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worin Herr Collin Minorca verläßt
Es war kaum neun Uhr, als Philipp am nächsten Morgen in einer Kajüte erwachte, die er zuerst nur schwer identifizieren konnte. Draußen knatterten dumpfe Schüsse, die ihn vermutlich geweckt hatten und ihm nach einigen Minuten sagten, wo er sich befand.
An Bord des russischen Panzerkreuzers »Zar Alexander«, wo am Tage vorher eine remarkable Hochzeit gefeiert worden war, als spezieller Gast Großfürst Michael Nikolajewitschs von Rußland.
Mit einem Sprung und einem Pfiff war Philipp aus dem Bette, machte im Handumdrehen Toilette – seine Kleider sprachen wenig dafür, daß er der feinsten Hochzeit seines Lebens beigewohnt hatte – und war zehn Minuten nach dem Erwachen auf dem Verdeck.
Die Sonne strahlte, der Wind sang, und der Morgenhimmel wölbte sich tiefblau und unendlich hoch über Minorca. Philipp hatte ein Gefühl im Gehirn, als ob es hineingeregnet hätte – teils Champagner, teils irgendein anderes verjüngendes Naß.
Ein lächelnder russischer Marineoffizier, ein Freund von dem nächtlichen Champagnergelage, stürzte herbei und salutierte.
»Ich war gerade auf dem Wege zu Ihnen, Professor. Seine Hoheit, der Großfürst, wünscht das Vergnügen Ihrer Gesellschaft bei einem Morgenbier.«
Philipp brach in ein schallendes Gelächter aus, das er vergeblich zu unterdrücken suchte; ihm war plötzlich ein Nachmittagsbier in einer kleinen Schenke am Gänsemarkt in Hamburg eingefallen. Wahrhaftig, alle seine Gewohnheiten hatte Seine Hoheit doch nicht geändert. Die Nüchternheit der schwedischen Marine hatte in ihm offenbar keinen Anhänger gefunden.
Er fand den Großfürsten bei dem erwähnten Morgenbier, das höchst unmilitärisch auf dem Kompaßtisch auf der oberen Kommandobrücke stand. Seine Hoheit empfing ihn mit einem wohlbehaglichen Grunzen und wies mit einer verführerischen Geste auf die aufgetischten Erfrischungen.
»Verdammt frischer Morgen,« sagte er. »Einen Durst habe ich, einen Durst! Wie haben Sie geschlafen? Nehmen Sie ein Gläschen!«
»Danke,« sagte Philipp, sich verbeugend. »Das wird fein schmecken. Und Kaviar – allerhand Hochachtung!«
»Kaviar, ja, und ich will Gift drauf nehmen, daß das der beste ist, den Sie im Leben gegessen haben – falls Sie nicht zufällig den Alleinherrscher aller Russen kennen und auch ihm das Leben gerettet haben.«
»Noch habe ich dieses Vergnügen nicht gehabt,« sagte Philipp. »Aber nun ich seinen Kaviar gekostet habe, werde ich mir nicht Rast noch Ruhe gönnen, bis dies nicht der Fall ist.«
»Hier ist sein Wodka,« fügte der Großfürst hinzu. »Was sagen Sie dazu, taugt der etwas?«
Philipps Antwort war, die Augen fromm zu schließen, während er den kaiserlichen Branntwein langsam die Kehle hinabrinnen ließ. Es bedurfte nicht erst der Worte des Großfürsten, um ihm zu sagen, daß er nie etwas Ähnliches getrunken hatte und wahrscheinlich auch nicht trinken würde. Er goß ein Glas Bier hinab, nahm dann noch einen Schnaps und drei Kaviarbrötchen zur sichtlichen Befriedigung Seiner Hoheit.
Dann seufzte er wohlbehaglich auf und zündete sich eine Zigarette an.
Dem Großfürsten war plötzlich etwas eingefallen, er sagte:
»Ja richtig, man hat aus dem neuen Boote nach Ihnen signalisiert.«
»Nach mir? Aus dem neuen Boote?«
»Ja, das vor einer Stunde gekommen ist, englische Yacht, ›The Petrel‹, mit einem Juden an Bord. Sie liegen drinnen im Hafen.«
Philipp starrte in den Hafen – er merkte erst jetzt, wie weit davon entfernt der »Zar Alexander« war –, da lag eine weiße Yacht mit englischer Flagge vor Anker. Dann sah er seinen Gastgeber verständnislos an.
