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26.

Was Heinz seit seiner Trennung vom Elternhaus erlebt und erlitten, die Menschen, die von seinem Herzen Besitz ergriffen und ihre Spuren darin hinterlassen: alles drängte in dieser Nacht auf ihn ein. Wieder leuchteten unter blauem Himmel die roten Blüten der Rosenlaube, noch einmal streckte Frau Raumer ihre Hand nach ihm aus und schlug ihn mit Worten blutig. Von neuem empfand er das zitternde Hochgefühl, da ihm zum erstenmal sein Vater und zugleich sein eigener zukünftiger Beruf entgegengetreten waren, und er spürte auch den tiefen, betäubenden Sturz, als jener ihn von sich gestoßen hatte. Aber den Mittelpunkt dieses unruhigen Nachtgemäldes bildete Margots rätselhaftes Gesicht. Immer wieder kehrten seine Gedanken, von anderen Eindrücken gleichsam fortgelockt, in jähem Schreck zu ihr zurück. Und die dunkle Sorge um ihr Schicksal rauschte durch seine Seele wie der Sturm durch die Wipfel eines Baumes.

Mit dem ersten Hellwerden erhob er sich. Er wußte, es war ganz zwecklos, sich jetzt nach dem Guhnottschen Hause zu begeben, und dennoch trieb ein unerklärlicher Drang ihn dorthin.

Allmählich wurde das Morgengrauen farbiger, und endlich erglänzte der rosige Goldton der Sonne in seinem schmalen Zimmer.

Da dachte er, daß, was auch immer kommen mochte, der heutige Tag über sein Leben entscheiden würde. Über sein Leben? Nein! sagte er sich und fühlte in diesem Augenblick, daß seine Persönlichkeit sich ausgewachsen hatte und weder umzuformen noch zu entwurzeln war.

Aber es handelte sich um sein Glück. Sein Glück ...? Hatte er nicht so viel Schmerzliches durchgemacht, daß er gegen alles Unglück gefeit, aber auch nicht mehr fähig war, ein ganzes reines Glücksgefühl in sich aufzubringen?

Er schloß die Augen, als müßte von innen her etwas die Frage beantworten. Da ... vielleicht war es einfach eine Reflexwirkung des Sonnenlichts ... gewahrte er einen leuchtenden grünen Fleck, aus dem eine Wiese wurde, durch die ein silbern glänzender und tönender Bach sich schlängelte. Und das helle Gemurmel stellte die einfache Frage: Was wäre die ganze Wiese ohne mich?

Zugleich dachte er an Irmgard und fühlte, wie erwartungsvolle Freude in sein Herz eindrang durch weit offene Türen. Von da an vermochte die Sorge um die andere dies helle Gefühl nicht mehr zu verfinstern.

Selbst in dem Augenblick, als die Wirtin ihm Margots Brief hereinbrachte und sein Gesicht sich verfärbte und sein Atem stockte, da er, ohne das Schreiben geöffnet zu haben, wußte, was geschehen war, selbst in diesem Augenblick erlosch die Freude nicht ganz, sondern verbarg sich nur.

Er fuhr sofort in die Blücherstraße, ließ die Wohnung öffnen und fand die Tote angekleidet auf dem Bett liegen. Einen Revolver, den er selbst noch mit ihr eingeschossen hatte, hielt sie in der erkalteten Hand.

Er ließ, telephonisch Viktor herbeirufen und fuhr dann nach dem Guhnottschen Haus, um dem Geheimrat das Geschehene mitzuteilen.

Hier aber empfing ihn seine Mutter und führte ihn zu seinem Vater. Und was Heinz sich einst in vermessenem Jugendehrgeiz geträumt hatte, das wurde ihm nun zur erschütternden Wahrheit. Nicht wie ein Bittender nahte er dem mächtigen Mann, sondern dieser streckte sehnsüchtig die Hände nach ihm aus und preßte sein junges Leben an sich, aus dem ihm alles Gute des Lebens, was er verloren wähnte, entgegenströmte. Dem Sohn viel Unrecht, viel Leid und wenig Liebe zuzufügen, war ihm beschieden gewesen. Aber in einem hatte das Schicksal sich gnädig gezeigt. Und als er daran dachte, segnete er die alten Schmerzen.

Noch war die Sonne dieses ereignisreichen Tages nicht untergegangen, als Heinz auch Irmgard wiedersah. Und auch ihr Finden war nicht ein selbstherrliches Ergreifen des Glücks, sondern ein ehrfürchtiges, dankbares Hinnehmen.

