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worin der Leser sich in Paris befindet und eine geheimnisvolle junge Dame kennenlernt
Man schrieb den 4. März 1910. Es war halb sieben Uhr abends, und ein zarter Nebelschleier schwebte über Paris. Den Überschwemmungen der Seine, die gerade vorüber waren, war entzückender Sonnenschein gefolgt, der die Weltstadt tagsüber in Wogen von weißem Licht und Sonnenrauch hüllte, hingegen waren die Abende kalt und nicht selten neblig.
Auf den Boulevards brauste der Verkehr an diesem Märzabend in einem ununterbrochenen Strom. Die Laternen der Automobile kreuzten sich wie die Fäden eines verwickelten orientalischen Musters, von der Sekunde gewoben, um von der nächsten Sekunde zerrissen zu werden. Die Motoromnibusse rumpelten schwerfällig und ungeschlacht dahin, und hie und da wankte eine Pferdedroschke in müdem Begräbnistakt vorbei. Das Gesicht des Kutschers unter dem weißen Wachstuchhut war rot und verschwollen, und der Kopf des Pferdes neigte sich müde zu Boden. Das heisere Kreischen der Zeitungsverkäufer durchschnitt alles, sogar den Lärm der Autobusse: La Presse, un sou la Presse! Die Geschäfte gingen daran, zu schließen, und die elektrischen Reklamen leuchteten auf, flackerten, erloschen und entzündeten sich von neuem, in einer ewig grün-rot-weiß strahlenden Serie. Vor den Cafés saßen trotz der Kälte getreue Scharen von Boulevardhabitués bei ihrem Absinth oder Wermut.
An einem der Tischchen vor dem Café de la Paix saß ein eleganter junger Herr von vier- oder fünfunddreißig Jahren bei einem Absinth. Sein Gesicht war offen und freundlich, er hatte einen schwarzen Schnurrbart und kluge schwarze Augen. Ob er Franzose war oder nicht, ließ sich schwer entscheiden, der Kellner, mit dem er einige Worte gewechselt hatte, würde darauf geschworen haben, und der allgemeine Typus des jungen Herrn hätte diese Ansicht bekräftigt, während die Kleidung und ein paar englische Zeitungen, die neben ihm lagen – Börsenzeitungen –, anzudeuten schienen, daß er Engländer war.
Er saß etwas zurückgelehnt da. Sein Tischchen stand in der äußersten Reihe und war dort das einzig besetzte. Ab und zu bekam es von einem Vorübergehenden einen Puff, aber es sah aus, als merkte er solche Episoden kaum. Sein Gesicht lächelte beständig mit einem gewissen Ausdruck der Selbstzufriedenheit, hie und da warf er einen raschen Blick auf seine Zeitungen, und dann verstärkte sich das Lächeln. Es sah aus, als träumte er und als wären seine Träume besonders angenehmer Natur.
Es war jedoch bestimmt, daß diese Träume ein rasches Ende nehmen sollten.
Ein grellrot lackiertes Auto mit weißen Laternen bog plötzlich um die Ecke der Rue Auber. Die Geschwindigkeit war so stark, daß es sich bedenklich auf die linke Seite neigte. Nun machte es eine plötzliche Wendung zum Trottoirrand des Café de la Paix. Noch lange bevor es stehenbleiben konnte, flog die Tür auf, und jemand, in einen langen Automantel gehüllt, sprang heraus. Die Tür schlug wieder zu, und das rote Auto, das gar nicht stehengeblieben war, nur die Fahrt etwas verlangsamt hatte, machte wieder eine plötzliche Wendung nach dem Boulevard des Capucines, vermied um Haaresbreite, mit einer Pferdedroschke zu kollidieren und verschwand, von den Flüchen des Kutschers gefolgt, mit seiner ursprünglich rasenden Geschwindigkeit auf die Place de l'Opera.
Das Ganze hatte kaum dreißig Sekunden in Anspruch genommen. Der junge Mann an dem Cafétischchen, der das linke Augenlid leicht gehoben hatte, um die Szene zu betrachten, setzte sich plötzlich gerade auf. Das Vorhergehende war eine banale Boulevardepisode gewesen, was nun folgte, war um so mehr danach angetan, ihn aus seiner Versunkenheit aufzurütteln.
Bevor noch das rote Auto die Place de l'Opera erreicht hatte, hatte die Person, die herausgesprungen war, ein paar hastige Schritte – Sprünge hätte man sagen können – über das Trottoir gemacht, an dem der junge Herr mit dem schwarzen Schnurrbart saß, und sich, ohne eine Sekunde zu zögern, an seinem Tische niedergelassen. Im nächsten Augenblick legte sich eine behandschuhte kleine Hand auf seinen Rockärmel, und er spürte einen warmen Atemhauch in seinem rechten Ohr. Dann, als er sich etwas gefaßt hatte, hörte er ein kurzes hastiges Flüstern:
»Retten Sie mich, Monsieur, wenn Sie ein Gentleman sind. Man hat mich in meinem Auto verfolgt – vielleicht ist es mir gelungen, sie irrezuführen. Tun Sie nichts dergleichen ... Sehen Sie aus, als wenn ich in Ihrer Gesellschaft wäre ... sprechen Sie mit mir, als wäre ich Ihre ... Freundin ... ah, mein Gott, da sind sie.«
All dies hatte kaum eine halbe Minute gedauert, jetzt verstummte die Stimme, und der Griff der behandschuhten kleinen Hand um seinen Arm wurde fester, er fühlte den Druck ihres Daumens und Zeigefingers durch seinen Ulster, und der Atem der Unbekannten an seiner Wange ging heiß und keuchend. Als er der Richtung ihrer Blicke durch den Automobilschleier folgte, sah er, daß ein schwarzes Auto mit lautlos arbeitendem Motor plötzlich an der Ecke einige Schritte von ihnen aufgetaucht war. Ein paar Augenblicke lang, die ihm plötzlich endlos schienen, sah es aus, als wollte es stehenbleiben, seine weiße Signallaterne funkelte kalt und drohend, halb dem Boulevard des Capucines zugewandt, dann flog es wieder vorwärts, hinter dem roten Auto her, das von der Place de l'Opera ein schrilles Signalgekreisch ausstieß. Es war klar, daß das andere Auto nur infolge irgendeines Verkehrshindernisses steckengeblieben war und daß der Plan der Unbekannten geglückt war. Unwillkürlich atmete er erleichtert auf und wandte sich ihr dann zu, um sie zu beglückwünschen.