»Ein Jude?«
»Ja, Isaacs oder so irgendwie.«
»Isaacs! Ist Mr. Isaacs auch hier? Ja, kommt denn die ganze Welt nach Minorca! Was will er?«
»Er fragte, ob wir Sie vielleicht gesehen hätten. Er war sehr unruhig. An Bord Ihrer Yacht glaubte man, Sie seien tot oder von den Rebellen gefangengenommen. Man bat um Hilfe, um Sie zu befreien.«
»Ich kann mir denken, daß Kapitän Dupont halb von Sinnen gewesen ist,« murmelte Philipp. »Sämtliche Passagiere verschwunden!«
»Ich erwiderte, daß Sie hier an Bord sind. Der Jude fragte, ob wir Sie ihm schicken könnten. Ich sagte, zuerst müssen Sie Ihr Morgenbier haben. Ich hatte den Eindruck, daß der Mensch das nicht kapierte.«
Philipp lachte.
»Hat er etwas gesagt?«
»Ja, und es sah aus, als wollte er etwas Unschmeichelhaftes über Sie bemerken, aber dann überlegte er es sich. Er hatte wohl vor meinen Kanonen Respekt.«
»Höchstwahrscheinlich,« sagte Philipp. »Er hat sie übrigens gemacht, wenn ich nicht sehr irre.«
»Was gemacht? Die Kanonen?«
»Ja, er hat die Aktienmajorität von Vickers und Maxim.«
Der Großfürst stieß einen Pfiff aus.
»Da seh mal einer! Der Kerl ist also reich?«
»Man könnte es sagen,« meinte Philipp trocken. »Vor einer Woche hat er die ganze Staatsschuld von Don Ramons Reich aufgekauft – auf meinen Vorschlag. Wie Sie wissen, kam die Revolution dazwischen, und da man alle Schulden abschrieb, verlor Mr. Isaacs 1 250 000 Pfund. – Ich glaube nicht, daß ihm das viel machte, wenn er auch sicherlich aus Prinzip das Gegenteil behauptet. Und wenn ich Eure Hoheit um die Erlaubnis bitten darf, möchte ich mich jetzt entfernen und mit ihm über diese Angelegenheit sprechen.«
»Entfernen?« sagte der Großfürst, der mit ganz erstaunten Augen zugehört hatte. »Lassen Sie doch lieber den Mann zum Morgenbier herkommen, dann können Sie sich mit ihm aussprechen. In einer Stunde wird gefrühstückt. Die ganze Staatsschuld auf Ihren Vorschlag aufgekauft! Sie sind doch ein Teufelskerl.«
Philipp verbeugte sich lachend.
»Hoheit übertreffen sich selbst an Liberalität. Wollen Hoheit Order geben?«
Der Großfürst rief irgend etwas auf russisch seinem Adjutanten zu, der stumm an einer Ecke der Kommandobrücke wartete. Nach einer Minute begannen die Signalflaggen den Mast des »Zar Alexander« hinaufzutanzen, und es dauerte nicht lange, so ruderte ein Boot von der weißen Yacht im Hafen weg. Nach fünf Minuten war es bei dem russischen Panzerkoloß angelangt, und ein elegant gekleideter Herr mit schwarzem Mephistobart und überaus ernster Miene nahm die Treppe zum Verdeck mit drei Schritten.
»Wo ist der Professor?« hörte Philipp ihn rufen. »Man hat signalisiert, daß ich herkommen soll. Ist er hier im Gefängnis?«
»Im Gefängnis?« antwortete eine lachende Offiziersstimme. »Der Professor ist auf der oberen Kommandobrücke. Diesen Weg, Sir!«
Philipp hörte hastige Schritte die Treppe hinaufkommen, und nun stand Mr. Isaacs auf der Kommandobrücke.
Philipp ging ihm lächelnd entgegen.
»Guten Morgen, Mr. Isaacs. Wie geht es? Wie in aller Welt kommt es, daß Sie da sind?«
Mr. Isaacs betrachtete ihn mit Augen, die nichts weniger als heiter blickten.
»Ich bin hierher gekommen, um zu versuchen, 1 300 000 Pfund zu retten,« sagte er kalt. »Wundert Sie das? Hätte ich des Parlamentes wegen früher abkommen können, so seien Sie überzeugt, daß ich es getan hätte. 1 300 000 Pfund von ein paar Schwindlern einfach abgeschrieben! Eine feine Geschichte, wirklich eine feine Geschichte! Und Sie trinken Ihr Morgenbier!«
»Aber, Mr. Isaacs, wenn Sie wüßten, wie heiß das Klima hier ist! Aber lassen Sie mich Sie Seiner kaiserlichen Hoheit vorstellen.« Mr. Isaacs prallte zwei Schritte zurück und sah Philipp an wie einen Wahnsinnigen.
