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ein Frühlingsabend in Marseille
Am Nachmittag des 6. März 1910 gegen fünf Uhr konnte man einen brünetten Herrn in gutsitzendem grauen Anzug und graugrünem Ulster durch die Rue des Olives im Hafenviertel von Marseille gehen sehen. Der Abend war nach einem schönen Tage kühl, der schwarze Herr trug den Rockkragen bis zum Kinn aufgestellt und den Hut so tief in die Stirne gezogen, daß kaum mehr als sein Schnurrbart und ein Schimmer des Augapfels zu sehen war.
Er ging mit raschen Schritten, während er hie und da einen musternden Blick auf die Hausnummern warf. Bei Nummer 19 angelangt, blieb er stehen und betrachtete es für einen Augenblick.
Das Haus Nummer 19, das etwas abseits von den anderen lag, zeigte in seinem Äußeren gewisse Eigentümlichkeiten. Es war von einem Garten umgeben. Über dem Tor hing die Miniaturnachbildung eines Fahrzeugs, und über dem Dache flatterte eine französische Marineflagge in der Abendbrise. Nach allen Zeichen zu schließen, mußte es einem Seemann gehören.
Der graugekleidete Herr öffnete das Gartengitter und war nach einigen Schritten vor der Haustür angelangt. Er setzte den Türklopfer in Bewegung, ein Dienstmädchen öffnete.
»Ist Kapitän Dupont zu sprechen?«
»Wen darf ich melden?«
»Einen Herrn, der seine Yacht zu mieten wünscht.«
»Bitte einzutreten.«
Der Fremde wurde in einen kleinen Empfangsraum geführt, wo er sich in einem amerikanischen Schaukelstuhl niederließ.
Nach einer Minute öffnete sich die Tür, und ein untersetzter, etwas korpulenter Mann kam mit jenem wiegenden Gang herein, der den Seeleuten eigen ist. Sein Kopf war beinahe ganz kahl; das Gesicht kupferrot und von einem graumelierten Bart umgeben.
»Kapitän Dupont?«
»Der bin ich.«
»Man hat mir gesagt, daß Sie eine Yacht haben?«
»Man hat nicht gelogen.«
»Und daß sie zu vermieten ist?«
»Manchmal.«
»Auch für lange Fahrten?«
»Nur für lange Fahrten. Glauben Sie, man ist eine Küstenschnecke?«
»Um so besser. Wie berechnen Sie Ihren Preis?«
»Das kommt darauf an. Per Woche, wenn es sich nicht um exzeptionelle Sachen handelt.«
»Gut, und Ihr Preis per Woche?«
»300 Franken, außer Proviant und Kohle.«
»Das läßt sich hören. Sie kommen selbst mit?«
»Immer. Glauben Sie, man hat sein Handwerk verlernt, weil man schon in den Fünfzig ist?«
»Gewiß nicht, Herr Kapitän. Sind Sie augenblicklich frei?«
»Hm – ja.«
»Kennen Sie die balearischen Inseln?«
»Etwas. Bin dreimal dort gewesen.«
»Minorca?«
»Ja, aber Sie meinen doch nicht ...?«
»Minorca? Doch, ich meine Minorca.«
»Aber da ist doch Revolution.«
»Sie haben es gehört? Ja, da soll Revolution sein. Soll sein, Kapitän. Ich bin Journalist, und es interessiert mich, zu konstatieren, ob man gelogen hat.«
»Hm. Ich bin nicht Journalist und es interessiert mich nicht, ob es wahr ist.«
»Sie interessieren sich nicht für so exzeptionelle Sachen?«
»Es kommt darauf an. Nicht unter 500 die Woche.«
»Wann können Sie starten?«
»Übermorgen.«
»Ausgeschlossen. Spätestens heute abend.«
»Das ist keine lange Zeit. Ich könnte sagen, eine exzeptionell kurze Zeit.«
»Sagen wir also 550, außer dem Proviant, und Sie sind um halb elf Uhr fertig.«
»Vortrefflich. Aber es scheint heute nacht windig zu werden.«
»Haben Sie vor ein bißchen Wind Angst, Kapitän?«
»Ich! Ich dachte an Sie. Habe noch nicht gesehen, wie ein Journalist den Wind verträgt.«
»So werden Sie es heute abend sehen. Man hat mir gesagt, daß Ihre Yacht am östlichen Molo liegt.«
»Man hat auch darin die Wahrheit gesprochen. Wer hat Sie hergeschickt?«
»Ich versuchte heute morgen mit den Schiffen der Algiergesellschaft hinüberzukommen, aber man sagte mir, daß die Schiffe der Gesellschaft Minorca nicht mehr anlaufen.«
»Das konnte ich mir denken. Und da hat man Sie zu mir geschickt?«
»Ja, schließlich. Ich war zuerst bei einigen anderen.«
»Aber niemand wollte anbeißen, das glaube ich schon. Können Sie zu meiner Yacht finden oder soll ich Sie holen?«
»Ach, ich finde schon. Östlicher Molo – halten Sie gegen zehn Uhr nach mir Ausschau. Hier ist eine Woche Vorschuß und ebensoviel für den Proviant. Ich vergaß noch eine Frage: wie heißt die Yacht?«
»Macht nichts, da wir keine Dame als Passagier an Bord haben. Guten Abend, Kapitän Dupont, und halten Sie nach mir Ausschau, wie ich gesagt habe.«
»Aber wollen Sie denn keinen Kontrakt haben?«
»Man hat mir gesagt, daß das bei Ihnen nicht nötig ist.«
»Das gefällt mir, Monsieur, das gefällt mir. Man hat die Wahrheit gesprochen. Seien Sie ganz ruhig, wir segeln halb elf Uhr, und man wird schon nach Ihnen auslugen. Verzeihen Sie mir, wie ist Ihr Name? Der Sicherheit halber. Sie verstehen, Monsieur.«
»Professor Pelotard. Ich wohne im Angleterre. Guten Abend, Kapitän.«
Der Gast des Kapitäns verabschiedete sich, offenbar zufrieden mit dem Ergebnis seines Besuches. Der Kapitän begleitete ihn zur Tür. Kaum hatte er diese hinter ihm geschlossen, als es abermals klopfte. Er öffnete in der Erwartung, daß der Fremde etwas vergessen hatte. Doch anstatt seines letzten Gastes sah er zwei neue Herren vor sich.
Der eine war klein mit graugesprenkeltem Haar und goldgefaßten Pincenez. Sein Begleiter, der von Riesengestalt war, mochte ungefähr fünfunddreißig Jahre alt sein, er hatte einen aufgezwirbelten dunklen Schnurrbart und dunkle Augen, halb gleichmütig, halb mutwillig. Als er einen Schritt vorwärts machte, um den Kapitän zu begrüßen, merkte dieser, daß er hinkte.
