht infolge einer langen Reise, einer schlaflosen Nacht oder dergleichen, verriet, sprach ein so tiefer Ernst, etwas so eigentümlich Schweres, daß ihre ganze rundliche Gestalt dadurch einen Zug von Würde und Bedeutung erhielt.
Unwillkürlich rückte Guhnott ihr einen Stuhl hin, ehe er nach ihrem Namen fragte.
»Sie erinnern sich wohl meiner nicht mehr, Herr Professor?«
Er machte eine fragende Bewegung.
»Ich bin Frau Tann. Die Mutter von Heinz.«
»Dann habe ich ja auch wohl kaum den Vorzug gehabt,« erwiderte sich zurücklehnend Guhnott.
»Mein Sohn hat sich mit Ihrem Fräulein Tochter verlobt.«
»Mit meiner Stieftochter.«
»Er depeschierte es mir gestern. Da habe ich mich gleich auf die Bahn gesetzt. Meinen Sohn habe ich noch nicht gesehen. Erst möchte ich mit Ihnen mal sprechen. Was halten Sie von der Wahl? Ich glaube, das gibt nichts Gutes. Für keinen von beiden.«
»Meine Stieftochter ist mündig. Und mein Verhältnis zu ihr ist leider nicht so, daß ich auf ihre Entschlüsse Einfluß hätte. Sie müssen sich schon an die beiden selbst wenden.«
»Mein Jung' rennt mit offenen Augen ins Unglück. Davor möchte ich ihn bewahren.«
»Ja, ich kann Ihnen da nicht helfen,« erwiderte Guhnott mit einiger Ungeduld. »Ich will Ihnen sagen, daß ich sowohl mit meiner Stieftochter als auch mit Ihrem Sohn jede Verbindung abgebrochen habe.«
»Warum eigentlich mit Heinz?«
»Das bin ich jeden Augenblick bereit, ihm selbst zu sagen, Sie bitte ich, es mir zu ersparen.«
Frau Tann schüttelte unwillig den Kopf.
»Das klingt, als wenn mein Jung' was Schlechtes getan hätte. Und doch ist das gewiß und wahrhaftig nicht wahr. Kann ein Mensch sich wohl anständiger benehmen? Er sagt sich, daß er Ihrem Fräulein Tochter die Existenz verdankt, und nun, wo sie selbst mittellos dasteht, will er sie zum Dank heiraten. Dabei liebt er sie nicht, hat sie auch nie geliebt. Er will sich, wenn ich so sagen darf, direkt aufopfern.«
»So ganz Opferlamm ist er wohl nicht. Meine Tochter hat immerhin von ihrer Mutter ein beträchtliches Vermögen geerbt.«
»Wie, bitte? Ich denke, die Kinder sind enterbt?«
»Bis auf den Pflichtteil. Und der bedeutet immerhin eine sehr anständige Wohlhabenheit.«
»Ach! Was Sie sagen!«
Frau Tann legte ihre schwarz behandschuhte Hand an den Mund und blickte Guhnott mit einem Ausdruck äußerster Verwunderung an.
»Bestimmt?« fragte sie.
Guhnott nickte nur.
Sie schien noch immer ganz fassungslos, murmelte abgerissene Worte des Staunens und sagte plötzlich in freudigem Ton:
»Dann ist die Sache ja total anders. Das muß ich Heinz aber gleich mitteilen. Da wird ihm ein Stein vom Herzen fallen. Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber nun sehen Sie, was aus Mißverständnissen alles entstehen kann. Der Jung' hätte vielleicht erst nach der Hochzeit erfahren, daß sein Opfer gar nicht nötig war. Darf ich Ihnen mal was sagen? Ich glaube, das Fräulein, Ihre Stieftochter, ... die führt den Jungen ganz gehörig an der Nase herum.«
»Glauben Sie denn, er würde nun die Verlobung auflösen?«
»Wahrhaftigen Gott, das tut er!«
Guhnott machte nur eine skeptische Handbewegung.
Frau Tann wartete noch einen Augenblick, dann erhob sie sich.
»Ich danke Ihnen, Herr Professor. Dadurch ist ein großes Unglück verhütet. Nun möchte ich Sie nur noch um eins bitten,« sie zögerte, aber es mußte heraus, »was haben Sie gegen meinen Jungen?«
Guhnotts Blick hatte etwas grüblerisch Zweifelndes Was ihn bei dieser Frau so verwirrte, war derselbe Ausdruck von Ehrlichkeit, ja beinahe von Naivität, der ihm auch schon bei Heinz aufgefallen war. Aber er verschloß sich gewaltsam gegen diese Wirkung. Die Tatsachen sprachen zu klar, als daß ein bloßer Eindruck ihn hätte irremachen können.