Er tat es gerade zur rechten Zeit, um zu sehen, wie ihre Augenlider sich unter dem Schleier schlossen, während der Griff um seinen Arm sich plötzlich löste. Im selben Augenblick, in dem das schwarze Auto verschwand, war die Unbekannte ohnmächtig geworden!
Der junge Herr schlang blitzschnell und ohne sichtliche Abneigung seinen rechten Arm um ihre Schultern und zog mit der anderen Hand rasch und behend ihren Schleier in die Höhe. Eine Wasserkaraffe stand auf dem Tisch, er tauchte ein Seidentaschentuch hinein und führte es rasch über das blasse Antlitz neben sich, während er mit den Augen die Schönheit verschlang, die sich ihm plötzlich enthüllte. Das Gesicht unter dem Schleier war jung und frisch, aber totenbleich, das Haar unter dem Autohut schwer und schwarz. Die Augenbrauen waren gerade und fein und in einer kleinen Falte an der Nasenwurzel fast zusammenstoßend, so, als wären sie es gewöhnt, sich in Befehlen zusammenzuziehen. Die Lippen waren fest und formvollendet, aber nun beinahe kreidebleich. Welche Farbe die Augen hatten, war unmöglich zu sagen, da die Lider noch immer regungslos darüber gesenkt lagen.
»Garçon,« rief der junge Herr, » un fine – ein Glas Kognak, aber etwas plötzlich! Sehen Sie nicht, daß Madame ohnmächtig geworden ist?«
Während er fortfuhr, ihre Stirn mit Wasser zu benetzen, jagten die Gedanken durch seinen Kopf. Wer war sie? Welcher Nation gehörte sie an? Die Stimme, die so heiß und flehend in sein Ohr geflüstert hatte, hatte ein tadelloses Französisch gesprochen, aber er hatte doch einen fremden Akzent zu bemerken geglaubt. Was meinte sie mit ihren Worten, als wäre ich Ihre Freundin? Sprechen Sie mit mir, als wäre ich Ihre Freundin ... Und was waren das für Feinde, die dieses entzückende junge Wesen mitten auf den Pariser Boulevards verfolgten? Er erinnerte sich plötzlich des Manövers, wodurch sie sie überlistet hatte, und erzitterte halb aus Besorgnis für sie, halb vor Bewunderung für ihre Kühnheit. Wahrhaftig, nicht jede junge Dame machte ihr diese Leistung nach! – Sie mußte Freunde in dem roten Auto gehabt haben – es war ein Privatauto, kein Taxi, das war sicher. Was sollte er tun? Sie verlassen oder sie zu ihren Freunden bringen? Sie war vielleicht eine ganz gewöhnliche Abenteurerin ... aber sie war so jung und schön ... und sein Zug ging um halb neun ... Allons, man mußte ...
»Ihr Kognak, Monsieur.« Der Kellner war halb laufend mit dem Bestellten wiedergekommen. »Ist Madame noch nicht besser? Soll ich einen Arzt holen, Monsieur, oder einen Pharmazeuten?«
Ohne zu antworten nahm der junge Herr das Kognakglas und versuchte seinen Inhalt zwischen die halbgeöffneten Lippen der jungen Dame zu pressen. Es gelang ziemlich mittelmäßig, aber kaum hatte das starke Fluidum den Mund der Unbekannten befeuchtet, als sie sich rasch emporrichtete und die Augen aufschlug. Der junge Herr sah zu seinem Entzücken, daß sie tiefblau waren.
»Wo bin ich?« murmelte sie. »Ah, ich weiß schon ... mir ist schon besser ... danke. Sie waren sehr gütig gegen mich ...«
Der Kellner stand noch immer da.
»Soll ich um einen Arzt schicken, Monsieur, oder um einen Pharmazeuten?«
Die Unbekannte schüttelte heftig den Kopf und antwortete selbst auf seine Frage.
»Gewiß nicht,« sagte sie kurz. »Ich befinde mich jetzt vollkommen wohl. Ich werde bezahlen und gehen.«
Sie machte eine automatische Handbewegung nach dem linken Arm, wie um nach einem Täschchen zu greifen, aber riß im nächsten Moment die Augen weit auf und wurde blutrot im Gesicht. Der linke Arm war leer. War die Tasche irgendwo, dann offenbar im Auto.
Der junge Herr flüsterte dem Kellner rasch zu, sich zu entfernen.