»Spreche ich mit Kapitän Dupont?«
»Ja, womit kann ich dienen, meine Herren?«
»Dürfen wir um eine Unterredung bitten?«
Der Kapitän, etwas überrascht von den zwei einander so unmittelbar folgenden Visiten, ging in das kleine Empfangszimmer voran und sagte:
»Sie müssen entschuldigen, meine Herren, daß ich Ihnen nicht viel Zeit widmen kann. In spätestens fünf Minuten muß ich zum Hafen hinunter.«
»Gut, ich hoffe, wir können die Sache in noch kürzerer Zeit ordnen. Sie haben eine Yacht zu vermieten, nicht wahr?«
Es war der größere der beiden Herren, der das Wort führte.
»In der Regel, ja.«
»Man hat es uns gesagt. Und sie ist für lange Fahrten geeignet?«
»Ja, Messieurs, aber ...«
»Wobei Sie selbst als Kapitän mitfahren? Man hat uns gesagt, daß Sie als solcher vortrefflich sind. Was ist Ihr Preis für die Vermietung der Yacht?«
»In gewöhnlichen Fällen 300 die Woche, außer Proviant und Kohle. Aber Messieurs ...«
»Kennen Sie die balearischen Inseln?«
Der Kapitän brach in ein schallendes Gelächter aus.
»Gewiß, meine Herren. Auch Minorca. Denn Sie wollen doch nach Minorca?«
Die beiden Fremden betrachteten einander mit einer Bestürzung, die sie nicht verbergen konnten. Dann runzelte der, der bisher das Wort geführt hatte, die Stirne und sagte:
»Soll das ein Scherz sein, Kapitän Dupont, so ist es ein übel angebrachter. Welchen Anlaß haben Sie zu glauben, daß wir nach Minorca wollen?«
Der Kapitän hörte zu lachen auf, als er die Mienen seiner Gäste sah.
»Keinen anderen, als daß ich vor einem Augenblick den Besuch eines Herrn hatte, der mir ganz dieselben Fragen stellte wie Sie, und der die Yacht mietete, um nach Minorca zu fahren.«
»Die Yacht mietete! Sie meinen doch nicht, daß Ihre Yacht vermietet ist?«
»Doch, vor zehn Minuten.«
»Sie müssen ihm absagen.«
»Nie.«
»Wir bezahlen Ihnen 400 per Woche für die Yacht. Sie haben 300 verlangt, nicht wahr?«
»Sie ist für 550 vermietet.«
»Wir bezahlen 600.«
Der Kapitän errötete leicht.
»Man merkt, Messieurs, daß Sie nicht so gute Informationen über mich eingeholt haben, wie der Herr, der meine Yacht gemietet hat. Ich breche mein Wort nie.«
Die Fremden betrachteten ihn; es war unverkennbar, daß er die Wahrheit sprach. Noch einmal sahen sie sich gegenseitig mit bestürzten Blicken an. Dann begann der, der die ganze Zeit das Wort geführt hatte, wieder:
»Aber wir müssen nach Minorca, Kapitän. Wir müssen, hören Sie?«
»Nun wohl, mieten Sie eine andere Yacht.«
»Es gibt keine Yacht in Marseille, die nach Minorca fahren will. Und wir müssen hin, hören Sie?«
Der Kapitän zuckte die Achseln.
»Gut,« sagte er, »dann weiß ich nur einen Ausweg.«
»Und das wäre?«
»Daß Sie den Herrn aufsuchen, der meine Yacht gemietet hat, und mit ihm sprechen. Die Yacht ist klein, aber für vier Personen hat sie Raum.«
»Beim heiligen Urban, Kapitän Dupont! Das ist eine Idee! Und wie heißt der Herr, der Ihre Yacht gemietet hat?«
»Professor Pelotard, und wohnt im Hôtel d'Angleterre. Messieurs, Sie müssen entschuldigen, aber ich muß gehen. Ich habe schon zuviel Zeit versäumt. Wir segeln heute abend.«
»Heute abend, vortrefflich. Der Professor scheint es ebenso eilig zu haben wie wir. Um wieviel Uhr?«
»Um halb elf. Messieurs, ich empfehle mich. Sprechen Sie mit dem Professor, und geben Sie mir dann wegen des Proviants Bescheid. Ich liege am östlichen Molo.«
Der Kapitän, der sich eine Sportmütze aufgesetzt hatte, führte seine Besucher durch das Vorzimmer hinaus. Draußen dämmerte es, und die Gaslaternen waren schon angezündet. Der Himmel war bewölkt, ein Regen drohte.
Kapitän Dupont wies stumm auf die Wolken, um die Aufmerksamkeit seiner Gäste auf ihr Aussehen zu lenken. Dann lächelte er verbindlich und eilte die Rue des Olives hinunter.
Bei der nächsten Gaslaterne angelangt, blieb er mit einem Lachen stehen und rief seine Besucher an, die noch im Gespräch vor seinem Haustor standen.
»Messieurs!«
»Kapitän?«
»Ich möchte Sie etwas fragen. Sind Sie Journalisten?«
»Journalisten?«
»Ja, denn dann dürfte der Professor Sie nicht mitnehmen, da er selber einer ist.«
»Er ist Journalist? Nein, wir nicht.«
»Also, au revoir.«
Kapitän Dupont verschwand eiligst die Rue des Olives hinunter, und seine beiden Besucher gingen zur nächsten Straßenecke, wo sie eine Droschke anriefen.
»Hotel d'Angleterre, so rasch Sie können.«
Es ging fort. Nach einer Viertelstunde waren sie vor dem Hotel.
»Ist Mr. Pelotard zu sprechen?«
»Monsieur schreibt augenblicklich Briefe im Schreibzimmer. Wen darf ich anmelden, wenn er frei ist?«
»Melden Sie den Grafen von Punta Hermosa, und seien Sie so gut, dem Professor zu verstehen zu geben, daß die Angelegenheit wichtig und dringend ist.«
» Parfaitement, Herr Graf. Bitte, nehmen Sie Platz.«
Der Graf von Punta Hermosa ließ sich mit seinem Freunde in der Halle nieder und nahm sein Gespräch mit ihm wieder auf.