»Ja, Seiner kaiserlichen Hoheit, Großfürst Michael von Rußland, der so gütig war, mich zum Morgenbier zu bitten und Sie hierher einzuladen!«
Mr. Isaacs Hut flog blitzschnell vor dem Großfürsten ab, der zur Antwort freundlich nickte.
»Sie machen unsere Kanonen?« sagte dieser. »Ist etwas gefällig? Wodka oder Kaviar – bedienen Sie sich!«
Mr. Isaacs, der für den Augenblick seine Aktien von Vickers & Maxim vergessen hatte, wie überhaupt alles außer Minorca, starrte einen Augenblick bald ihn, bald Philipp an, jetzt offenbar ganz im klaren darüber, daß er an Bord eines schwimmenden Tollhauses war. Dann sich vermutlich an grausige Geschichten von der Knute, dem Leben in Rußland und den exzentrischen Einfällen seiner Großfürsten, wenn man ihnen nicht gehorchte, erinnernd, nahm er eiligst ein Kaviarbrötchen, goß ein Glas Wodka, das Philipp ihm servierte, hinunter und warf einen raschen Blick auf seine Yacht zurück.
»Ich glaube, ich sehe, daß ich fortkomme,« murmelte er, »Lichterloh verrückt! Feine Geschichte!«
Der Großfürst, der ihn mit dem tiefsten Ernst beobachtet hatte, sagte:
»Wollen Sie mir das Vergnügen machen, an Bord zu frühstücken, Mr. Isaacs? Ich überlasse Sie jetzt Ihrem Freunde, dem Professor, da können Sie bis zum Frühstück Ihre Angelegenheiten erledigen. In einer Stunde essen wir ... Keinen Widerspruch, wenn ich bitten darf!«
Er runzelte leicht seine starken Augenbrauen, und nach einem sehnsüchtigen Blick auf seine Yacht beeilte sich Mr. Isaacs unter eifrigen Verbeugungen ja zu sagen.
Aber kaum war der Großfürst außer Hörweite, als seine Gefühle losbrachen.
»Hören Sie mal, Professor, was zum Teufel soll das bedeuten? Was zum Geier meinen Sie eigentlich? Sie locken mich in ein Geschäft von 1 300 000 Pfund, am nächsten Tage wird Revolution gemacht, Sie telegraphieren, daß Sie sich nach Minorca begeben, um zu sehen, ob alles verloren ist, und als ich hinkomme, finde ich Sie an Bord eines Schiffes, zechend mit einem ...« er hielt rasch inne ... »einem Menschen, von dem Sie behaupten, daß er ein Großfürst von Rußland ist. Was hat er denn damit gemeint, daß ich seine Kanonen mache?«
»Vickers & Maxim,« sagte Philipp. »Haben Sie da nicht die Aktienmajorität? Ich habe es ihm wenigstens gesagt.«
Mr. Isaacs schwieg eine Sekunde, über diesen Punkt beruhigt, dann fuhr er ebenso heftig fort wie zuvor:
»Aber was zum Kuckuck meinen Sie, was fällt Ihnen denn ein, von Ihrer Yacht durchzubrennen – der Kapitän ist halb verrückt vor Angst um Sie – und hier Bier zu trinken? Warum lassen Sie ihn nicht lieber Minorca beschießen und die Rebellen zwingen, uns zu bezahlen? Wenn Sie wenigstens das täten! Aber nein, es muß gefrühstückt werden!«
Es war Philipp unmöglich, sich länger zu beherrschen. Zu Mr. Isaacs' unaussprechlicher Empörung brach er in ein schallendes Gelächter aus, dann sagte er:
»Ich kann mir nicht helfen, Mr. Isaacs, aber wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären, Sie hätten sicher auch hier Bier getrunken. Fürs erste ist der Großfürst ein alter Freund von mir.«
»Ein alter Freund von Ihnen? Hol' mich der und jener – toll, lichterloh verrückt!«
»Ein alter Freund von mir,« wiederholte Philipp. »Ich lernte ihn in einer Bierhalle in Hamburg kennen. Also konnte ich mich nicht weigern, mit ihm ein Glas an Bord seines Fahrzeugs zu trinken. Fürs zweite – er machte eine sekundenlange Pause, um Mr. Isaacs' Gesichtsausdruck zu genießen – fürs zweite mußte ich das freudige Ereignis dieser Nacht feiern.«
»Das freudige Ereignis dieser Nacht? Daß Sie von der Yacht durchgingen und den Kapitän sieben Stunden lang in Mahon herumlaufen und Sie suchen ließen?«
»Nicht so sehr das,« ergänzte Philipp, »wie daß die Revolution in Minorca dabei glücklich in fünf Stunden vom Großherzog und mir in Kompagnie abgeschlossen wurde.«
»Großher ... in Kompagnie ... abgeschlossen ...« Mr. Isaacs konnte kaum mehr sprechen.