»Es ist gut,« sagte er. »Kommen Sie wieder, wenn ich klopfe.«
Er wandte sich der Unbekannten an seiner Seite zu, die von ihrer Entdeckung sichtlich halb betäubt war, und lächelte ehrerbietig und zugleich humoristisch.
»Madame,« sagte er, »Ihre sortie aus dem Auto hat Ihnen keine Zeit gelassen, an Ihr Gepäck zu denken. Wenn Sie es gestatten, wird es mir ein Vergnügen sein, Sie als meinen Gast betrachten zu dürfen. Nichts wäre mir lieber, als wenn es nicht das letztemal wäre. Lassen Sie mich nun wissen, was ich sonst für Sie tun kann.«
Sie saß bleich mit gesenkten Augen da.
»Sie sind zu gütig,« sagte sie kurz. »Sie nehmen mich vielleicht zu sehr beim Wort« – er erinnerte sich wieder ihrer eigentümlichen Worte: wie Ihre Freundin! – »Wollen Sie ... wollen Sie einen Ring als Pfand für das nehmen, was Sie bezahlen. Sie haben leider recht. Ich muß mein Täschchen im Auto vergessen haben ...«
Sie verstummte bei seinem Blick.
»Madame,« sagte er kalt, »vorhin, als Sie die Freundlichkeit hatten, an meinem Tische Platz zu nehmen, hielten Sie mich für einen Gentleman, auf jeden Fall bin ich kein Pfandleiher. Ich bitte Sie noch einmal, mir zu sagen, was ich für Sie tun kann – aber nur wenn Sie Ihre erste Auffassung von mir beibehalten.«
Es kam keine Antwort.
Er sah sie an. Sie saß stumm, regungslos da, mit gesenkten Augenlidern. Die Ahnung einer Träne schimmerte in ihrem Augenwinkel. Er wurde gerührt und vergaß sofort seinen kleinen Groll.
»Madame,« sagte er rasch und bittend, »verzeihen Sie mir. Ich bin ein brutaler Dummkopf. Ich vergesse, daß Ihre Nerven überreizt sind, obwohl ich selbst einen Teil dessen mit angesehen habe, dem Sie ausgesetzt waren. Noch einmal, ich bitte Sie um Entschuldigung, und verfügen Sie über mich, gleichviel welche Auffassung Sie von mir haben.«
Zwei Augenlider hoben sich langsam über zwei feuchten, tiefblauen Augen. Eine Träne glänzte noch ganz tief innen, aber sie schmolz rasch wie Schnee vor einem Frühlingssonnenlächeln, das über ihr Gesicht zu huschen begann.
»Sie haben keinen Anlaß, sich zu entschuldigen,« sagte sie und reichte ihm über den Tisch die Hand. » Ich war dumm und bitte Sie um Verzeihung. Sie hatten ganz recht, und Sie waren sehr gut gegen mich, Sie haben keinen Augenblick an mir gezweifelt – woher wissen Sie schließlich, daß ich keine Verbrecherin bin, die vor der Polizei durchgeht?«
Er faßte die kleine Hand; in seinem Kopfe drehte sich alles im Kreise. Eine Verbrecherin – woher er wußte, daß sie keine Verbrecherin war? Ihr Götter, welche Idee! Er lachte munter zur Antwort auf ihr Lächeln, wurde aber dann wieder ernst.
»Madame,« sagte er, »verzeihen Sie, wenn ich Ihre Aufmerksamkeit auf etwas Unangenehmes lenke. Sind Sie denn sicher, daß Ihre Feinde in dem schwarzen Auto nicht zurückkommen? Sie sitzen unverschleiert an einem der verkehrsreichsten Boulevards von Paris.«
Sie zuckte zusammen und beeilte sich, den Schleier herabzuziehen, konnte sich aber eine kleine Replik nicht versagen.
»Sie sehen mich also lieber verschleiert?«
»Wenn Ihre Wohlfahrt es erfordert, Madame – obwohl ich ein großer Egoist bin.«
Sie knüpfte den Schleier, und er fuhr fort:
»Also, was gestatten Sie, daß ich tue? Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
Die Stimme unter dem Schleier war sehr zaghaft und scheu.
»Ich – ich weiß nicht. Ich kann ja doch nicht auf Ihre Zeit Beschlag legen. Sie kennen mich doch nicht ...«
Er beugte sich vor und betrachtete sie ernst.
» Voyons,« sagte er, »ich glaubte, wir wären in diesem Punkte einig. Ich kenne Sie nicht, und wenn Sie nicht wollen, werde ich Sie auch nie kennenlernen. Aber ich weiß, daß Sie in Bedrängnis sind, und überdies ohne Geld. Wenn Sie mich noch immer dafür halten, wofür Sie mich zuerst nahmen, so haben Sie die Güte und zögern Sie nicht länger, sondern sagen Sie mir, was ich tun kann. Meine Zeit steht vollständig zu Ihrer Verfügung.«
Als er dies sagte, warf er unwillkürlich einen Blick auf sein Uhrarmband. Es war jetzt über sieben, er hatte also kaum anderthalb Stunden in Paris für sich, wenn er den Abendexpreß nicht versäumen wollte, in dem sein Schlafcoupé reserviert war. Bei diesem Gedanken zuckte er vor Staunen über sich selbst zusammen. Was in aller Welt hatte er eigentlich mit dieser jungen Dame zu schaffen, die der Zufall ihm in den Weg geführt hatte? Sie war jung, hilflos und hatte entzückende blaue Augen ... aber wenn ihm noch vor einer Stunde jemand gesagt hätte, daß er um diese Zeit etwas anderes tun würde, als bei Voisin dinieren, er hätte ihm ins Gesicht gelacht. Er war es wahrhaftig nicht gewohnt, den Ritter junger unbekannter Prinzessinnen zu spielen, und wären sie noch so blauäugig und unglücklich ... Aber, allons ... das Diner bei Voisin konnte unterbleiben ... dies eine Mal, und ihre kleinen Angelegenheiten konnten ihn doch nicht hindern, den Zug zu erreichen.