»Was für ein Interesse kann dieser Pelotard an Minorca haben, Paqueno?«
»Hoheit haben doch gehört. Ein Journalist, sagte der Kapitän. Die Nachrichten von der Revolution auf unserer unglücklichen Insel sind ja über ganz Europa verbreitet. Ach, daß Hoheit diesen Bekker nicht ausweisen ließen! Er steckt hinter dem Ganzen, Hoheit, glauben Sie mir!«
»Aber daß sich jemand für eine Revolution in Minorca interessieren kann!«
»Ach, Hoheit, wenn es sich um Aufruhr und Umsturz handelt, interessiert man sich auch für uns.«
»Sie haben recht, Paqueno – eine Revolution ist sogar in Montenegro interessant. Die Hauptsache für uns ist, nicht den Berufsneid dieses Pelotard zu erregen. Die Interessen, die uns nach Minorca ziehen, müssen in seinen Augen unschuldig sein. Was schlagen Sie vor?«
»Haben Hoheit nicht selbst irgendeinen Plan?«
»Lassen Sie mich nachdenken! Was würden Sie sagen, wenn wir zwei Glücksritter wären, auf dem Wege, dem neuen Präsidenten unsere Dienste zu erbieten? Die Armee muß reorganisiert werden, um den Tyrannen zu bekämpfen.«
»Hm.«
»Sie finden meinen Plan nicht glücklich, Paqueno?«
»Ich dachte vorzuschlagen, daß wir ganz einfach Privatinteressen in Minorca zu wahren haben, daß unser Eigentum in Gefahr steht. Ich glaube, das wäre ebensogut, und ist außerdem die Wahrheit.«
»Sie haben recht, Paqueno, und ich weiß ja, daß Sie sich immer an die Wahrheit halten, obgleich Sie jetzt schon vierunddreißig Jahre unser Finanzminister sind. Aber still, wenn ich nicht irre, haben wir hier den Professor. Beim heiligen Urban, überstudiert sieht er nicht aus!«
Sie starrten beide Herrn Philipp Collin an, der, nachdem er ein paar Worte mit dem Portier gewechselt hatte, jetzt auf sie zukam.
»Messieurs, Sie wünschen mich zu sprechen? Mein Name ist Professor Pelotard.«
Philipp verstummte und lächelte abwartend. Der Herr, der sich Graf von Punta Hermosa nannte, verbeugte sich und sagte:
»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin Graf von Punta Hermosa, und dies ist ein alter Freund, Señor Esteban. Wir haben uns die Freiheit genommen. Sie in einer Angelegenheit aufzusuchen, die für uns von größter Bedeutung ist. Sind Sie sehr beschäftigt, Herr Professor?«
»Ich esse in einer Stunde zu Mittag. Bis dahin stehe ich zu Ihrer Verfügung.«
»Ich danke. Wir brauchen wohl nicht solange Zeit, um unser Anliegen vorzubringen. Vielleicht werfen Sie auch uns gleich hinaus, wenn Sie es hören.«
»Aber, Messieurs!«
»Gerade zur Sache: Sie reisen heute abend nach Minorca?«
Philipp betrachtete den angeblichen Grafen erstaunt.
»Welchen Anlaß haben Sie, das zu glauben?«
»Sie werden es gleich verstehen, wenn ich sage, daß wir von Kapitän Dupont kommen.«
»Ah, Sie kommen von Kapitän Dupont?«
»Ja, und die Ursache, weshalb wir ihn besucht haben, ist dieselbe, die Sie heute nachmittag zu ihm führte.«
»Nämlich, Sie wünschen nach Minorca zu fahren?«
»Ganz richtig. Wie Sie wissen, geht keines der fahrplanmäßigen Schiffe nach der Insel.«
»Infolge der Revolution, ja.«
»Und in ganz Marseille scheint es nicht mehr als einen Menschen zu geben, der es wagt, zu der Mördergrube zu fahren.«
»Eben diese Erfahrung habe ich auch gemacht.«
»Und dieser Mensch ist Kapitän Dupont. Wir suchten ihn auf und wollten seine Yacht mieten. Wir kamen genau zwei Minuten nach Ihnen. Er sagte nein. Die Yacht wäre an Sie vermietet und der Preis vereinbart. Wir überboten.«
»Sie überboten!«
»Sie sehen, ich bin aufrichtig. Wir überboten. Kapitän Dupont weigerte sich. Der gute Kapitän wurde sogar böse.«
»Der Kapitän ist ein Gentleman. Das habe ich ihm gleich angesehen.«
»Sie mißbilligen unser Vorgehen?«
»Nein, aber ich billige das seine. Er hatte keinen Kontrakt mit mir unterzeichnet, und nichts hinderte ihn also, Ihr Anerbieten anzunehmen.«
»Nur sein Wort, Professor. Sie haben recht. Nachdem er sich geweigert hatte, auf unsere Anerbietungen einzugehen, machte uns der Kapitän einen Vorschlag.«
»Nämlich?«
»Daß wir Sie aufsuchen sollten. Mein Freund und ich sehen uns aus verschiedenen Gründen gezwungen, um jeden Preis nach der Insel zu fahren. Kapitän Duponts Yacht hat Platz für vier Personen. Wenn Sie also nichts dagegen haben oder nicht anderweitig verhindert sind, wagen wir es als eine Gunst von Ihnen zu erbitten, daß Sie uns mitnehmen. Natürlich wollen wir im Verhältnis bezahlen. Da Sie allein und wir zu zweien sind, bezahlen wir folglich zwei Drittel der Reisekosten.«
Philipp Collin betrachtete seine Besucher nachdenklich. Die offene Art, wie sie von ihrem Besuch bei Kapitän Dupont erzählt hatten, gefiel ihm, wie überhaupt ihr ganzes Aussehen. Sparsamkeit ist eine Tugend, wenn man 50 000 Pfund verloren hat; und Ungelegenheiten konnte es ihm nicht bereiten, wenn die beiden Herren mitkamen. Eher konnte es ihm von Nutzen sein, da sie sich in Minorca auskannten.
Er verbeugte sich.
»Ich habe es mir überlegt, meine Herren, und gehe mit Vergnügen auf Ihren Vorschlag ein. Ich habe nur eine Bedingung.«
»Und die wäre?«
Der Ton des Grafen von Punta Hermosa klang unruhig.
»Daß Sie zu Mittag meine Gäste sind.«
Der Graf und sein alter Freund lachten.
»Sie sind zu liebenswürdig, Professor. Wir werden uns in Minorca revanchieren, obgleich es unter den gegenwärtigen Verhältnissen schwer sein dürfte. Der Hotelbesitzer des Ortes ist der Vater des künftigen Präsidenten. Aber wir haben noch unser Gepäck ...«
»Meine Herren, viel Gepäck können wir wohl nicht mitnehmen. Die Yacht ist klein, und das Mindestmögliche ist am besten. Wohnen Sie weit von hier?«
»Im Hotel des Princes, zwei Schritte von hier.«
»Um so besser, dann haben Sie Zeit genug, alles vor dem Diner in Ordnung zu bringen. Wenn Sie die Sachen herbringen lassen, können wir ja gleich nach dem Mittagessen zusammen aufbrechen.«
Die beiden Besucher verbeugten sich. Im selben Augenblick kam ein Kellner auf Philipp zu.