»Ihrem Sohn werden Sie kaum was Neues sagen. Er weiß, wie die Verhältnisse liegen. Daß Margot keineswegs mittellos ist.«
»Von wem?«
»Von mir. Und hat sich darauf nicht bewogen gefühlt, die Verlobung aufzulösen.«
Über das eben noch freundliche Gesicht der Frau Tann flog etwas wie ein Gewitter von Zorn. Dieser jähe Wechsel war vielleicht das einzige, was verriet, daß sie eine Frau aus dem Volk war, daß sie jedenfalls ein unverbrauchtes, leidenschaftliches Temperament besaß.
»Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Professor. Was Sie und andere mit meinem Jungen angestellt haben, das weiß ich nicht. Wenn Sie aber behaupten wollen, er nähme Ihr Fräulein Tochter, weil sie Geld hat, und nicht gerade umgekehrt, weil sie arm ist, so sind Sie auf dem Holzweg. Das weiß ich besser und kann es Ihnen nötigenfalls beweisen. Und wenn Sie nicht so kalt und hart wie eben zu mir mit ihm gesprochen hätten, sondern ein bißchen gut und aus dem Herzen und überhaupt wie ein väterlicher Freund, dann hätte der Jung' Ihnen längst die Wahrheit gesagt, und Sie könnten glücklicher sein. Aber wenn einer so ist wie Sie, dann verdient er es nicht besser. Der arme Jung'! Was hat der ausgestanden und durchgemacht! Und dafür wird er noch verleumdet und womöglich als Mitgiftjäger hingestellt.«
Noch starrte Guhnott mit unbeweglichem Gesicht die Frau an, als mühte er unter der Hülle der Worte geheimen Hintersinn entdecken. Aber er fühlte, es drängte sich ihm fast gegen seinen Willen auf, daß sie nicht log, daß lautere Wahrheit aus ihr sprach.
»Sie erwähnten da etwas von Beweisen,« murmelte er zögernd. »Was für Beweise sollen das sein?«
»Dem Heinz seine Briefe. Da steht alles drin.«
Briefe? Briefe konnten gefälscht, konnten nachträglich zu einem bestimmten Zweck angefertigt sein ...
»Lesen kann ich sie immerhin,« murmelte er.
Er beobachtete Frau Tann, die langsam, wie in einem inneren Kampf, als zögerte sie, diesem mißtrauischen alten Mann ihr teuerstes Besitztum anzuvertrauen, den unförmigen Bügel ihrer Sammettasche öffnete und ihr ein dünnes Paket entnahm. Ihre Hände zitterten stark, als sie jetzt die Umhüllung von Seidenpapier erst glatt strich und auseinanderfaltete. Sie entnahm dem Inhalt, der aus einer ganzen Anzahl von Briefen bestand, nur drei, die sie ihm reichte. Dabei glitt ein vertrocknetes Blättchen zu Boden, das an dem Umschlag des einen geklebt haben mochte. Beide bückten sich danach. Guhnott hob es auf. Es war ein Kleeblatt ... Und blaß und scheinlos wie die Mondsichel am hellen Tag tauchte am Firmament seiner Seele die Erinnerung an einen Sommernachmittag auf, an Lerchensingen in blauer Luft, an prangende Kornfelder ... und er mit Maria hingelagert in tiefem Wiesengrün ... in der Hand ein Blättchen Glücksklee – das einzige, das er je gefunden.
Guhnott nahm die Briefe und sah prüfend die Umschläge an, einen nach dem andern.
»Ich kann mich nicht getäuscht haben,« flüsterte er. »Sein Verhalten war ja sonnenklar.«
»Sie haben sich doch getäuscht, Herr Professor.«
»Wenn Sie mir das beweisen, dann ... Ich hatte Ihren Sohn wirklich lieb. Wie meinen Sohn.«
Beide hatten sich wieder gesetzt.
Wie ein vom Durst vertrockneter Gaumen den kühlen Trank zuerst kaum schmeckt, sondern sich in einer Art von Krampf zusammenschließt, so verschloß auch Guhnott sich anfangs gegen die Wahrheit, die doch wie helles Sonnenlicht in seine dunkle Seele drang.
Den ersten Brief hatte Heinz etwa eine Woche nach seiner Abreise aus Oberhof geschrieben. Er teilte darin seiner Mutter mit, daß Frau Raumer ihm sein Ehrenwort abgenommen habe, nie wieder mit Irmgard in Verbindung zu treten, daß er sich deshalb an Guhnott gewandt habe, ohne indes eine Antwort zu bekommen.