Er hatte mit keiner Miene seine Gedanken verraten, und die Unbekannte, die durch den Schleier sein Gesicht aufmerksam studiert hatte, schien einen plötzlichen Entschluß zu fassen.
»Wenn ... wenn ... Aber Sie haben sicher Zeit frei?«
Er nickte beruhigend.
»Und Sie wollen mir helfen? Ohne Fragen zu stellen?«
»Ich bin kein Detektiv,« sagte er kurz.
Sie bereute offenbar ihre letzte Äußerung und bat mit einem stummen Blick durch den Schleier um Entschuldigung.
»Würden ... würden Sie mich dann ins Hotel d'Ecosse bringen?«
Nichts anderes!! Er lachte laut über den Kontrast zwischen diesem einfachen Wunsche und dem Zögern, mit dem sie ihn vorgebracht hatte, rief den Kellner und bezahlte. Dann steckte er seine Zeitungen ein, und sie standen vom Tische auf. Als sie die Trottoirkante erreicht hatten und er gerade im Begriff war, ein Auto anzurufen, rief sie hastig:
»Kein Auto ... nehmen Sie eine Droschke!«
»Ja, warum denn um Himmels willen?« Er starrte sie an. Hatte sie nach ihren heutigen Abenteuern eine Idiosynkrasie gegen Autos?
»Ich habe gehört, daß das billiger sein soll ...«
Er brach in ein schallendes Gelächter aus und rief das erste Auto an, das vorbeipassierte.
»Madame,« sagte er, »Sie sind zu rücksichtsvoll gegen mich, es ist dies eine Eigenschaft, die Ihr Geschlecht mir sonst nicht in übertriebenem Grade gezeigt hat. Um Sie zu beruhigen, kann ich Ihnen sagen, daß ein Auto und eine Droschke absolut gleich teuer sind.«
Sie waren nicht mehr als einige hundert Meter gefahren, als er ihre Hand auf seinem Rockärmel spürte. Er wandte sich ihr zu und betrachtete sie fragend.
»Verzeihen Sie,« sagte sie. »Aber ... es ist mög ... mir ist etwas eingefallen.«
Er neigte den Kopf zum Zeichen, daß er ihr folgte.
»Ja, vie ... vielleicht sind meine Feinde in dem schwarzen Auto vor mir ins Hotel gekommen und warten dort auf mich ... was soll ich tun – ach, ich weiß nicht, was ich tun soll!«
Er starrte sie an, zum ersten Male ernstlich nachdenklich. Was waren das für Feinde, die sie da hatte? Steckte er da vielleicht den Kopf in eine unangenehme Affäre – eine Polizeiaffäre? War sie wirklich eine Schwindlerin? Die Erinnerung an verschiedene Banditenaffären der letzten Zeit tauchte einen Augenblick in seinem Hirn auf, bis eine andere Erinnerung sie verdrängte – zwei feuchte blaue Augen und ein treuherzig lächelnder Mund. Bah, was bildete er sich für Dummheiten ein? Apachen- und Banditenmädchen – sie war so jung, kaum zwanzig Jahre ... aber die betreffenden Apachen beiderlei Geschlechts pflegten auch nicht gerade steinalt zu sein ... und so schön ...
»Madame,« sagte er, »wenn Sie wollen, werde ich aussteigen und im Hotel rekognoszieren. Seien Sie beruhigt, ich werde keine Fragen über Sie stellen. Sie haben mein Wort. Aber Ihre Feinde – wollen Sie mir ihr Signalement geben,« sie zögerte sichtlich, »oder soll ich lieber auf eigene Faust operieren?«
Sie nickte dankbar und lehnte sich in die Autoecke zurück. Fünf Minuten später waren sie vor dem Hotel. Der junge Herr sprang heraus und eilte in die Halle des Hotels.
Nach zwei Minuten kehrte er mit gefurchter Stirn zurück. Sie starrte ihn aus dem Dunkel des Autos ängstlich an.
»Nun?« sagte sie mit zitternder Stimme.
»Ja, Madame,« sagte er, »Sie haben Pech. Das rote Auto – Ihr Auto – ist vor etwa zwanzig Minuten aufgetaucht, mit dem schwarzen dicht hinterdrein. Das schwarze Auto hatte das Pech gehabt, von einer Pferdedroschke aufgehalten zu werden, so daß das rote eine halbe Minute Vorsprung bekam. Kein Mensch verließ das rote Auto, aber das schwarze setzte, bevor es weiterfuhr, zwei Herren ab, die nun in der Halle sitzen und offenbar auf Sie warten.«
Sie wurde leichenblaß und murmelte:
»Zwei Herren, wie sehen sie denn aus?«
»Der eine ist baumlang, gelb wie eine Zitrone und hat, wo er nicht gelb ist, einen schwarzen Bart. Er trägt ein Jackett. Der andere ist klein, dick und rot, hat blaue Augen und ein blaues Sakkokostüm.«
Seine Stimme war, während er dies sagte, ziemlich kalt, die Sache begann für seinen Geschmack zu mysteriös zu werden. Jetzt machte er eine Pause und betrachtete sie. Es schimmerte feucht durch ihren Schleier, und in der Stille, die seinen Worten folgte, hörte er ein unterdrücktes kleines Schluchzen. Wieder erlangten seine weicheren Gefühle die Oberhand, er stürzte in das Auto und legte die Hand auf ihre Schulter.