»Pardon, Herr Professor!«
»Was gibt es?«
»Madame möchte mit Ihnen sprechen, Monsieur.«
»Sagen Sie ihr, daß ich sofort komme. Meine Herren, ich empfehle mich. Wir sehen uns also hier in dreiviertel Stunden.«
Philipp verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung.
»Paqueno,« flüsterte der angebliche Graf von Punta Hermosa, »er ist verheiratet!«
»Ich habe es so verstanden, Hoheit.«
»Kommt Ihnen das nicht wunderlich vor, Paqueno?«
»Warum denn, Hoheit?«
»Ich habe noch nie gehört, daß Journalisten sich auf ihren Expeditionen von ihren Frauen begleiten lassen.«
»Da er nach Minorca fährt, wo Revolution ist, Hoheit, – vielleicht will sie ihn noch ein letztes Mal in Marseille sehen.«
»Sie haben recht, Paqueno.«
»Oder vielleicht ist sie auch Journalistin. Man hört ja heutzutage so wunderliche Dinge von Frauen.«
»Dann würde sie wohl mit ihm nach Minorca kommen, aber er sagte ja nichts davon. Wissen Sie, Paqueno, was mich vorhin erschreckte?«
»Was denn, Hoheit?«
»Als dieser Professor von einer Bedingung sprach. Ich glaubte, bei Gott, er meinte Bezahlung im vorhinein. Da wären wir fein dagestanden, Paqueno.«
»Ja, leider, Hoheit. Wir müssen hoffen, ihm später bezahlen zu können. Augenblicklich haben wir wohl nicht mehr als Summa 400 in der Kasse.«
»Ich glaube, Sie könnten sagen 300, Paqueno, da Sie so sehr auf die Wahrheit halten. Nein, das geht nicht! Dieser Professor Pelotard ist ein Gentleman. Wissen Sie, was ich zu tun gedenke?«
»Von der Reise abzustehen, Hoheit? Ja, das wäre das allerbeste. Das ist ein tollkühnes Unternehmen, das sehr, sehr schlecht ausgehen kann. Das Volk ist aufgehetzt; und ohne Waffen ...«
»Aber, Paqueno! Ehe ich einem anderen das Vergnügen gönne, diese Revolution zu ersticken, will ich lieber gleich abdizieren oder Präsident Hernandez Treue und Gehorsam schwören. Und dieser Bekker! ... Nein, aber ich esse nicht mit einem Gentleman zu Mittag, den ich eventuell später um sein Geld bringen muß. Bevor wir uns zu Tisch setzen, gedenke ich ihm zu sagen, wie es mit uns steht.«
»Aber Hoheit, Hoheit!«
»Ja, Paqueno, das ist das einzig Richtige.«
Die Miene des alten Finanzministers wurde äußerst unglücklich. Aber er kannte von altersher den Starrsinn seines Herrn, und verzichtete mit einem Seufzer darauf, weiter auf ihn einzuwirken. Schweigend gingen die beiden Herren zur Hallentür hinaus.
Unterdessen war Philipp Collin, nachdem er das Mittagessen bestellt hatte, in das Zimmer geeilt, wo die angebliche Madame Pelotard auf ihn wartete. Er hatte sie noch nicht von seiner Abreise benachrichtigt, und war sich noch nicht einmal klar darüber, was er mit ihr anfangen sollte. M. Jacques hatte nichts von sich hören lassen, und Philipp, der die Stunden des letzten Tages damit verbracht hatte, sich über alles den Kopf zu zerbrechen, hatte sich ihn auch darüber zerbrochen, was wohl aus dem getreuen Chauffeur geworden sein mochte. Er hatte die Zeitungen durchforscht, ohne irgendeine Notiz über das Abenteuer zu finden, an dem er in Paris teilgenommen. Dies konnte bedeuten, daß der Chauffeur entkommen war, aber es konnte auch bedeuten, daß die mystische Madame Pelotard mit ihrer wunderlichen Behauptung recht hatte: Über mich wird nie etwas in die Zeitung kommen.
Philipp fand sie in ihrem Zimmer auf und ab gehend. Als er eintrat, eilte sie ihm entgegen und rief:
»Wo sind Sie denn solange geblieben? Ich habe Nachrichten von Jacques.«
Philipp gratulierte.
»Er hat sich gerettet, aber er kann den Ort nicht verlassen, wo er sich versteckt hält. Er hat Ihre Annonce gelesen und mit einem Freund eine Botschaft geschickt. Ich habe den ganzen Nachmittag auf Sie gewartet, um es Ihnen zu sagen. Ich reise morgen.«
»Und ich heute abend um halb elf Uhr. Es freut mich, daß M. Jacques entkommen ist und so vernünftig war ...«
Sie unterbrach ihn.
»Jetzt möchte ich aber meine Angelegenheit mit Ihnen regeln. Wollen Sie mir sagen, wieviel ich Ihnen schuldig bin!«
Philipp hatte nun schon Gelegenheit gehabt, den Charakter seiner Begleiterin kennenzulernen. Wäre es vor zwei Tagen gewesen, so hätte er wahrscheinlich an einer solchen Äußerung wie ihrer letzten Anstoß genommen – sicherlich Ausflüchte gemacht. Wie es nun war, lächelte er und nahm einen Bogen Papier vom Schreibtisch.
»Rechnen wir also,« sagte er. »Ein Billett nach Marseille.«
»Warten Sie, warten Sie. Sie gehen viel zu rasch,« unterbrach sie eifrig. »Erst im Café de la Paix ein Kognak.«
»Ja, ganz richtig,« sagte Philipp ernst, »ein Kognak, 1 Fr.«
»Dann ein Auto zum Hotel de l'Ecosse und zum Bahnhof und 5 Fr. für den Chauffeur.«
»Aber vom Auto muß ich die Hälfte bezahlen,« wendete Philipp mit dem gleichen Ernst ein.
»Nein, das ist nicht richtig,« protestierte sie, und dann vertieften sie sich in Calculs. Endlich war sie zufrieden und zog ein kleines Portefeuille heraus.
»456 Fr. und 40 Ct.,« sagte sie. »Ich habe kein Kleingeld, hier sind 500 Fr.«
»Ich werde sofort herausgeben,« sagte Philipp mit derselben geschäftsmäßigen Ruhe und begann in seiner Westentasche zu suchen. Sie nahm sein Kleingeld mit unerschütterlichem Ernst entgegen und steckte es in ihr Täschchen. Dann entnahm sie demselben ein kleines Etui.