»Ja gewiß, und dann, daß der Großherzog eine Partie von einigen Dutzend Millionen Rubeln gemacht hat und mein ewig verpflichteter Freund ist, namentlich, da er sich mit meiner Frau verheiratet hat.«
Das war zuviel für Mr. Isaacs. Seine Angst vor dem Großfürsten, seinen Verlust vergessend, alles, außer daß er aus dem Bereich des Professors kommen mußte, der vermutlich jeden Augenblick gewalttätig werden konnte, stürzte er mit einem heiseren Schrei auf die Treppe zu, die zum Verdeck des Kreuzers führte. In der letzten Sekunde gelang es Philipp, der sich vor Lachen kaum aufrecht halten konnte, ihm den Weg zu versperren. Während Mr. Isaacs Blicke, nach einem Bootshaken oder irgendeiner anderen Waffe spähend, über das Verdeck flogen, vermochte Philipp endlich zu stammeln:
»Aber, Mr. Isaacs! Sie kennen mich doch – Sie wissen doch, daß in meinem Wahnsinn Methode zu sein pflegt! Jedes Wort, das ich gesagt habe, ist so wahr wie das Evangelium, wenn sich auch das Ganze wie ein Räuberroman anhört. Lassen Sie mich Ihnen alles in Ruhe und Frieden erzählen, und sagen Sie dann, ob Sie mir mein kleines Morgenpilsner noch mißgönnen.«
Mr. Isaacs sah ihn an, noch durchaus nicht von seiner Ungefährlichkeit überzeugt; dann, nachdem er vorsichtig den Kompaßtisch zwischen sich und Philipp geschoben hatte, sagte er kurz:
»Erzählen Sie!«
Und Herr Collin, noch hie und da über den Gesichtsausdruck seines Zuhörers auflachend, begann zu erzählen – eine Erzählung, die vierzig lange Minuten währte und von dem großen Finanzmann anfangs mit Mißtrauen, dann mit atemloser Spannung angehört wurde, und schließlich unter einem Regen von Ausrufen: By Jove! Sie lügen! Endlich war er überzeugt, und, seine Verschanzung verlassend, kam er mit ausgestreckter Hand auf Philipp zu.
»Verzeihen Sie mir, Professor,« sagte er. »Vergessen Sie alles, was ich gesagt habe! Sie verdienen ein Faß Pilsner jeden Morgen Ihres Lebens ... Sie sind ein großer Mann, ein großer Mann, und ich bin Ihr ergebenster Diener. Die Revolution unterdrückt, der Großherzog von Ihnen gerettet, seine Gemahlin von Ihnen gerettet, und einige Dutzend Millionen als Mitgift. By Jove ... by Jove! Es wäre fast ein Waterloo geworden – Sie sind tüchtiger als Napoleon! Sie haben ein Austerlitz daraus gemacht!«
»Mr. Isaacs, Mr. Isaacs, keine Übertreibungen! Es ist ja mehr dem Zufall zu danken als mir. Und schließlich und endlich, was hätte Ihnen eine und eine Viertel Million weniger ausgemacht!«
Mr. Isaacs' Gesicht umdüsterte sich für einen Augenblick, aber erhellte sich gleich wieder.
»Das sieht Ihnen ähnlich,« sagte er. »Sie sind immer leichtfertig mit meinem Gelde umgegangen. Aber diesmal verzeihe ich Ihnen. Es ist doch merkwürdig, wie der Zufall Ihnen immer zu Hilfe kommt!«
Ein sich verbeugender, salutierender Offizier stand plötzlich vor ihnen.
»Seine Hoheit bittet Sie zum Frühstück, meine Herren!«
Mr. Isaacs warf einen raschen Blick auf die Kaviarbrötchen und den Wodka.