»Mein Gott, mein armes Kind,« sagte er erregt. »So weinen Sie doch nicht! Was ist es denn? Was will man von Ihnen? Ich meine ... was kann ich für Sie tun? Was wollen Sie, sprechen Sie?«
Sie machte sich langsam von seiner Berührung frei und richtete sich auf.
»Nein, nein,« sagte sie. »Verlassen Sie mich! Sie haben schon mehr für mich getan, als Sie sollten. Vielleicht kann ich es Ihnen nie vergelten. Ich weiß, daß ich jetzt für Sie aussehen muß wie eine Verbrecherin, die vor der Polizei flüchtet. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich das nicht bin ... lassen Sie mich jetzt gehen!«
Sie machte eine Bewegung, wie um auszusteigen, er zog sie rasch in die Automobilkissen zurück, rief dem Chauffeur eine Adresse zu und ließ die Tür zuklappen. Er verstand sich selbst kaum, aber der Klang ihrer Stimme war so echt und kindlich gewesen und die Erinnerung an ihr offenes Lächeln so lebendig, daß er nun plötzlich wieder ganz von ihrer Unschuld durchdrungen war. Ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, wie es geschehen sollte, beschloß er, sie irgendwie durchzulotsen. Es mochte sein, daß die Erinnerung an die beiden Herren in der Halle dazu beitrug, schon lange hatte er nicht zwei so abstoßende Gestalten gesehen. Natürlich war sie die Unschuld selbst – es handelte sich wohl um eine kleine Eskapade von Eltern oder Gatten, eh bien, er hatte bisher nie auf seiten der patriarchalischen Gesellschaft gekämpft. Warum sollte er es gerade jetzt, wo er von zwei bezaubernden Augen und einem berückenden Lächeln auf die andere Seite gezogen wurde?
Plötzlich fiel ihm ein, daß die Adresse, die er dem Chauffeur zugerufen hatte, ganz willkürlich war und daß es nicht lange dauern konnte, bis sie dort angelangt waren ... zugleich sah er auf seine Uhr und zuckte zusammen: dreiviertel auf acht. Kaum dreiviertel Stunden bis zum Abgang seines Zuges. Was wurde aus dem Mittagessen? Nun, das mußte eben unterbleiben, wenn auch die Aussicht auf eine dreizehnstündige Reise ohne etwas anderes im Magen als einen Absinth ja nicht besonders verlockend war. Aber ging es so weiter, wie es begonnen hatte, wurde am Ende auch aus seiner Reise nicht viel. Nun, er mußte wenigstens einen Versuch machen. Er wandte sich seiner Begleiterin zu, um ihr eine Frage zu stellen, doch sie kam ihm zuvor.
»Wie haben Sie denn alle diese Dinge im Hotel erfahren?« sagte sie ängstlich.
»Der Pikkolo und ein Fünffrankenstück,« gab er lächelnd zurück. »Ich habe schon einmal in diesem Hotel gewohnt und ziemlich gutes Trinkgeld gegeben.«
»Noch fünf Franken,« murmelte sie mit einer Verzweiflung in der Stimme, die ihn laut auflachen ließ. »Und man sagte Ihnen, daß Jacques – daß mein Auto entkommen ist?«
Jacques, dachte er mit einem Stich im Herzen. Hol' der Teufel diesen Jacques. Hätte man ihn doch lieber hoppgenommen!
»Ja,« sagte er mit seiner düstersten Stimme. »Jacques – Ihr Auto ist entkommen.«
Trotz ihrer Verstimmung brach sie über seinen melancholischen Tonfall in ein Lachen aus.
»Jacques ist nur mein Chauffeur,« sagte sie, »der mir größere Dienste erwiesen hat als irgend jemand – außer Ihnen.«
Er fühlte süße Ströme beruhigter Eigenliebe sein Herz durchfluten. Also Jacques war nur ein Chauffeur! Wo war dann der Mann in diesem Problem? Natürlich gab es einen Mann. Où est l'homme? Aber das ging ihn nichts an, wenn er das sein wollte, wofür er sich selbst ausgegeben hatte – ein Gentleman. Es galt, sie in Sicherheit zu bringen, und zwar rasch.
»Madame,« sagte er und blickte hinaus, um zu sehen, wie weit sie noch zu der Adresse hatten, die er angegeben hatte. »Wollen Sie mir aufrichtig auf drei Fragen antworten? Ich werde sie sowenig persönlich gestalten, als ich kann. Dann werde ich mein möglichstes tun, um Sie ebensogut zu bedienen wie M. Jacques.«
Sie nickte mit einem kleinen Lächeln.
