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Am nächsten Morgen kam Guhnott in das Schlafzimmer seiner Frau, um sie zu fragen, ob sie etwas Näheres über die Abreise des jungen Tann wisse.
Frau Guhnott, die sich gerade von der Jungfer frisieren ließ, erhob ihr rosiges, von einer kaum sichtbaren Puderschicht bedecktes Gesicht und streckte ihrem Mann lächelnd die Hand entgegen.
»Guten Morgen, mein Schatz, wie hast du geschlafen? Ich habe prachtvoll geschlafen. Ich habe gestern abend versucht, noch ein bißchen zu lesen, aber das Buch ist so angenehm, so wohltuend, mir fielen schon nach zwei Seiten die Augen zu. Und dann hatte ich noch einen sehr komischen Traum. Aber leider weiß ich ihn nicht mehr. Sonst hätte Frau Raumer ihn mir deuten müssen. Natürlich glaube ich nicht an den Unsinn. Aber es macht doch Spaß ... Aber heute in der Früh fiel mir etwas ein, was ich dir gleich erzählen wollte. Was war es doch nur? Warte mal! Ach ja! Solche Kissen, wie unten im Musikzimmer sind, die paßten eigentlich recht gut in meinen Salon. Ich werde mich mal nach der Adresse erkundigen. Eine Münchener Dame soll sie entworfen haben. Sie sind ja ein bißchen bunt. Aber das Bunte ist heute doch modern. Und du, Schatz, hast du auch gut geschlafen?«
Guhnott nickte nur und fuhr fort, seine Frau zu beobachten. In der Morgenfrühe, wenn ihr Gesicht und ihre Augen noch frisch und klar von der Ruhe der Nacht waren, erschien sie ihm immer am reizendsten. Am meisten erinnerte sie ihn dann an die Zeit, als er sie im Hause seines Vaters behandelt und sich in sie verliebt hatte. Sie war voller geworden im Lauf der Jahre, ihre Züge hatten dem oberflächlichen Blick gegenüber an Feinheit verloren, aber unter dieser etwas ausdruckslosen Schicht von Behäbigkeit entdeckte er noch immer das feine und anmutige Gesicht von damals. Das Gesicht eines lieben, verwöhnten Kindes eigentlich, dem bisher alles nach Wunsch gegangen war.
Als die Jungfer hinausgegangen war, sagte er:
»Weißt du, daß Tann heute in der Früh abgereist ist?«
Frau Guhnott, die eben ihre Ringe an die Finger steckte, machte nur ein halb erstauntes, halb bedauerndes »Ach!«
»Weißt du's noch nicht?«
»Doch. Anna hat mir's vorhin erzählt.«
»Er hat mir einen Brief hinterlassen. Ich soll euch alle grüßen. Wie er schrieb, hat er irgendeine beunruhigende Nachricht erhalten.«
»Ja. Seine Mutter ist plötzlich krank geworden.«
»So? Davon weiß ich nichts. Übrigens fragte ich vorhin den Portier. Der behauptete, er hätte gar keinen Brief und auch kein Telegramm bekommen.«
»Der arme Junge! Gewiß ist ihm der Abschied recht schwer geworden. Ich habe schon gedacht, ich werde ihm eine goldene Uhr schenken.«
»Wenn seine Mutter wirklich krank ist, wird er dafür wenig Sinn haben.«
»Es ist doch ein kleiner Trost. Hast du noch ein bißchen Zeit?«
»Was möchtest du denn?«
»Ich wollte schon immer mal mit dir über Viktor sprechen. Du mußt nicht gar so streng gegen ihn sein.«
»Die Geschichte mit der Doktorarbeit war doch ein unglaublicher Streich! Ich finde, du bist viel zu leicht darüber weggegangen.«
»Gewiß, es war nicht hübsch. Aber er hat's doch nun mal so schwer im Leben.«
»Nein, mein Kind, er hat's leichter als zahllose andere. Er hat nie ernsthafte Sorgen kennen gelernt. Glaub' mir, meine Strenge ist ihm viel förderlicher als deine ewige Nachsicht. Wenn man ihm nicht beibringt, daß man nur durch ernste Arbeit zu was kommt, dann wird nie was aus ihm. Und dabei noch dieser unglaubliche Hochmut. Worauf eigentlich? Auf dein Geld! Da liegt die Quelle alles Übels. Entzieh ihm seinen Wechsel, sag' ihm, er soll sich selbst weiter helfen, das wäre für ihn die beste Kur.«
»Das wäre entsetzlich!« erwiderte Frau Guhnott. »Da würde er einfach zugrundegehen, so weich und zart, wie er ist. Er braucht einen Halt. Darum wäre es das Beste, wenn er heiratete.«
Der Professor fuhr sich erstaunt durch den Bart.