»M. Pelotard,« sagte sie. »Sie waren für mich alles, was ein Gentleman nur sein kann. Keine Sekunde hatte ich es zu bereuen, daß ich mich so blind Ihrer Obhut anvertraute. Wollen Sie ... Wollen Sie ein Andenken an Ihre Reisekameradin annehmen, so würden Sie sie sehr glücklich machen ... sehr froh ...«
Sie verstummte und überreichte etwas verlegen das Etui, das im selben Augenblick unter einem Druck ihrer Finger aufsprang. Philipp starrte den Inhalt verblüfft an. Es war eine goldene Krawattennadel mit zehn gefaßten Diamanten im Kreise um eine mattschimmernde Perle. Sie war unter Brüdern ihre 2000 Fr. wert. Sein erster Impuls war, abzulehnen, aber bevor er noch etwas sagen konnte, kam ihm seine geheimnisvolle Reisegefährtin zuvor.
»Wenn Sie sich weigern,« sagte sie, »oder nur den Versuch machen, sich zu weigern, werde ich Ihnen nie verzeihen.«
Sie lächelte, als sie dies sagte, aber gleichzeitig zog sie ihre geraden schwarzen Augenbrauen mit einem solchen Ausdruck zusammen, daß Philipp zusammenfuhr: so mochte Anna von Österreich ausgesehen haben, als sie Herrn d'Artagnan den berühmten Diamantring überreichte. Sein Studium ihres Charakters in diesen ereignisreichen Tagen veranlaßte ihn, sich noch einmal ihrem Willen zu fügen, ohne sie zwecklos zu verletzen. Er verbeugte sich tief und murmelte einige Danksagungen, aber sie unterbrach ihn durch einen Wink, beinahe ebenso einer Königin würdig wie ihre Miene eben erst.
»Ich bin Ihre Schuldnerin,« sagte sie. »Was Sie getan haben, kann ich nie vergelten.«
Sie verstummte. Dann fügte sie hinzu:
»Sie reisen? Darf ich fragen wohin?«
Philipp lächelte.
»Sie werden zugeben, daß ich mitteilsamer bin als Sie, wenn ich antworte. Ich reise an einen Ort, für den Sie während der Zeit, die ich Sie kenne, ein sehr lebhaftes Interesse an den Tag gelegt haben ...«
»Nach Minorca?« ergänzte sie atemlos und mit weit aufgerissenen Augen.
»Nach Minorca.«
Sie fixierte ihn eine gute halbe Minute lang. Dann sagte sie langsam:
»Das ist mehr als seltsam. Wir treffen uns in Paris in einer Weise, die ... Sie sind auf dem Wege nach Marseille, ich auch; obgleich ich ohne Ihre Hilfe nie hingekommen wäre. Wir sind in Marseille zwei Tage zusammen, und als wir es verlassen sollen, stellt es sich heraus, daß Sie nach Minorca fahren ... Nach Minorca, wohin ich morgen abreise.«
Nun war an Philipp die Reihe, die Augen aufzureißen. Sie fuhr auch nach Minorca! Sie auch? Sie auch! Wahrhaftig, by Jove, sie hatte recht, das war mehr als seltsam. Fuhr denn die ganze Welt nach der kleinen Insel? Man konnte es glauben, wenn man es auch nicht begreifen konnte ... Er faßte sich rasch.
»Madame,« sagte er, »Sie haben recht. Das ist wirklich ein Zusammentreffen von Umständen, das mehr als seltsam ist. Es fehlt nur ein Detail in dem, was Sie sagten, um dieses Zusammentreffen noch seltsamer zu machen. Ich glaube, ich kann es supplieren.«
»Was für ein Detail?« fragte sie mit gerunzelter Stirn.
»Sie erwähnten es eben erst: Sie sagten, daß Sie in Paris auf dem Wege nach Marseille waren, aber ohne meine Hilfe nie hingekommen wären. Und ob Sie mir nun glauben wollen oder nicht, ganz ebenso verhält es sich, wenn Sie nun von Marseille nach Minorca fahren wollen!«
Sie sank auf das Sofa und betrachtete ihn mißtrauisch.
»Da ... das meinen Sie doch nicht,« sagte sie. »Das Schiff geht morgen um drei Uhr früh.«
»Das Schiff, Madame, ginge morgen um drei Uhr früh von hier nach Minorca, wenn nicht eine Sache dazwischengekommen wäre: daß die Minorcaner ihre kleine Revolution gemacht haben. Es schmerzt mich Ihretwegen, aber jeder Verkehr mit Minorca ist seit gestern eingestellt.«
Sie starrte ihn mit weit geöffneten Augen an, noch immer mißtrauisch.
»Und Sie – wie können denn Sie hinreisen?«
»Dadurch, Madame,« sagte Philipp artig, »daß ich einen Trust in den Fahrzeugen gemacht habe, welche noch Lust haben, nach Minorca zu gehen.«
»Einen Trust!«
»Der, das muß ich zugeben, ungewöhnlich leicht zu machen war. Es fand sich nämlich in ganz Marseille nur ein Kapitän, der willig war, eine Fahrt nach der Insel zu riskieren.«
»Und den haben Sie engagiert?«
»Den habe ich engagiert.«
Sie sah ihn eine gute halbe Minute lang forschend an.
»Sie müssen sehr triftige Gründe haben, nach Minorca zu fahren?«
»Ganz wie Sie, Madame.«
Es wurde still; sie saß da und sah vor sich hin, ohne etwas zu sagen, und Philipps Hirn, das schon früher mehr als genug zu grübeln gehabt hatte, summte von Gedanken. Wie sollte er sich in dieser neuen und mehr als wunderlichen Phase des Abenteuers betragen? Sollte er nein sagen, wenn sie ihn bat, mit an Bord des Storches kommen zu dürfen? War es zu verantworten, eine Frau in ein Land mitzunehmen, wo volle Revolution herrschte? Und was, was für Gründe hatte sie, in dieses Land zu fahren? Mit anderen Worten, wer war sie? Wie um eine Antwort auf seine Frage zu finden, betrachtete er sie so intensiv, daß sie es schließlich merkte und errötend auf dem Sofa wegrückte, auf dem sie saß. Philipp, der sich seiner indiskreten Blicke kaum bewußt gewesen war, wurde verlegen und wandte den Kopf zum Fenster, um dies zu verbergen. Da seine Blicke hinter den Scheiben nichts von Interesse fanden, senkten sie sich auf den Schreibtisch, der davor stand; und was sie da sahen, ließ ihn in der nächsten Sekunde einen halb erstickten Ausruf der Überraschung ausstoßen. Auf dem Schreibtisch stand eine ungerahmte Kabinettphotographie eines Herrn, und diese hatte seinen Ausruf veranlaßt.
Mit einem raschen Impuls wandte er sich seiner Reisekameradin zu, indem er auf das Porträt wies, sagte er lächelnd:
»Madame, ist das Jacques?«
Sie fuhr zusammen, aus ihren Gedanken gerissen, und warf ihm einen kleinen ärgerlichen Blick zu.