»Fürs erste,« sagte er, »haben Sie irgendwelche Freunde in Paris, zu denen ich Sie bringen kann? Irgendwohin, wo Sie dem Zitronengelben und seinem zinnoberroten Freunde unerreichbar sind?«
Sie wurde wieder bleich und schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
»Nein,« sagte sie tonlos, »ich bin ink ... ich bin allein in Paris.«
Er war immer mehr und mehr mystifiziert, aber fuhr in demselben ruhigen Ton fort:
»Fürs zweite, gibt es irgendeinen Ort außerhalb von Paris, wohin Sie wollen, daß ich Sie bringe?«
Sie zögerte einen Augenblick, dann kam ihre Antwort, und sie war danach angetan, ihn noch mehr zu verblüffen als alles bisherige.
»J – ja,« sagte sie stammelnd, »das schon. Ich hatte die Absicht, mit dem Abendzug um halb neun Uhr nach Marseille zu fahren ...«
»Sie haben also Freunde dort?«
»N – nein, eigentlich nicht ... nein.«
Er fixierte sie stumm vor Überraschung. Mit dem Zug nach Marseille um halb neun Uhr! Seinem Zug! Wahrlich, das Schicksal war wunderlich. Was in aller Welt hatte dieses junge Mädchen, dem man im Auto über die Boulevards von Paris nachjagte, für einen Grund nach Marseille zu fahren, wenn sie keine Freunde dort hatte? Hatte man sie, um sie an dieser Reise zu hindern, im Auto verfolgt? Er beherrschte seine Überraschung so gut er konnte, und fuhr fort:
»Fürs dritte, wohin glauben Sie, daß Monsieur Jacques sich wenden wird, wenn er entkommt, und wo Sie ihn also treffen können?«
»Wohin er sich wenden wird? Das weiß ich nicht, aber er wußte, daß ich heute abend nach Marseille fahren wollte. Ich hatte das Billett bestellt, wenn ich auch keine Zeit fand, es abzuholen, da ich verfolgt wurde. Natürlich wird er mich in Marseille aufsuchen, sobald er kann ...«
Sie verstummte und verschlang nervös die Fingerspitzen ineinander. Offenbar hatte der Gedanke an das vergessene Täschchen und ihre ganze hilflose Lage sie wieder überwältigt. Sein Entschluß war gefaßt. Er wandte sich zu ihr, und selbst voll Staunen über den Impuls, der ihn antrieb, sagte er:
»Madame, es ist wunderlich, aber faktisch wahr, daß ich selbst, der ich hier neben Ihnen sitze, einen Schlafwagen in dem Expreß bestellt habe, mit dem Sie zu fahren gedachten ... Sie haben hier in Paris oder in der Nähe keine Freunde, zu denen ich Sie bringen kann, und Sie glauben, daß Monsieur Jacques Sie in Marseille aufsuchen wird. Es ist folglich meine sonnenklare Pflicht, Sie nach Marseille zu bringen und Sie vor Ihren Feinden zu retten ... wollen Sie sich meinem Schutz anvertrauen?« ...
Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen und betrachtete ihn einige Sekunden lang so forschend, daß er beinahe errötete. Dann sagte sie:
»Sind Sie gegen alle Damen, die Ihnen der Zufall auf solche Weise in den Weg führt, so entgegenkommend?«
»Auf solche Weise, Madame?« sagte er leichthin. »Dies ist das erstemal. Aber natürlich würde ich es sein, wenn ich es so wie jetzt tun könnte, ohne dabei meine eigene Bequemlichkeit preiszugeben.«
»Natürlich,« sagte sie, »Sie haben Ihre Bequemlichkeit heute gar nicht preisgegeben. Es stimmte natürlich ganz mit Ihren Vorstellungen von Bequemlichkeit, mich auf den Hals zu bekommen und mit mir rund um Paris zu kutschieren? Und mich dann noch nach Marseille zu begleiten? Ich bezweifle, daß Sie je daran gedacht haben, nach Marseille zu fahren.«
» Parbleu, Madame, Sie tun mir Unrecht. Ich schwöre Ihnen, daß ich beabsichtigt habe, hinzureisen ... übrigens brauche ich gar nicht zu schwören. Ich kann Ihnen Beweise geben. Warten Sie einen Augenblick ...«
Er zog rasch ein Portefeuille aus der Brusttasche und nahm ein Cookbillett erster Klasse nach Marseille nebst einer Schlafwagenanweisung (ganzes Coupé) heraus. Sie prüfte es neugierig und buchstabierte den Namen.
»Professor Pelotard, London,« sagte sie. »Ah, Sie sind Engländer, das hätte ich mir denken können. Obwohl Sie französisch wie ein Franzose sprechen ...«
»Ich lebe in England,« sagte er einfach und vermied, die Gegenfrage nach ihrer Nationalität zu stellen, die ihm auf der Zunge brannte. »Also, Sie haben sich überzeugt, daß ich die Wahrheit gesprochen habe. Nehmen Sie mein Anerbieten an?«
Sie sah ihm mit einem klaren, ruhigen Blick in die Augen.
»Ja,« sagte sie einfach. »Wenn Sie wirklich so wunderbar edelmütig gegen eine Unbekannte sein wollen ...«
Sie wollte offenbar weitersprechen, aber er unterbrach sie.
»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Madame. Aber dann muß ich noch eine Frage an Sie richten. Glauben Sie, daß Ihre Feinde wissen, daß Sie abzureisen beabsichtigen?«
»Da ... das ist möglich,« stammelte sie. »Ich habe es im Hotel nicht gesagt, aber ich habe heute nachmittag gepackt, bevor ich mit Jacques fortfuhr ... Glauben Sie ...«
»Ich glaube beinahe bestimmt, daß sie an den Hauptstationen Spione aufstellen werden – wenn sie die Mittel und den Mut dazu haben?«
Er betrachtete sie fragend, sie nickte halb überlegen.