»Glauben Sie, dort unten gibt es noch mehr derlei?« flüsterte er Philipp zu. »Das war wohl das beste, was ich in dieser Richtung je gekostet habe, wie schlimm mir auch zumute war, als ich es bekam.«
»Sicherlich gibt es noch mehr derlei,« sagte Philipp, »wenn ich Seine Hoheit den Großfürsten recht kenne! Und es wundert mich nicht, daß Sie seine Ware billigen, Mr. Isaacs – nicht jeden Tag essen Sie den Kaviar des Kaisers von Rußland und trinken höchstdesselben Wodka.«
Als das Frühstück zu Ende war – und es endete weder zu früher Stunde, noch in gedrückter Stimmung – spürte Philipp, der in einer Ecke des Raumes mit Mr. Isaacs beratschlagte, was zunächst zu tun sei, einen Schlag auf seine Schulter. Es war Don Ramon, der mit seiner neugebackenen Gemahlin neben ihm stand.
»Professor,« sagte er, »wir haben etwas mit Ihnen zu besprechen.«
»Und ich errate, was es sein wird,« sagte Philipp lächelnd. »Die Affäre der Staatsschuld des Großherzogtums Minorca, nicht wahr?«
»Sie haben recht. Es gelang Ihnen, uns gestern abend durchzugehen – heute nacht, meine ich. Wollen Sie jetzt die Güte haben, uns zu erklären, was Sie gemeint haben. Sie entschuldigen, Mr. Isaacs?«
Philipp lächelte wieder.
»Um alles in der Welt, Hoheit,« sagte er. »Es schadet nichts, wenn Mr. Isaacs zuhört. Richtiger gesagt, er soll zuhören, denn mit seinem Gelde habe ich doch den Coup gemacht.«
Der Großherzog lachte verständnisvoll.
»Sie haben sich gehütet, Ihr eigenes bei einer so zweifelhaften Unternehmung zu riskieren?«
»Im Gegenteil, Hoheit. Die Unternehmung war vortrefflich, und ich riskierte, was ich konnte, aber der Löwenanteil des Geldes kam von Mr. Isaacs.«
»Erzählen Sie, Professor, erzählen Sie!«
Und Herr Collin, dessen Zunge selten oder nie soviel in Anspruch genommen worden war, zum Essen, zum Trinken und zum Erzählen, wie in den letzten zwölf Stunden, begann zu berichten – ein Bericht, der diesmal nicht von Mr. Isaacs unterbrochen wurde, welcher vielmehr stolz lächelnd zuhörte, sondern von Don Ramon und der jungen Großherzogin. Als er zu Ende gekommen war, sagte der Großherzog langsam:
»Ich möchte Sie bitten, mir einen Gefallen zu erweisen, Professor.«
»Alles, was ich tun kann, steht zu Ihrer Verfügung, Hoheit.«
»Wollen Sie mir also die Freundlichkeit erweisen, an Ihr Vaterland zu schreiben ...«
»Sein Vaterland,« unterbrach Mr. Isaacs zum ersten Male. »Was ist denn sein Vaterland?«
»Schweden,« sagte der Großherzog erstaunt. »Wußten Sie das nicht?«
»Er hat es mir nie sagen wollen, Hoheit. Schweden ...!« Mr. Isaacs sah Philipp lange gedankenvoll an.
»Ja, Schweden,« wiederholte der Großherzog. »Wollen Sie also nach Schweden schreiben, Professor, und einige Dutzend Ihrer Landsleute bewegen, auch nach Minorca zu kommen? Mein armes Land braucht sie. Sind sie so wie Sie, dann wird Minorca in zehn Jahren so reich wie die Vereinigten Staaten sein. Klugheit und Mut – das geht nicht alle Tage zusammen.«
»Ach, Hoheit,« sagte Philipp mit einem leichten Erröten, »ich fürchte, daß meine Landsleute schon zuviel an die Vereinigten Staaten denken – und ich ... ich habe eigentlich nicht viel Recht, mich einen Schweden zu nennen ... es ist schon lange her, seit ich Schweden verlassen habe ...«
»Sollten Sie einmal ein Vaterland brauchen,« sagte Don Ramon, »so wissen Sie, wo Sie es finden können, und anstatt mir ein paar Dutzend Ihrer Landsleute zu verschreiben, können Sie sich ja ebensogut allein in Minorca niederlassen!«
Philipp verbeugte sich lächelnd und wußte nicht, was er sagen sollte, als Großherzogin Olga sich plötzlich an ihn wandte und in die Konversation eingriff.