»Vielleicht. Aber findest du nicht, daß es eigentlich ein ziemlich starkes Ansinnen an ein junges Mädchen ist, so gewissermaßen als Erzieherin ihres Mannes zu fungieren?«
»Dabei finde ich nichts. Denn er bietet ihr dafür doch auch alle möglichen Vorteile. Natürlich wäre die erste Voraussetzung, daß Viktor die Betreffende auch mag.«
»Hat er denn nach der Richtung schon ...«
»Ja. Er ist sterblich verliebt.«
Der Professor lachte aus.
»Viktor verliebt! In jemand anders als sich selbst?«
»Alle anderen Voraussetzungen stimmen auch, so gut, wie man sich 's nur wünschen kann. Frau Raumer und ich haben die Sache gestern lang und breit verhandelt ...«
»Entschuldige, was hat denn Frau Raumer damit zu tun?«
»Um ihre Tochter handelt es sich doch.«
»Um Irmgard? Schade! Ja, das ist gewiß ein ganz vortreffliches Mädchen. Aber sie wird ihn nicht nehmen.«
»Warum nicht? Eine vorteilhaftere Partie kann sie doch kaum machen.«
»Ja ... ja,« erwiderte Guhnott, der seiner Frau nicht weh tun wollte, etwas verlegen. »Gewiß, von deinem Standpunkt hast du ganz recht. Nur fürchte ich ... mich gehen ja die Geschichten nichts an. Aber ... ich glaube, daß Irmgard ihr Herz schon vergeben hat?«
»Das darf man doch nicht so tragisch nehmen.«
»Es wäre aber doch unangenehm, wenn Viktor sich einen Korb holte.«
»Das wäre entsetzlich! So weit ist die Sache ja auch noch nicht. Die Hauptsache ist einstweilen, daß wir Alten uns einig sind.«
»Kind, Kind, du meinst es gewiß gut. Aber ich fürchte, du brockst deinem Jungen eine böse Suppe ein. Ich mische mich ja nicht in die Angelegenheiten der jungen Leute, aber so viel ist doch klar, daß Irmgard und Heinz bis über die Ohren ineinander verliebt sind.«
»Das war allerdings ein Hindernis. Aber Heinz scheidet doch nun aus.«
»Wieso?«
»Weil er abgereist ist.«
»Ich versteh' nicht.«
Frau Guhnott merkte, daß sie sich verschnappt hatte. Sie schämte sich ein bißchen, aber mehr noch war sie froh, nun ihr Geheimnis nicht für sich behalten zu müssen.
»Ach Gott, die Sache ist doch sehr einfach,« sagte sie lächelnd. »Frau Raumer hat gestern abend mit Heinz gesprochen und hat wohl so allerhand durchblicken lassen. Und Heinz hat eingesehen, daß er gegen mich und indirekt doch auch gegen Viktor große Verpflichtungen hat, während seine Sache ganz aussichtslos steht ... da hat er eben die Konsequenzen gezogen und ist heute abgereist. Ich finde das sehr nett und anständig von ihm.«
Guhnott hatte seine Frau groß angesehen, senkte dann aber den Kopf, während Scham und brennender Zorn in sein Gesicht stiegen.