Im zweiten beklagte er sich über die ihm von Frau Guhnott aufgedrängten Geschenke, die schroff zurückzuweisen ihm doch wieder unmöglich erschien.
Der dritte war vom vorgestrigen Tag, worin stand, daß er Margot für mittellos hielt und es als eine Pflicht der Dankbarkeit betrachtete, in Zukunft für sie zu sorgen.
Aber es waren nicht eigentlich diese Tatsachen, die Guhnott so erschütterten. Es war der Ton von Innigkeit und Liebe, der mit seinen sanften Wellen in sein Herz drang. Noch einmal wallte der Schmerz über das, was seine eigenen Kinder ihm angetan hatten, in seiner ganzen Furchtbarkeit auf. Wie einsam und arm an Glück sein Leben hingegangen war, empfand er nun erst ganz.
Er hatte sich vornübergebeugt und den Kopf geneigt, als wenn er noch immer lese. Wer Frau Tann sah, wie seine Augen hin und her gingen gleich wankenden, matten Wanderern, die unauffindbaren Dingen nachirren ... bis sie stille standen, düster, hoffnungslos.
Alles, was an gekränkter Mutterliebe und beleidigtem Stolz ihr einen Augenblick lang feindselige Empfindungen eingeflößt hatte, versank jetzt unter einer tiefen Ergriffenheit. Sie sah die gefurchte Stirn und das grau gewordene Haupt, auf das sie, als es jung gewesen, Küsse leidenschaftlicher Hingebung gedrückt hatte, und etwas von der blinden, heißen Liebeskraft, vor deren Feuer damals alle Bedenken zerschmolzen waren, lebte auch jetzt noch in dem mütterlichen Mitgefühl, das sie für ihn empfand.
Sie war entschlossen gewesen, fortzugehen, ohne die Vergangenheit mit einem Wort zu erwähnen. Nun wußte sie, daß sie alles sagen würde. Nicht um ihres Sohnes, um dieses alten Mannes willen.
Guhnott hatte sich erhoben. Mit schwerem, wuchtendem Gang schritt er durchs Zimmer, kam dann auf sie zu und stand hochaufgerichtet vor ihr, während er ihr die Hand entgegenstreckte.
»Sie hatten recht. Ich muß Ihren Sohn um Verzeihung bitten. Er hat mich nicht getäuscht. Das haben meine eigenen Kinder getan. Und – auch durch meine eigene Schuld ist es geschehen,« fügte er hinzu, während er seiner Leidenschaft zu Irmgard gedachte, die seinen Blick getrübt hatte. »Heinz erwähnt einen Brief, den er an mich geschrieben hat. Ich habe ihn nie bekommen. Auch das wird sich wohl noch aufklären. Ich will versuchen gutzumachen, was sich gutmachen läßt, wenn Ihr Sohn seine alten freundschaftlichen Empfindungen gegen mich noch nicht gänzlich aufgegeben hat.«
»Das hat er gewiß nicht getan.«
»Warum sind Sie nicht früher gekommen, Frau Tann? Vieles wäre dann nicht geschehen.«
»Es ist ja immer noch früh genug. Und dann – ja, mein Mann und ich, wir haben auch immer gedacht, Sie müßten doch einmal von selbst drauf kommen.«
»Worauf denn?«
»Kennen Sie mich wirklich nicht mehr?«
»Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis. Aber es kommen jahraus, jahrein so viele Hunderte Kranke zu mir.«
»Nicht an Ihre Kranken müssen Sie denken.«
Es war ihr weiches Lächeln, das um ihre Züge etwas von der Mädchenanmut von einstmals wob – was die seit gestern abend in seinem Innern auftauchenden Erinnerungen jetzt mit einemmal zu einem klaren Gebilde kristallisierte.
Ein einziges Wort, ihr Vorname, kam flüsternd von seinen Lippen. Sie nickte nur.
»Und Heinz?«
»Ja – das war ja das Bitterste für den Jung', daß sein eigener Vater ihn von sich stieß. Aber nun ist alles gut.«
Sie verharrten beide in der Erstarrung dieses tiefsten Schweigens, das den Rhythmus des Lebens unterbricht und den Herzschlag aussetzen läßt, wenn das Schicksal selbst aus seinem ewigen Dunkel wie eine körperhafte Erscheinung hervortritt, um tiefstes Leid oder ein fassungsloses Glück über den Menschen zu verhängen.
Als er endlich mit unsicherer Bewegung einige Schritte machte, wie wenn er irgendwo Halt suchte, ergriff sie sanft seine Hand und führte ihn zu einem Stuhl.
»Setz' dich! Ich will dir alles erzählen.«