»Sie sagten mir in Marseille, bevor Sie mich noch kannten, der, welcher diesen Börsencoup gemacht hat, hat ihn gemacht, um zu gewinnen. Nun haben Sie ihn gemacht. Wollen Sie mir sagen, wieviel Sie zu gewinnen berechnet haben?«
Philipp wurde es unbehaglich zumute. Nicht umsonst gehörte er der Nation an, der Don Ramon eben solche Anerkennung gespendet hatte. Vor dem Blick aus den blauen Augen der jungen Fürstin erschien ihm plötzlich der ganze Börsencoup und der Gewinn, den er daraus zu ziehen gedacht hatte, unangenehm, beinahe schmutzig. Nach ein paar Sekunden des Zögerns sagte er hastig:
»Das kann ich nicht sagen ... eigentlich war ja nicht ich es ... Fragen Sie Mr. Isaacs!«
Die Großherzogin wandte sich dem großen Finanzmann mit jener Ruhe und Geschäftsmäßigkeit zu, die ihr zu eigen war. Philipp erinnerte sich plötzlich an ihre kleine Abrechnung in Marseille vor der Reise nach Minorca.
»Mr. Isaacs, vielleicht wollen Sie mir also die nötigen Aufschlüsse geben?«
Der große Finanzmann begann zu erklären, während er seinen schwarzen Mephistobart strich:
»Mein Freund, der Professor,« sagte er, »hat ein Tableau darüber ausgearbeitet, was die früheren Inhaber der Staatspapiere daran verdienten. Ich glaube, die Ziffern variierten zwischen neununddreißig und sechs Prozent. Nehmen wir also als Durchschnitt fünfzehn, sechzehn. Aber ...«
Sie unterbrach ihn:
»Und der ganze Betrag, den Sie für Ihren Coup verausgabt haben, Kapital, Zinsen, Kosten?«
Mr. Isaacs sah sie etwas erstaunt an: Kapital, Zinsen, Kosten: eine ungewöhnliche junge Dame.
»1 300 000 Pfund, war mein Beitrag,« sagte er. »Der Professor hat 50 000 eingesetzt. Dies die Kosten. Die Zinsen, wenn wir sie berechnen sollten, wären ungefähr 1500.«
Sie lauschte aufmerksam; dann kam ihre nächste Äußerung, mit derselben Ruhe vorgebracht wie immer und, wenn irgend etwas, geeignet, ihre Zuhörer zu verblüffen.
»Welchen Preis würden Sie dafür verlangen, die Papiere jetzt sofort zu verkaufen?«
Der Börsenmatador starrte sie an und wiederholte, anscheinend ohne recht zu verstehen:
»Jetzt, sofort ...«
»Ja,« sagte sie ungeduldig, »jetzt, sofort. Welchen Preis würden Sie verlangen?«
Es dauerte noch eine halbe Minute, bis Mr. Isaacs zu begreifen schien, daß es ernst war; dann sagte er mit einem Blick auf Philipp:
»Wenn man mir, sagen wir mal, zwei Millionen bieten würde ...«
»Zwei Millionen,« unterbrach sie rasch. »Vortrefflich. Ich nehme Sie zum Zeugen, Professor Pelotard.«
Und bevor Philipp noch etwas sagen konnte, hatte sie sich rasch an den Tisch gesetzt, ein Scheckbüchlein aus einem kleinen gestickten Täschchen herausgezogen, dann eine Füllfeder, und während sie alle außer dem Großherzog mit weitgeöffneten Augen beobachteten, hatte sie rasch einen kleinen Papierstreifen ausgefüllt.
Dann erhob sie sich und sagte ruhig:
»Bitte sehr, Mr. Isaacs, dies ist Ihr Scheck. Darf ich Sie bitten, mir eine Bestätigung zu geben, daß Sie ihn empfangen haben, und daß die Staatsschuld des Großherzogtums Minorca bezahlt ist, bis auf 50 000 Pfund.«
Mr. Isaacs starrte sie wie ein Gespenst an, dann den Scheck. Er war auf den Credit Lyonnais in Paris ausgestellt, und auf der kleinen Mittelzeile, auf der die Buchstaben kaum Platz fanden, las er mit Augen, die sie nur schwer fassen konnten, die Worte: An Mr. Ernest Isaacs 50 000 000 Franken (Fünfzig Millionen Franken). Die größte Anweisung, die er in seinem Leben gesehen hatte ... eine Anweisung, die dessen würdig war, dem sie galt ... den Jahrhunderte alten Schulden des Großherzogtums Minorca ... Dann sah er wieder sie an und murmelte:
»Bis auf 50 000 Pfund?«
»Den Beitrag des Professors,« sagte sie ruhig. »Mit ihm haben wir eine besondere Abrechnung, Don Ramon und ich.«
Bei diesen Worten raffte sich Philipp endlich aus der Verblüffung auf, in die ihre vorhergehenden Worte und Handlungen ihn versetzt hatten.