»Sag' einmal ehrlich: findest du das wirklich nett und anständig?«
»Aber ja! Man freut sich doch, wenn man einmal Dankbarkeit in der Weit findet. Das ist doch etwas so Seltenes.«
»Dankbarkeit? Dankbarkeit? Wenn man für Geld, für ein paar lumpige tausend Mark einen geliebten Menschen verrät?«
»Ach du!«
In Frau Guhnotts Augen begannen sich Tränen zu sammeln. Den Professor ergriff eine nervöse Unruhe. Er konnte seine Frau nicht weinen sehen.
»Berta, laß uns doch ruhig sprechen! Wie steht die Sache denn? Die beiden haben sich lieb. Ihre Heirat liegt noch in weiter Ferne. Aber am Ende, warum sollen sie sich nicht kriegen? Nun kommst du dazwischen ... du oder Frau Raumer, das ist doch eins ... und sagst zu Heinz: Ich habe dir die Mittel zum Studium gewährt, dafür mußt du auf das Mädchen verzichten, damit mein Sohn es bekommt. Irmgard wird nicht gefragt. Wie eine Ware verschachert ihr sie. Und ihn ... ihn habt ihr über Nacht aus einem ehrlichen, aufrechten Menschen zu einem gemeinen Schuft gemacht.«
Ganze Güsse von Tränen stürzten jetzt über Frau Guhnotts verschwollenes und gerötetes Gesicht.
»Was habe ich denn getan?« schrie sie, »daß du mich so beschimpfst? Frag' doch nur eine andere Frau, frag' irgendeine Mutter, ob sie nicht dasselbe für ihren Sohn tun würde! Aber du hast Viktor ja nie liebgehabt. Du hast gesagt, du willst sein Vater sein, aber innerlich hast du ihn immer gehaßt. Das Schlechteste hast du ihm gewünscht.«
Ihr Mann versuchte sie zu unterbrechen. Aber sie schrie ihn nur noch lauter an.
»Ja! Doch! Du hast es ja eben selbst gesagt. Er müßte mal gänzlich mittellos dastehen. Das ist deine Liebe zu ihm. Und mir verdrehst du nur die Worte im Mund. Nie im Leben habe ich gesagt, daß Heinz Irmgard verschachern soll. Im Gegenteil! Frau Raumer war für die äußerste Strenge. Da habe ich sie noch um Schonung gebeten. Du aber verdrehst alles ins Gemeine. Nur damit Viktor das Mädchen, das er liebt, nicht bekommt.«
»Leb' wohl!« sagte Guhnott. »Sei nicht böse, aber ich kann es einfach nicht ertragen.«
»Leb' wohl,« schluchzte sie. »Geh nicht fort! Geh nicht!«
Sie streckte die Arme nach ihm aus, als er aber doch zur Tür schritt, warf sie sich lang auf das Sofa.
»Ach, ich Unglückliche! Ich und Menschen zugrundrichten! Ich, die es so gut meint! Was habe ich denn getan?«
Guhnott wendete sich noch einmal um und legte seiner Frau die Hand auf den zuckenden Kopf. Grübelnd starrte er vor sich hin.
Ja, sie meint es gut, dachte er. Aber ihr ganzes Denken steht im Schatten ihres Geldsacks. Damit hat sie alles ruiniert. Diesen jungen Menschen, ihre Kinder und das Glück unserer Ehe.
Vor dem Hotel schnallte Guhnott die Skier an und schlug die Richtung nach dem Wald ein. Aus der Tiefe leuchteten die bunten Gestalten der Schlittschuhläufer. Von der Chaussee klang das Bimmeln der Schlittenglocken und das fröhliche Geschrei der Fahrer auf den Lenkrodeln.
Vor ihm wand sich ein schmaler, weißer Weg bergan, zu dessen Seiten hohe Tannen ragten, stolze, geduldige Lastträger. Wohl war da und dort ein schwacher Stamm niedergebogen, aber die meisten standen aufrecht und fest, als wüßten sie, daß, was sie jetzt fast erdrückte, über eine Zeit von ihnen abfallen und als süßes Wasser ihren Wurzeln neue Kraft und ihren Zweigen frisches Grün spenden würde.