»Dann bleibt nur eines übrig. Sie müssen sich verkleiden, und zwar rasch.«
»Verkleiden? Wie meinen Sie das? Wo? Und wieviel Zeit haben wir denn noch bis zum Abgang des Zuges?«
»Etwas über eine Viertelstunde. Wo? Hier im Wagen. Warten Sie nur, Sie werden gleich sehen.«
Herr Philipp Collin, den der Leser wohl schon erkannt haben dürfte, steckte den Kopf zum Fenster hinaus und pfiff dem Chauffeur. Das Auto blieb stehen.
»Wie lange fahren Sie von hier zur Gare de Lyon?«
»Eine Viertelstunde.«
»Ausgeschlossen. Zehn Minuten.«
»Geht nicht.«
»Muß gehen.«
»Das ist aber sehr über die erlaubte Geschwindigkeit,« murmelte er.
»Es wird auch sehr über die Taxe sein. Sagen wir viermal und eventuelle Strafen bezahlt.«
Der Chauffeur strahlte.
» Mais alors naturellement, Monsieur.«
Er wollte den Motor in Gang setzen, aber Philipp Collin hielt ihn mit einer Geste zurück.
»Halten Sie still, bis ich rufe. Ich brauche hier selbst fünf Minuten, dann haben Sie zehn Minuten für die Fahrt.«
Während der Chauffeur ganz verdutzt das Auto wieder stoppte, hatte Philipp im Handumdrehen ein kleines Reisenecessaire aus seiner Brusttasche gezogen. Mit einem: Sie müssen schon entschuldigen, Madame, hatte er in der nächsten Sekunde den blauen Schleier von dem Kopf seiner Begleiterin gelöst und ihr den Hut abgenommen. Dann begannen seine langen, schmalen Finger zwischen dem kleinen Necessaire und ihrem Gesicht hin und her zu tanzen. Schminke, Fett, Puder und Tusche wurden stumm und rasch an verschiedenen Stellen appliziert. Das Licht einer elektrischen Bogenlampe fiel durch das Automobilfenster, und in einem Spiegel gegenüber ihrem Platz verfolgte die junge Dame mit weitaufgerissenen blauen Augen die Veränderung, die mit ihr vorging. Wozu die Zeit noch fünfzehn oder zwanzig Jahre gebraucht hätte, das vollzog sich unter Herrn Collins Finger in nicht mehr als vier Minuten: ihr Gesicht wurde schlaff, die Augenlider zogen sich müde zu den Augenwinkeln hinunter, eine Falte legte sich um jeden Nasenflügel und zwei oder drei über die Stirn. Das Kinn bekam einen Anstrich des Wohllebens und der Gedunsenheit, dann kam die Reihe an das Haar. Einige vorsichtige Striche mit einem Kämmchen, und sie sah es zu ihrem Staunen an den Schläfen und im Nacken von kleinen grauen Streifen durchzogen. Ohne ihr Zeit zu lassen, sein Werk zu bewundern, nahm Philipp rasch ihren Hut, murmelnd: barbarisch, aber unvermeidlich, löste er die beiden langen Federn, die ihn schmückten, steckte sie in die Tasche und setzte ihn ihr wieder auf den Kopf. Der Schleier wurde in jenem unbeschreiblichen kleinen Knoten darüber geknüpft, wie ihn reisende ältere Engländerinnen zu tragen pflegen.
»Können Sie Ihren Automantel ablegen, ohne sich zu erkälten? Der ist zu leicht zu erkennen.«
Sie nickte verwirrt und zog ihn aus. Darunter trug sie ein blaues Straßenkostüm. In einer Sekunde hatte er den Mantel zusammengerollt und ihn unter die Wagenpolster geschoben.
»Passabel,« murmelte er und betrachtete sie kritisch. »Vergessen Sie jetzt nicht, so schwerfällig zu gehen als Sie können und sich auf meinen Arm zu stützen. Sprechen Sie englisch? Das ist gut. Dann überlassen Sie alles übrige nur mir. – Fertig, genau fünf Minuten.«
Er gab dem Chauffeur das Signal, das Motorsummen erhob sich plötzlich zu einem schrillen Kreischen, und das Auto wurde mit der Vehemenz einer abgeschossenen Kanonenkugel vorwärtsgeschleudert. Offenbar fand es der Chauffeur, vor dessen Phantasie die vierfache Taxe gaukelte, zu riskant, durch die Hauptstraßen zu fahren, denn bei der ersten Ecke machte er eine jähe Wendung, die die junge Dame zappelnd in Philipps Arme schleuderte, dann ging es in wahnsinnigem Tempo durch lange, schmale Gassen, wo die Gaslaternen kaum mehr Licht verbreiteten als die simpelsten Talgdochte. Bei den Straßenkreuzungen, die der Chauffeur mit Bedrohung der allgemeinen Sicherheit und Verachtung jedes Reglements mit Schnellzugsgeschwindigkeit passierte, wurden sie regelmäßig halb zur Wagendecke hinaufgeschnellt. Hie und da sahen sie verschwommene Gestalten aus Nebengassen herbeilaufen, und plötzlich vermieden sie es nur durch ein Wunder, mit einer Planke ohne Laterne zu kollidieren, die kundgab, daß die Straße gesperrt war. Das Bremsen war so stark, daß man für einen Augenblick das Gefühl hatte, das Auto sei in Stücke gegangen, aber in der nächsten Sekunde war der Chauffeur schon in eine Quergasse eingebogen und fuhr dann mit derselben geistesgestörten Geschwindigkeit durch ein Netz von Gäßchen, wo er jeden Augenblick nach rechts oder links umbiegen mußte, da keines langer als zweihundert Meter war. Für die beiden Passagiere schien sich das Auto in einen schnurrenden Kater verwandelt zu haben, der zu Beginn jedes Gäßchens einen Riesensprung machte, der doch bei seinem Ende ebenso blitzschnell wieder abbrach. Obwohl Philipp Collin die Pariser Chauffeure schon lange kannte, hielt er doch unwillkürlich den Atem an und gelobte flüsternd der Madonna eine Wachskerze, wenn dies gut ausging. Plötzlich steuerte der Chauffeur mit verminderter Geschwindigkeit einem offenen Platz zu und hielt vor dem Eingang der Gare de Lyon. Philipp sah auf seine Uhr.