»Jacques? Wie kann man so dumm fragen! Glauben Sie, ich werde das Porträt meines Chauffeurs auf meinem Schreibtisch haben? Das ist mein Bruder Michael.«
Nun hatte Philipp ebensogut wie sie gewußt, daß die Photographie nicht M. Jacques vorstellte; denn im selben Augenblick, in dem er sie sah, hatte er das Original erkannt; und seine Frage war nur ein kleiner Versuch gewesen – ein Versuch, um zu sehen, ob sich diese geheimnisvolle Dame auch verraten könnte. Und, o Wunder! sie war in die Falle gegangen! Sie hatte ihm schließlich eine Aufklärung über sich selbst gegeben.
Das Porträt auf dem Schreibtisch stellte ihren Bruder vor.
Aber so wahr Philipp in diesem Zimmer stand, stellte es auch keinen anderen vor als den Mann auf der Gare de Lyon. Den Mann, der ihre Abreise beobachtet hatte, ohne sie zu erkennen, und dessen Namen Philipps Hirn seit zwei Tagen nachjagte. Also war dieser Mann ihr Bruder.
Ihr Bruder ... und hieß Michael ...
Aber wo hatte Philipp nur diesen Michael getroffen? Denn ebenso gewiß, als Philipp nun das Porträt auf ihrem Schreibtisch erkannt hatte, ebenso genau wußte er, daß er das Original auf der Gare de Lyon von irgendeiner vorhergehenden Gelegenheit kannte.
Michael ... wo ...
Mit einem Male, und zum unsäglichen Staunen seiner angeblichen Gattin vollführte Herr Philipp Collin einen Luftsprung, eines Indianers würdig, doch weniger eines Professors aus London. Heureka! Heureka! Er wußte es! Er wußte es, wer dieser Michael war, wo er ihn getroffen hatte, und wann!
Hamburg! ... Eine Januarnacht 1909. Das Nachtcafé Le Papillon de Nuit! ...
Aber wenn dieser Michael, dessen Porträt auf ihrem Schreibtisch stand, mit dem einigermaßen wahnsinnigen Herrn identisch war, den Philipp 1909 in Hamburg getroffen und mit dem er so mirakulöse Abenteuer gehabt hatte, die zu einer märchenhaften Belohnung für ihn selbst führten – wenn dieser Michael ihr Bruder war, wer war dann sie selbst?
Dieser plötzliche Gedanke ließ Herrn Collins Indianersprung ebenso rasch enden, als er begonnen hatte; seine Lippen, die sich zu einem unwillkürlichen Schrei geformt hatten, schlossen sich wieder, und er sank stumm und von der Entdeckung überwältigt auf einen Stuhl, von dem aus er seine Reisegefährtin ehrfurchtsvoll betrachtete.
Sie war bei dem Anblick seiner merkwürdigen Zirkusleistung aus ihren Gedanken aufgefahren und fixierte ihn voll Unruhe, offenbar im Begriff zu klingeln. Philipp faßte sich und sagte rasch:
»Verzeihen Sie mir, Madame, ein heftiges Stechen in der Kreuzgegend. Ich muß mich erkältet haben ... Ich bitte um Entschuldigung. Ich ...«
»Haben Sie öfters solches Stechen?«
»Nein – o nein – sehr selten. Ich wollte Sie eben etwas fragen, als es mich überfiel, eine Sache, die übrigens ganz natürlich ist.«
»Was denn?«
»Ob Sie sich auch weiterhin Professor Pelotards Schutz anvertrauen wollen? Ich meine, ob Sie noch immer daran denken, nach Minorca zu fahren? Brauche ich Ihnen erst zu sagen, daß meine Yacht und alles, was ich habe, zu Ihrer Verfügung steht, wenn Sie daran denken?«
Ihre Unruhe verschwand ebenso rasch, als sie aufgetaucht war; ihr Gesicht erhellte sich wie ein Sommerhimmel, und sie betrachtete Herrn Collin mit einem dankbaren Lächeln.
»Sie – Sie sind zu freundlich, zu freundlich,« sagte sie. »Ich wußte nicht, ob ich es wagen sollte ... ich fürchtete, Sie könnten es als ein unbequemes Anhängsel empfinden ... ich ...«
Er unterbrach sie mit einer artigen Verbeugung.
»Madame, Sie machen mir zuviel Komplimente. Es war doch so natürlich, Ihnen das anzubieten, daß ich es sofort getan hätte, wenn ich nicht an drei Dinge gedacht hätte und dann dieses Stechen in der Kreuzgegend gekommen wäre.«
»Und was waren das für drei Dinge?«
»Fürs erste, es ist Revolution in Minorca, und eine Frau ...«
»Revolution in Minorca! Ich habe schon größere Revolutionen gesehen ...« Sie brach ab, und Philipp, der nach seiner Entdeckung vorhin gern glaubte, was sie sagte, beeilte sich, fortzufahren:
»Fürs zweite wird heute nacht schlechtes Wetter sein.«
»Das macht gar nichts. Ich bin an die See gewöhnt.«
»Um so besser. Fürs dritte, wir sind nicht allein an Bord.«
Zum ersten Male schien sie beunruhigt zu werden.
»Nicht allein? Wieso? Ich glaubte, Sie hätten einen Trust gemacht, wie Sie sagten?«
»Ganz richtig, aber vor einer Stunde wurde ich von zwei Herren aufgesucht, die ebenso dringende Gründe wie ich selbst haben, nach der Insel zu fahren, und sie baten mich, sie mitzunehmen. Da ich nicht so grausam bin wie andere Trustkönige, sagte ich ja, namentlich da diese beiden Herren Gentlemen sind.«
»Wie heißen sie, wenn ich fragen darf?«
»Graf von Punta Hermosa, und ein alter Freund von ihm, Señor Esteban, sie haben auf der Insel Interessen wahrzunehmen. Aber Sie werden bald Gelegenheit haben, sich selbst zu überzeugen, was für Herren es sind.«
»Ich habe sie zum Mittagessen eingeladen, und wenn Sie nichts dagegen haben ...«
Sie lachte.
»Sie sind der liebenswürdigste Trustmagnat, den ich mir denken kann. Natürlich habe ich nichts dagegen. Aber verstehe ich Sie recht? Sie reisen noch heute abend?«
»Heute abend, um halb elf Uhr, Madame.«
»Und das sagen Sie mir erst jetzt! Ich muß doch packen.«
»Madame, Sie müssen Ihr Gepäck so sehr einschränken, als Sie können. Die Yacht ist klein. Aber leider haben Sie ja nicht viel zu packen!«
Sie winkte ihm munter ab.