Lange Zeit war Guhnott rücksichtslos vorwärts geeilt. Nun starrte er auf den Weg, der sich noch immer wand, ohne, wie es schien, zu einem Ziel zu führen. Kein menschlicher Fuß hatte den Schnee berührt, nur Wildspuren waren ihm oberflächlich aufgedrückt. Im Walddickicht regte sich nichts Lebendiges, kein Vogel, kein Getier, keine murmelnde Quelle. Da schlug er mit seinem Stock gegen einen Zweig. Schnee stäubte herunter. Der Zweig stand dunkel in der dünnen, blauen Lust und schien zu fragen: Warum? Warum setzest du mich nackt und bloß der scharfen Kälte aus?
Wieder starrte Guhnott vor sich hin. Ohne es zu merken, verlor er das Bewußtsein seiner Umgebung, während er völlig in sein Inneres versank. Hartnäckig wiederholte er sich: Ich habe kein Recht, mich zu beklagen. Ich habe viel erreicht. Und er zählte nach der Reihe eine Menge Tatsachen auf, die das bestätigten. Aber die Stimme, die er damit mundtot machen wollte, flüsterte immer eindringlicher, daß er bei alledem nicht glücklich geworden sei, daß er in seinen menschlichen Beziehungen Schiffbruch gelitten habe.
Und endlich hatte diese Stimme sich losgerungen und sprach mit triumphierendem Übertönen:
Was der Professor Guhnott auch erreicht haben mag ... als Mensch stehst du arm und verlassen da. Deine Kinder hassen dich. Deine Frau ist dir ewig fremd geblieben. Deine Ehe war nie eine Ehe.
Wie ein Symbol, das sich erst nach Jahren bewahrheiten sollte, klang noch immer das erste Wort in ihm nach, das er über die Frau, die später seine Gattin werden sollte, vernommen hatte.
Als er einmal zu Weihnachten wieder in sein Elternhaus gekommen war, hatte sein Vater, der biderbe, aber so kluge Landpastor, ihn mit den Worten begrüßt:
»Gut, daß du kommst. Wir haben oben ein fremdes schönes Vögelchen liegen. Flügellahm. Da kannst du deine Kunst zeigen.«
Der fremde Vogel war die Witwe des Regierungsrats Brunner, die ihren bei der Pastorenfamilie in Pension befindlichen Sohn besucht hatte und erkrankt war.
Doktor Guhnott vollzog eine Operation an ihr, die sie von einem lange verschleppten Übel befreite.
Die junge Witwe aber, die gleich einer zu Köhlersleuten verirrten Prinzessin in aller ihrer Eleganz und Verwöhntheit das schlichte Zimmer des Pfarrhauses hütete, verliebte sich sterblich in ihren Arzt.
Er merkte es zuerst kaum. Sein Herz litt noch an alter Liebeswunde. Und er wollte nur Arzt sein, einzig seiner Wissenschaft leben. Die Einnahmen aus seiner Praxis sollten ihm ermöglichen, die wegen seiner Mittellosigkeit fallen gelassene Universitätslaufbahn einzuschlagen.
Bis er eines Tages sich dann doch rettungslos in das Labyrinth der Launen und Koketterien seiner reizenden Patientin verlor. Oder hatte auch die Aussicht auf ihr fabelhaftes Vermögen, das seinen mühsam verfolgten Plan im Handumdrehen verwirklichte, ihn bestochen? Wenn man ihn unter seinem Eid vernommen hätte, er hätte keine klare Auskunft über seinen Gemütszustand geben können. Genug, er überhörte die wohlmeinende Warnung seines Vaters: ob dies blonde Geschöpf mit dem leichten Vogelseelchen auch die rechte Frau für ihn sei ... und eines Tages war er verlobt.