»Hoheit,« sagte er, »ich habe 50 000 Pfund riskiert – ich habe nichts dagegen, sie wiederzubekommen, aber nicht einen Penny mehr! Als ich den Börsencoup machte, machte ich ihn gegen Unbekannte; wenn Sie mich nicht des Rechtes berauben wollen, Sie als meine Freunde zu betrachten, dürfen Sie nicht einmal von einer Abrechnung in Geld sprechen.«
Sie sah ihn an und nahm ein kleines, zusammengefaltetes Papier heraus.
»Sie weigern sich also, dies zu nehmen?«
Philipp öffnete den kleinen Zettel. Es war ein Scheck auf den Credit Lyonnais, von derselben Art wie der, den Mr. Isaacs eben empfangen hatte; und in seiner oberen Ecke leuchteten die Ziffern des Betrages:
Fünf Millionen Franken.
Philipp faltete ruhig das kleine Papier zusammen und wandte sich dem Tisch zu, auf dem die Wachskerzen für die Zigarettenraucher angezündet waren. Er hielt es in die Flamme einer der Kerzen und ließ es sich in Asche verwandeln, während Don Ramon und die Großherzogin ihn mit einem Lächeln betrachteten, Mr. Isaacs mit weitgeöffnetem Munde. Dann sagte die Großherzogin:
»Sie zwingen mich, noch einen Scheck zu schreiben – das ist nicht nett von Ihnen!«
»Ich hoffe, es ist nicht genug, um mich Ihrer Freundschaft zu berauben,« sagte Philipp. »Eine Million zweimalhundertfünfzigtausend Franken ist der richtige Betrag, wenn ich mich nicht irre.«
Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch und reichte ihm einen Augenblick später den Scheck. Philipp steckte ihn ein, während Don Ramon lächelnd sagte:
»Das ist der Vorteil, eine entschiedene und energische Gattin zu haben – man hat mir ganz einfach verboten, ein Wort in diese Sache dreinzureden. Der Haushalt muß ohne Schulden anfangen. Ich beginne schon, unter dem Pantoffel zu stehen, Professor.«
»Hoheit,« sagte Philipp, »ich weiß ja, was für ein Gefühl das ist!«
Und während die Großherzogin ihn errötend ansah, fügte er hinzu:
»Darf ich Ihre großherzogliche und kaiserliche Hoheit etwas fragen?«
»Aber gerne,« sagte sie. »Was denn?«
»Warum nannten Sie Ihren gegenwärtigen Gemahl nie bei seinem rechten Namen? Raoul, Roland, Ronald – alles mußte er heißen, nur nicht Ramon!«
Sie errötete noch lebhafter und faßte den Großherzog am Arm.
»Jetzt sind Sie aber nicht so scharfsinnig wie gewöhnlich,« sagte sie. »Natürlich, weil ich seinen Namen hören wollte!«
Am Nachmittag, bevor Philipp und Mr. Isaacs sich bereit machten, abzusegeln, waren sie und das großherzogliche Paar, der Großfürst und der alte Señor Paqueno zu Besuch auf dem Lande. Abteilungen russischer Matrosen patrouillierten auf den Straßen, wo das Volk noch scheu und verängstigt in zerstreuten Gruppen unter den Girlanden- und Flaggenstangen stand, die Don Ramon in aller Eile hatte aufstellen lassen, um seinen und der Großherzogin Einzug zu feiern. Reiter sprengten umher und proklamierten die Wiederkehr und die Vermählung des Großherzogs; von der Revolution verlautete kein Wort, dafür enthielten die Proklamationen aber eine andere Mitteilung: von diesem Tage an wurden alle Steuern in Minorca auf ein Zehntel dessen, was sie früher betragen hatten, herabgesetzt, und sollten womöglich noch weiter ermäßigt werden.