»Gehen Sie jetzt,« sagte sie. »Einiges habe ich doch auf jeden Fall. Und ich muß ja noch Toilette zum Diner machen.«
Es könnte einem anderen wunderlich vorgekommen sein: sie schien mit einem Male in strahlender Laune, seit sie sicher war, daß sie nach Minorca fahren konnte! Aber Herrn Philipp Collin, der pfeifend wie ein Kanarienvogel in sein Zimmer ging, kam es gar nicht wunderlich vor.
Denn er wußte jetzt nicht nur, wer seine geheimnisvolle Reisekameradin war, sondern auch, dank dem Zufall, warum sie nach Minorca fuhr.
Als Philipp zehn Minuten später in die Halle des Hotels kam, fand er den Grafen von Punta Hermosa und Señor Esteban vor, die auf ihn warteten. Lächelnd ging er auf sie zu. Der Graf von Punta Hermosa erhob sich und kam ihm entgegen.
Zum ersten Male, und mit einiger Überraschung, bemerkte Philipp hierbei, daß er hinkte.
»Kann ich mit Ihnen sprechen, Professor?«
»Mit größtem Vergnügen.«
Sie gingen in eine Ecke des Raumes, während Señor Esteban in seinem Klubsessel sitzenblieb.
»Wenn ich vorgebracht habe, was ich auf dem Herzen habe, Professor, werden Sie mich entweder für verrückt halten oder für grenzenlos unverschämt.«
Philipp zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Ich verstehe nicht, aber ich bin vom Gegenteil überzeugt.«
»Sehen Sie, die Sache ist die, daß Kapitän Dupont heute nachmittag ein gutes Geschäft machte, als er unser Angebot abwies und bei Ihrem blieb. Der Lohn der Redlichkeit, könnte man sagen.«
»Wieso?«
»Wir hätten ihn nicht bezahlen können.«
Philipp starrte den Grafen an, um zu sehen, ob er scherzte. Aber nein, es schien Ernst zu sein. Allerdings lächelte er leise, aber dieses Lächeln schien eher eine Bitte um Entschuldigung als sonst irgend etwas. Nicht bezahlen können! ...
»Sie scheinen mich nicht zu verstehen,« sagte der Graf ruhig. »Wir hätten Kapitän Dupont nicht bezahlen können, oder richtiger gesagt, jetzt nicht bezahlen können, vielleicht in Minorca.«
»Vielleicht in Minorca?« wiederholte Philipp mechanisch.
»Je nachdem, was die Rebellen von meinen Gütern übriglassen ...«
Graf von Punta Hermosa hielt mitten im Satze inne und warf Philipp einen raschen Blick zu, wie um zu sehen, welche Wirkung diese Worte auf ihn hatten. Da Philipp, den Kopf noch voll von der Entdeckung, die er über seine Reisegenossin gemacht, kaum Raum für andere Gedanken hatte, deutete nichts in seinem Gesichte an, daß er an den Worten des Grafen etwas Ungewöhnliches gefunden hatte; und mit einem Achselzucken fuhr dieser fort:
»Nun wohl. Sie begreifen, daß, was heute nachmittag für den Kapitän Dupont galt, auch jetzt für Sie gilt. Ich hatte nicht den Mut, es zu gestehen, als ich vor einer Stunde mit Ihnen sprach, – richtiger gesagt, ich gedachte es zu machen wie gewisse Passagiere auf Amerikaschiffen, einsteigen und mich dann von Ihnen ins Wasser werfen lassen, wenn Sie wollen. Aber als Sie mich zum Mittagessen einluden, weckten Sie mein Gewissen ...«
Philipp brach in ein Lachen aus, das herzlichste seit langer Zeit, er empfand eine plötzliche unwiderstehliche Sympathie für diesen reckenhaften Herrn, der ihn jetzt mit emporgezogenen Augenbrauen und einer lustigen Grimasse um den Mund betrachtete.
»Graf,« sagte er, »Gott sei Dank konnte ich Dupont eine Woche im vorhinein bezahlen, und eventuell kann ich noch eine Woche begleichen. Machen Sie sich keine Sorgen! Wir ordnen die Angelegenheit, wann Sie wollen, und lassen Sie uns nun zum Mittagessen gehen! Ich sehe Madame die Stiege herunterkommen.«
»Aber wenn die Rebellen alles vernichtet haben, was ich besitze, was dann, Professor?«
»So habe ich das Vergnügen Ihrer Gesellschaft, und wir wollen sie zusammen lehren, vor der Presse zu zittern!«
Philipp nahm seinen Gast unter den Arm, winkte Señor Esteban, der sie von seinem Klubsessel aus unruhig beobachtet hatte, und führte die beiden Herren seiner geheimnisvollen Reisegefährtin zu.
Es war etwas über zehn Uhr, als zwei Droschken eine Gesellschaft von vier Personen am Ostmolo des Hafens von Marseille absetzten. Einen älteren Herrn mit goldgefaßtem Kneifer, einen sehr großen Herrn, der hinkte, einen schwarzen Herrn in graugrünem Ulster und eine Dame in Reisetoilette.
Nahe dem Kai, an den die Wellen mit weißen Schaumkämmen schlugen, lag eine zierliche kleine Dampfyacht mit rauchendem Schlot. Bei der Ankunft der beiden Droschken wurde eine Jolle herabgelassen, und einige Minuten später kletterte ein kupferroter Mann mit graugesprenkeltem Bart die Kaistufen hinauf und kam auf die Gesellschaft zu.
»Sie, Professor?« rief er.
»Ja, Kapitän Dupont.«
»Ich dachte schon, es wäre der Auszug der Kinder Israels aus Ägypten. Sie sind ja eine ganze Besatzung.«
»Nur Ihre Schützlinge, Kapitän, die Sie mir zusandten, und meine Frau. Ich hoffe, Sie haben meine Botschaft bekommen und den Proviant dementsprechend bemessen.«
»Ah, Ihre Frau!« Der Kapitän starrte die grauhaarige Dame im Reisekleid an, die sich in dem scharfen Frühlingswind so ungewöhnlich gerade hielt.
»Ja, ich habe Ihre Botschaft bekommen. Aber von einer Dame verlautete nichts. Weiß der Geier, ob wir eine Dame an Bord des ›Storchs‹ beherbergen können.«
»Ach, Kapitän, Madame ist so einfach in ihren Gewohnheiten, und sie hat keine Angst, weder vor der See, noch vor dem Namen Ihres Bootes.«
Der Kapitän lachte. Dann umwölkte er sich wieder und sagte:
»Heute ist rein der Teufel los, Professor.«
»Wieso?«
»Meiner Seel', die ganze Welt will nach Minorca fahren. Zuerst kommen Sie. Dann die beiden anderen Herren. Ich spreche gar nicht davon, daß Sie jetzt auch noch Ihre Frau mitbringen. Nun, ob Sie mir glauben wollen oder nicht, kaum komme ich in den Hafen, nachdem ich mich von Ihnen und den anderen Herren getrennt habe, als noch ein Kerl daherkommt, der auch hin will.«
Nach der Ausdrucksweise des Kapitäns zu urteilen, war es klar, daß er durch seine Erfahrungen erregt war.