Sie aber, die schlaue Törin, hatte ihr Geld von vornherein in die Wagschale geworfen. Und nur allzubald kam die Stunde, wo sie, in einem Anfall von Eifersucht, ihm vorwarf, daß ihr Vermögen wohl nicht ohne Einfluß auf seine Liebe gewesen sei, und daß er seine glänzende Laufbahn eigentlich ihrer Unterstützung verdanke.
Seitdem ging ein Bruch durch die Ehe, der sich trotz des scheinbar harmonischen Zusammenlebens in der Tiefe immer mehr erweiterte. Denn Guhnott spürte, daß dieser Glaube an das Geld, seiner Frau seit Generationen vielleicht vererbt, unzerstörbar in ihr fortwirkte. Er brachte wiederholt das Opfer, um ihre fast krankhafte Eifersucht zu schonen, auf den Verkehr mit einer Frau, die ihm gefiel, zu verzichten, auch wenn dieser Umgang ganz harmlos war. Er bestand darauf, daß der Haushalt von seinen Einnahmen, die bald die Höhe ihrer Zinsen erreichten, bestritten wurde. Sie hielt trotz allem fest an ihrem alten Glauben und pochte nicht auf seine Liebe, sondern auf das, was sie ihr Recht auf Dankbarkeit nannte.
Und unheimlicher noch als bei seiner Frau fühlte er die Macht des Geldsacks bei seinen Kindern. Es war geradezu, als wenn die drei in einer fremden Religion zusammengeschlossen wären, die ihm, je mehr ihn das Leben ihre alles umspannende Verbreitung lehrte, desto tiefere Verachtung und zornigeren Haß einflößte.
Darum hatte der Fall des jungen Tann ihn so in der Tiefe erregt. War dessen Schicksal, von dem seinen gänzlich verschieden, ihm dennoch nicht so ähnlich? Heinz war der Versuchung jämmerlich erlegen. Hatte um seiner gesicherten Existenz willen die Geliebte und den väterlichen Freund schmählich verraten.
Und Guhnott hatte ihn geliebt, mit dieser unerklärlichen Sympathie, die uns zwingt, unter Tausenden von Menschen gerade auf einen bestimmten unser Herz zu werfen, wie ein Sonnenstrahl sich unter unzähligen Glassplittern einen einzelnen aussucht, um ihn wie einen Diamant blitzen zu lassen.
Arme Irmgard, dachte er. Mir altem Mann tobt das Herz in Scham und Empörung. Aber das ihre kann darüber zerbrechen.
Als wenn das Bewußtsein, helfen zu können, ihn aus seinem starren Schmerz erlöste, drehte er um und fuhr eilig talwärts.
Schon vor dem Hotel eilte sie auf ihn zu, mit fahlem Gesicht und bläulichen Lippen.
»Ich hab' auf dich gewartet, Onkel. Ich muß dich sprechen. Du hast doch Zeit?«
»Gewiß, Kind.«
In einem Schuppen legte er seine Schneeschuhe ab, hing seinen Mantel um und wies auf eine menschenleere Nebenstraße.
»Warum ist Heinz fort, Onkel?«
»Hat deine Mutter dir's nicht gesagt?«
»Was Mutter sagt, ist alles gelogen. Ich glaube ihr kein Wort.«
»Welchen Grund hat sie denn angegeben?«
»Das sage ich nicht. Das ist alles so gemein und hinterlistig. Und auch Heinz hat sie belogen. Aber sie soll sich nur in acht nehmen! Sie soll sich nur in acht nehmen!«
So stolpernd, wie ihre Füße vorwärts hasteten, so wirr stürzten ihr die Worte aus dem Mund. Guhnott hielt sie am Arm.