»Hoheit haben keine weiteren Revolutionen zu befürchten,« sagte Philipp. »Minorca geht einer hellen Zukunft entgegen.«
»Dank Ihnen,« sagte Don Ramon mit einem langen Blick auf ihn. »Und noch haben Sie mir nicht das Wunderlichste alles Wunderlichen erzählt: den Brief ... wie ...«
»Hoheit,« unterbrach Philipp, »diese Erzählung lassen wir sein. Sie eignet sich nicht für heute. Lassen wir sie mit Semjon Marcovitz und den sieben anderen begraben sein, die in eine namenlose Gruft gelegt wurden!«
»Sie haben recht,« sagte der Großherzog mit einem leichten Erschauern. »Sie haben recht! Sie eignet sich nicht für heute.«
Oben in dem alten Schloßgarten, wo die verrosteten Springbrunnen zum ersten Male seit langer Zeit etwas asthmatisch ihre Kaskaden hervorhusteten, und die wilden Feuerlilien aus dem Boden sprangen wie hundert gelbe Gasflammen, wandelte Mr. Isaacs in Gesellschaft des alten Paqueno herum. Sie hatten zusammen einige der Geschäftsbücher des Herzogtums Minorca durchgesehen, und der große Finanzmann war noch ganz von dem erfüllt, was er da gesehen hatte.
»Es ist wunderbar,« sagte er, »wunderbar! Unbegreiflich! Vierunddreißig Jahre, sagen Sie? Unglaublich! Mit solchen Gläubigern, solchen Ressourcen und einem solchen Renommee! Sagen Sie mir ...«
Er verstummte einen Augenblick, dann fuhr er fort:
»Sagen Sie – und Ihr Lohn?«
»Mein Lohn, Señor!« Der alte Paqueno lachte leise, zu glücklich, um verletzt zu sein. »Mein Lohn war die Zuneigung meines Fürsten und das Recht, mich als seinen Freund betrachten zu dürfen.«
»Und ... sonst nichts!« Mr. Isaacs' Stimme war voll mißtrauischer Zweifel.
»Und sonst nichts. Es ist mehr als genug für mich.«
Mr. Isaacs betrachtete ihn wieder.
»Sagen wir 5000 ... Ich meine: würden Sie eine Stelle bei mir übernehmen – es ist ja nicht fürstlich, aber doch auf jeden Fall – sagen wir 5000 Pfund jährlich ... für den Anfang ... ich habe mehrere faule – mehrere weniger gute Gesellschaften, und ...«
Der alte Paqueno lachte wieder.
»Ach, Señor, es ist zu spät,« sagte er. »Weder 5000 noch 10 000 Pfund verlocken mich mehr.«
Mr. Isaacs' Stirne umwölkte sich.
»Ah, ich verstehe, ein Konkurrent! Natürlich hat schon ein Konkurrent vor mir mit Ihnen gesprochen?«
Der alte Paqueno legte eine welke kleine Hand auf seine Schulter.
»Ja, ein Konkurrent, Señor. Aber ein Konkurrent von anderer Art, als Sie meinen. Ein kleines Kloster, Señor – ein kleines Jesuitenkloster in Barcelona. Dahin ziehe ich jetzt, wenn mein gnädiger Herr in seine neuen Verhältnisse gekommen ist. In eine kleine Zelle der Brüderschaft des heiligen Herzens in Barcelona, Señor.«
Mr. Isaacs starrte ihn an, ohne zu verstehen, starrte mindestens fünf Minuten. Dann erinnerte er sich an Herrn Collins Vorgehen mit dem Scheck und zuckte die Achseln. Es gab Dinge, die er wirklich nicht begreifen konnte.
Am Abend desselben Tages reisten Mr. Isaacs und Philipp Collin mit der Yacht des ersteren ab, nachdem er, Philipp, das großherzogliche Paar und Großfürst Michael an Bord des »Zar Alexander« eine Abschiedsmahlzeit eingenommen hatten, bei der zu Mr. Isaacs' Freude weder der kaiserliche Kaviar noch der Wodka fehlte. Dann wurde »The Petrel« dicht an den grauen Panzerkoloß herangeführt, und in einer kaiserlich russischen Jolle waren Philipp und der große Finanzmann in wenigen Sekunden bei ihrem eigenen Schiffe angelangt. Kapitän Dupont, den Philipp am Nachmittag verabschiedet hatte, war schon mit dem »Storch« abgefahren. Es dämmerte leicht; die Palmen im Westen zeichneten sich in Purpurkonturen vom Firmament ab, und der Abendhimmel wölbte sich wie ein welkendes Rosenblatt über dem alten Minorca. Vom Verdeck des »Zar Alexander« winkten der Großfürst, Don Ramon und die Großherzogin Mr. Isaacs und Philipp, während »The Petrel« langsam über das abendfarbene Mittelmeer glitt.
Herr Collin beugte sich über die Brüstung und rief:
»Nächstes Jahr komme ich mit Kapitän Duponts Boot nach Minorca! Und ich hoffe, daß sein Namensvetter dann schon auf Besuch war und die Thronfolge durch Don Ramon XXI. gesichert ist!«
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