»Neun Minuten,« murmelte er. »Bei Elias im feurigen Wagen, das war die fünffache Taxe wert,« sprang heraus und reichte dem Chauffeur, der voll gallischer Selbstzufriedenheit neben seinem pochenden Motor stand, einen Hundertfrankschein. Dann winkte er seiner Begleiterin.
»Ethel, dear,« rief er mit einem unangenehm amerikanischen Nasalton, »beeile dich, please, wir kommen sonst zu spät zum Zuge.«
Der Chauffeur, ein blasser, schwarzäugiger Pariser Gamin mit aller Schlauheit seiner Rasse, starrte die Person, die dieser Aufforderung Folge leistete, verblüfft an.
» Nom d'un chien,« murmelte er, die Finger um die Banknote schließend. »Ich habe am Boulevard des Capucines eine junge Dame im Automantel aufgenommen, und nun ich sie an der Gare de Lyon absetze, ist es eine vierzigjährige Engländerin, die aussieht, als könnte sie kaum kriechen. Nom d'un chien – es wird das beste sein, den Fetzen da möglichst rasch zu wechseln.«
Während er eiligst diesen Entschluß ins Werk setzte, hatten Philipp Collin und seine welke Braut rasch die Bahnhofshalle passiert. Philipp erfüllte sie mit nasalen amerikanischen Versicherungen, daß sie die größte Eile hätten, und sie sekundierte ihm mit einer Schauspielkunst, deren er sie nie für fähig gehalten hätte. Nach einigen Sekunden Eilmarsch über den Perron waren sie bei dem Wagen Nummer 5 des Abendexpreß angelangt, sie kletterte schwerfällig hinauf, von Philipp unterstützt. Als sie drinnen waren, beugte er sich über sie und flüsterte, noch immer englisch:
»Haben Sie etwas gesehen?«
»Ja, aber ich glaube nicht, daß man mich erkannt hat. Wo gehören wir hin?«
»Hierher,« sagte er, nachdem er sein Billett angesehen hatte, und schob sie in ein Coupé. »Schauen Sie noch einmal vorsichtig hinaus, lassen Sie das Licht schräg auf Ihr Gesicht fallen, und sagen Sie mir dann, ob Sie etwas sehen.«
Seiner Weisung folgend beugte sie sich vor und sah hinaus. Im selben Augenblick wurden die letzten Waggontüren zugeschlagen, ein Ruck, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Blicke auf einen Punkt am Eingang der Bahnhofshalle geheftet, flüsterte sie:
»Gott sei Dank, die Gefahr ist vorüber. Man hat nichts gemerkt. Der mir nachspionierte, geht eben mit sehr enttäuschtem Gesicht seiner Wege ...«
Philipp, der unauffällig der Richtung ihres Blicks gefolgt war, sah einen hochaufgeschossenen, schmächtigen Herrn mit einem letzten niedergeschlagenen Blick auf den fortrollenden Zug vom Perron verschwinden. Philipp zuckte heftig zusammen. Wo hatte er doch dieses Gesicht schon gesehen? Er konnte auf alles in der Welt schwören, daß er es irgendwo gesehen hatte, daß er es kannte und vielleicht auch seinen Besitzer. Aber wo, wo? Er beschloß, darüber nachzudenken, wenn er allein war und wandte sich seiner Begleiterin zu, die in die Coupéecke gesunken war.
»Nun also, Madame,« sagte er. »Soweit ist es ja gut gegangen. Wir wollen hoffen, daß das Glück uns treu bleibt. Nun habe ich nur noch vergessen, Sie auf eines vorzubereiten.«
»Was denn?« fragte sie mit einem dankbaren Lächeln.
»Ihren Namen. Ihren wirklichen Namen habe ich nicht die Ehre zu kennen, hingegen weiß ich den, den Sie in den nächsten zwölf Stunden führen werden.«
»Frau Professor Pelotard.«
Sie sprang auf und starrte ihn mit Blicken voll empörten Staunens an. Er zuckte die Achseln und lächelte spöttisch.
»Da Sie doch auf mein Billett reisen,« sagte er. »Gott sei Dank reserviere ich immer zwei Abteilungen. Und seien Sie ganz ruhig, Madame, es ist eine Wand dazwischen, und die Tür läßt sich verriegeln.«