Alle, die an diesem Abend in der Guhnottschen Wohnung zusammensaßen, Frau Tann und Guhnott, Irmgard und Heinz, und zwischen langen Pausen des Schweigens mit gleichgültig klingenden Worten die Vergangenheit nur leise berührten, sprachen und schwiegen unter der Wucht eines unnennbaren Gefühls, gleich Menschen, die am brandenden Meer sitzen und sich nur durch undeutliche Zeichen verständigen, da das Meer ihre Stimmen verschlingt. Es war nicht die Tote allein, die sie bedrückte. Es war etwas Größeres, das Tod und Leben in sich schloß. Sie hörten das Rauschen des Schicksalstromes, auf dem die winzige Barke des einzelnen dahintanzt, unbestimmbaren Gewalten hingegeben, von denen keine so beherrschend, keine so unabänderlich ist wie das eigene Herz.

Diesem Kampf mit ihrem tyrannischen Herzen war auch Margot erlegen. Heinz verbrachte die Nacht an ihrem Totenbett. Er ahnte jetzt, was ihre Worte zu bedeuten hatten: im Guten wie im Bösen. Aber was sie auch immer getan haben mochte, niemandem hatte sie Schlimmeres zugefügt und Größeres geraubt als sich selbst. Er wollte sich nur des Guten erinnern, das er ihr zu danken hatte. Ein heißes Mitgefühl blieb in ihm zurück und ein tiefer Schmerz, daß er ihr in dem Kampf, den sie in der Verborgenheit ihrer Brust geführt, nicht hatte helfen können.

Daß aber das Leben den Lebendigen gehört und nicht den Toten, zeigten schon die nächsten Tage.

Es war Guhnotts Wunsch, den alten Tann kennen zu lernen und ihm zu danken.

Das war nun geschehen, und an diesem schönen, stillen Sommerabend saßen die beiden Männer vertraulich miteinander auf einer Bank, wo sie unter sich die kleine Stadt und vor sich die grüne Waldwand hatten. So verschieden waren sie durch ihre Leistungen und ihre Stellung in der Welt. Wer Guhnott fragte sich immer wieder: welches Leben denn eigentlich das reichere gewesen war?

Frau Tann hatte ihm ihren Mann beschreiben müssen und hatte geantwortet: »Was soll ich von ihm sagen?« Er ist eben ein guter Mann. Der nicht anders kann als das Gute tun. Wenn er ein krankes Vögelchen sieht, nimmt er es auf und pflegt es. Wenn er ein wüstes Stück Land sieht, bebaut er es und macht einen Garten daraus. So hat er es auch mit mir gemacht und mit dem Jungen.«

Nach der Allerweltsmeinung hatte sein Lebenswerk darin bestanden, Klassenzimmer zu reinigen und Öfen zu heizen. Kein Nachruf würde das stille Wirken aufbewahren, das eigentlich seines Lebens Inhalt gewesen war. Und doch schien Guhnott die Leistung dieses Mannes beneidenswert und nicht weniger groß und beglückend als seine eigene Arbeit. So gern hatte er ihm seine Dankbarkeit gezeigt. Aber er fühlte, er hatte nichts zu geben, was an sein Tun herangereicht hätte.

Heinz und Irmgard waren mit der Mutter weitergegangen bis zu der Stelle, wo eine Lichtung den Blick ins Waldtal freigab. Dort wuchs aus tiefem Grund Heinzens Tanne empor.

Als sie sich nun aber lagern wollten, bemerkten sie, daß die Mutter hinter ihnen zurückgeblieben war. Sie winkte ihnen und rief: »Ich gehe zu den Alten. Bleibt ihr nur eine Welle unter euch.«

Da färbte ein roter Schimmer Irmgards Wangen, während sie beglückt auflachte.

»Die gute Mutter! Und wie jung sie noch ist.«

Heinz aber schloß Irmgard in seine Arme.

Was er in diesem Augenblick empfand, war so klar wie ein Quell, wenn auch nicht gleich mit Worten auszudrücken.

Eben hatte er noch gedacht: So rosig wie einst in den Tagen, als sie unter der Laube sich küßten, sei seiner Liebsten Seelenfarbe nicht mehr. Sie trage jetzt das ernste, schöne, den Wechsel der Jahreszeiten überdauernde Grün der Tannen. Nun aber beglückte es ihn hoch, als er Irmgards Lachen vernahm, das silberne Lachen von einst ... schöner noch als einst, mit jenem goldenen, warmen Unterton von Güte, der aus dem Lachen seiner Mutter klang.

 


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