»Kind, hol' erst einmal tief Atem! Und dann erzähle alles der Reihe nach, so ruhig, wie du kannst! Womit fing deine Mutter an?«
»Wir hätten uns auf dem Gang geküßt.«
»Das wird doch wohl wahr sein.«
»Natürlich. Aber tagsüber waren wir ja nie allein. Und da, sagte sie, hätte sie gestern Heinz zur Rede gestellt und ihn gefragt, was er eigentlich für Absichten hätte. Er wäre zum Heiraten doch viel zu jung, und es wäre nicht ehrenhaft, mich zu kompromittieren. Und solchen Blödsinn. Und da hätte Heinz ihr das Ehrenwort gegeben, abzureisen und nicht mehr an mich zu schreiben. Und er hätte zugestanden, daß er nie ernste Absichten gehabt hätte. Aber das ist nicht wahr! Wenn Heinz abgereist ist, so hat das andere Gründe. Ich kann mir schon denken, was sie gesagt hat. Ich wäre kränklich und hätte ein Herzleiden. Und müßte gepflegt werden. Und er wäre viel zu arm, um mich zu heiraten. Ich weiß ja, was sie mit mir will. Ich soll eine reiche Partie machen. Aber ich lasse mich nicht verheiraten. Ich nehme den, den ich will. Sie hat mir ja selbst erzählt, daß auch sie aus Liebe geheiratet hat, und daß ihre Eltern dagegen waren. Mir ist jetzt alles gleich. Ich brenne durch. Und ich möchte dich bitten, daß du mir das Reisegeld leihst.«
»Kind, deine Mutter hat die Wahrheit gesagt.«
Mit einem Ruck machte Irmgard ihren Arm frei, schien aufschreien zu wollen und stöhnte dann leise:
»Auch du lügst, Onkel. Ihr alle lügt.«
Staunend hatte Guhnott ihre Worte angehört. Weit offen lag mit einemmal ihre verschlossene Seele wie ein aufgeschlagenes Buch. Noch unfertige, kindliche Schriftzüge standen neben denen, die schon das zur Persönlichkeit erwachte Weib verrieten.
Der Schmerz hatte ihre Glieder gestrafft. Sie war nicht entmutigt, nicht zerbrochen, sondern kampfbereit. Ein unbesiegbarer Glaube, ein ebenso großer Trotz sprach aus ihrer Haltung. Etwas wie wehmütiger Neid auf diese Kraft der Jugend mischte sich in Guhnotts Mitgefühl.
»Wenn du meinen Worten nicht glaubst, kann ich dir auch nicht helfen,« sagte er. »Aber warum sollte ich dich betrügen? Hatte ich denn Heinz nicht auch lieb?«
»Es kann ja nicht wahr sein,« stöhnte sie. »Es wäre ja eine solche Schlechtigkeit! Und er ist gut. Glaub' mir, er ist gut!«
»Schwach ist er. Und schwache Menschen bringen mehr Unglück als schlechte.«
»Wenn er schwach war, so war er es aus Liebe zu mir. Weil Mutter ihn so eingeängstigt hat. Sie kann ja alles so schwarz malen, daß man nichts als Schreckliches steht. Sie hat ihm gesagt: Sie setzen mein Kind der Not aus. Bei ihrer zarten Gesundheit muß sie zugrunde gehen. – Ach, wenn ich ihn nur einmal zurückrufen könnte! Nur einmal mit ihm selbst sprechen!«
Wie sie kämpft und ringt, dachte Guhnott, von Mitgefühl zerrissen. Ihm war zumut wie bei einer Operation, wenn sich wider Vermuten herausstellte, daß das Leiden Lebenszentren angegriffen hatte. Dann handelte es sich darum, ob der Eingriff gewagt werden durfte, bei dem der Patient vielleicht unter seinen Händen den Geist aufgab. Er kannte das verhängnisvolle Zögern. Aber er hatte sich auch gewöhnt, es durch Entschlossenheit zu überwinden.