»Noch einer?« Philipp starrte ihn an.
»Noch so ein Kerl,« bekräftigte Kapitän Dupont. »Und noch dazu ein Jud', Professor, ein Jud'!«
»Aber lieber Kapitän, ein Jude kann doch ebenso gut sein wie ein anderer Mensch. Was haben Sie ihm gesagt?«
»Daß er sich zum Teufel sche...« Der Kapitän brach ab. »Frauenzimmer, wenn's schon durchaus sein muß, aber ein Jud' – auf meiner Schute nie, da können Sie sagen, was Sie wollen, Professor!«
Philipp lachte, und der Kapitän, der energisch auf den Boden gespuckt hatte, begann den Transport seiner Gäste nach der Yacht zu ordnen.
Die angebliche Madame Pelotard bestieg zuerst das Boot, das sie hinbringen sollte, hierauf Señor Esteban und der Graf von Punta Hermosa. Philipp war eben im Begriff auch einzusteigen, als Kapitän Dupont, der noch auf dem Kai stand, ihn am Arm packte.
»Hol' mich der und jener, Professor, da ist der Jud' schon wieder!«
Philipp drehte sich rasch um. Der Graf von Punta Hermosa und Señor Esteban streckten den Kopf vor, um besser zu sehen.
Ein kleiner, untersetzter Mann in Pelz und rundem Hut war oben auf dem Kai aus einer Droschke gesprungen und kam jetzt auf sie zugelaufen, während er mit einem Stock winkte.
»Kapitän, Kapitän!« rief er heiser. »Warten Sie, so warten Sie doch! Haben Sie es sich nicht überlegt? Kann ich mitfahren?«
Der Kapitän, der Philipp in das Boot geschoben hatte und selbst nachgesprungen war, drehte sich mit einem wütenden Gesicht um:
»Mitfahren!« schrie er. »Ja, wenn es nach Palästina geht, können Sie mitfahren. Aber das Retourbillett müssen Sie mit einer anderen Linie nehmen.«
»Aber Kapitän, Kapitän! Ich bezahle, ich bezahle, was Sie wollen ...«
Kapitän Duponts Antwort waren einige energische Ruderschläge, die das Boot ein Dutzend Meter vom Kai entfernten. Der Mann dort droben tanzte auf und nieder und riß den Hut herunter, um inständig damit zu winken.
»Kapitän, meine Herren,« rief er, »ich muß, ich muß mit!«
Das Licht einer Gaslaterne auf dem Kai fiel auf sein Gesicht, und Philipp Collin fuhr plötzlich so heftig von seinem Platz auf, daß das kleine Boot sich auf die Seite legte. Dieses Gesicht, dieses Gesicht! Einem unwiderstehlichen Impuls gehorchend, erhob er seine Stimme laut über das Wellenbrausen und rief mit einem schallenden Gelächter:
»Fahren Sie über London! Fahren Sie über London! Nachher sind Sie in Minorca willkommen, Semjon Marcovitz!«
Im selben Augenblick fühlte er, wie das kleine Fahrzeug, das ihn und die anderen zu Kapitän Duponts Yacht führte, sich so auf die Seite legte, daß es beinahe umgekippt wäre.
Der Graf von Punta Hermosa und Señor Esteban waren gleichzeitig im Boot aufgesprungen und standen nun da, die Blicke auf den Kai geheftet, wo Kapitän Duponts letzter Spekulant noch im Lichte der Gaslaterne stand. Philipps Worte hatten seine Beweglichkeit mit einem Male gelähmt. Seine Arme hingen schlaff herunter, und sein Kopf war vorgestreckt wie der eines Raubtieres, das nach Beute wittert. Selbst aus dieser weiten Entfernung konnte man das zornige schwarze Funkeln seiner Augen sehen, die unverwandt auf das kleine Boot und seine Passagiere starrten. Dann stieß Kapitän Dupont einen Fluch aus; und wie demselben Impuls gehorchend, sanken der Graf und sein alter Freund auf ihre Plätze zurück.
Sie warfen einen Blick auf die übrigen, wie um anzudeuten, daß nichts passiert sei. Aber im nächsten Augenblick beugte sich der Graf von Punta Hermosa zu seinem Freunde vor, und trotz des Wellenrauschens hörte Philipp ihn acht Worte sagen, die bewirkten, daß er sich an die Bootskante klammerte und wie verhext den anstarrte, der sie gesprochen hatte. Und doch waren diese Worte so einfach als möglich gewesen.
Denn was der Graf sagte, war:
»Paqueno, haben Sie gehört? Das ist Semjon Marcovitz.«
Aber Herr Collin, in dessen Brusttasche ein wunderliches Dokument lag, dem Kassenschranke des Wucherers Semjon Marcovitz entnommen, und dessen Gedächtnis von Natur vortrefflich war, erinnerte sich plötzlich an den Brief, den er vor drei Wochen in Mr. Ernest Isaacs Kontor gesehen – den Brief, der der Anlaß zum größten Coup seines Lebens gewesen war, dem Corner in Minorcas Staatspapieren. Dieser Brief war vom minorcanischen Finanzministerium und enthielt die Bitte um ein Darlehen, und er war unterzeichnet: Esteban Paqueno, Finanzminister bei Seiner Hoheit dem Großherzog von Minorca.
Und wenn der Graf von Punta Hermosa nun seinen Freund Paqueno nannte, anstatt Señor Esteban, wie er ihn vorgestellt hatte – was war noch nötig, um dieses wunderliche Zusammentreffen von Namen noch wunderlicher zu machen?
Daß alles Land von Minorca dem Großherzog gehörte; und daß besagter Graf, der nach Minorca fuhr, um seine Güter zu schützen, hinkte! ...
Wahrhaftig, beim Zeus, wenn Kapitän Dupont schon eine große Verantwortung trug, weil er Herrn Collin und sein Glück an Bord hatte, so wurde sie kaum geringer, selbst wenn Herr Collin ins Wasser fiel.
Denn nicht alle Tage birgt eine kleine Yacht für vier Passagiere einen hervorragenden schwedischen Hochstapler, einen kürzlich abgesetzten Großherzog mit seinem Finanzminister und eine Großfürstin von Rußland!
Segeln Sie vorsichtig, Herr Dupont! Sie haben eine Ladung von Königen im Exil!