»Hör zu, Kind,« sagte er, seinen Arm fest um Irmgards Schulter legend. »Ich muß dir einen großen Schmerz antun. Aber was hülfe es, wenn du Heinz zurückriefest? Vielleicht käme er, doch nur, um dich aufs neue zu verraten. Und verraten hat er dich. Was deine Mutter dir verschwiegen hat, was ich aber von meiner Frau weiß, ist dies: Die beiden wünschen, daß du Viktor heiratest. Und um diesem Platz zu machen, ist Heinz gegangen. Sie nennen's Dankbarkeit. Denn er studiert ja auf Kosten meiner Frau.«
Während Irmgard so schwer in Guhnotts Arm hing, daß er sie fast tragen mußte, machte sich ihr Schmerz in kurzen, abgerissenen Schreien Luft. Er führte sie zu einer Bank und ließ sie niedersitzen, und während er ihre wie leblose Hand streichelte, fuhr er fort:
»So ist es, Kind. Und so häßlich es ist, du mußt es wissen, damit du weißt, wie das Leben ist. Denn das Geld spielt in unserer Gesellschaft die Rolle des Teufels, von dem es heißt, er umkleidet sich mit allen Schönheiten eines himmlischen Engels. Wenn man zu Heinz gesagt hätte, wir geben dir so und so viele Tausende, er hätte nein gesagt. Aber man hat ihn an sein Studium erinnert. Und er ist ehrgeizig und glaubt sich zu großen Dingen berufen. Da hat er sich gesagt: Hier ist mein hohes Ziel, und da ist meine Liebe. Und ich muß das eine für das andere opfern. Darum hat er seine Persönlichkeit verkauft. So sind sie, diese schwächlichen und unwahren Menschen, sie umkleiden ihre Armseligkeit mit pomphaften Lügen. Aber eines Tages wird er bereuen. Dann wird er begreifen, womit er bezahlt hat und was ihn seine Streberei gekostet hat ... Siehst du, das ist der Fluch unseres Lebens, daß die Menschen mehr oder weniger sämtlich glauben, alles habe seinen Preis. Das macht unser Leben so häßlich, trotz aller heißen Arbeit und aller Erfolge. Wir fühlen unseren Unglauben an menschliche Werte. Darum sind wir keine aufrechten freien Menschen mehr, sondern gedrückte Sklaven. Du aber glaube an den Wert der eigenen Persönlichkeit! Laß dich durch nichts betören! Keine Pflicht, weder Kindesliebe noch Dankbarkeit, kann den Menschen zwingen, sich selbst aufzugeben. Hörst du mich?« Er beugte sich zu ihr herunter, indem er versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. »Du junge, schöne Blume, du! Du glaubst ja nicht, wie ich dich um deinen Schmerz beneide. Du bist noch unversehrt und besitzest alles, was wir vom Leben Zerfetzten verloren haben. Sei versichert, es gibt keine Kostbarkeit auf der ganzen Welt, die deiner Reinheit und deinem Stolz gleichkäme. Wenn ich dein Vater wäre, wie wollte ich dich behüten. Aber wenn deine Mutter dich quält, so komm zu mir! Ich schirme dich. Gegen alle. Wenn's sein muß, auch gegen meine eigene Familie.«
»Ich hab' solche Angst!« schrie sie. »Ich hab' solche Angst!«
Kaum hatte sie seine Worte vernommen. Voll Grauen empfand sie nur das eine, daß der, den sie liebte, sie dem verhaßtesten und widerlichsten Menschen ausgeliefert hatte. Daß er sie wehrlos zurückgelassen hatte in den Händen ihrer Mutter, in diesem ganzen Kreis, der sie verderben wollte. Schauer der Furcht schüttelten sie vor dem Leben, in dem solches möglich, in dem es ein alltägliches Vorkommnis war.
»Ich habe solche Angst!« stöhnte sie. »Hilf mir, Onkel! Ich habe ja keinen Menschen als dich.«
»Ich helfe dir. Es soll dir niemand ein Haar krümmen. Ja, weine dich aus.«
Indem er sie fest an sich preßte, schlug er seinen Mantel um sie. So eingehüllt, ruhte ihr Kopf an seiner Brust. Während ihre Tränen über seine Hände liefen und ihr Schluchzen zu ihm drang, stieg aus seinem Innern ein warmer Strom neuen Lebens auf, ein wunderbar köstliches Gefühl der Hingebung und Liebe, die Gewißheit, daß das eben noch enttäuschte Sehnen seines Herzens nach einem Herzen sich nun erfüllt hatte.