Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel,

worin bewiesen wird, daß, wenn Volkes Stimme Gottes Stimme ist, die Stimme des Zeitungsjungen es manchmal auch sein kann

Die Luft, die durch die Eingangstür in die Vorhalle des Hotels strömte, war kühl und rein, die lichtgrünen Bambusbäume der Halle raschelten leicht in der Zugluft, und die Rosen in den Kristallschalen der Lounge strömten ganze Wellen von Düften aus. Durch die Draperien der großen Fenster schien die Sonne herein, und davor wölbte sich der Himmel tiefblau über einer großen lärmenden Stadt.

Es war im Hotel d'Angleterre in Marseille, an einem lieblichen Frühlingsmorgen im dritten Monat des Jahres.

Die Uhr schlug acht, und der Hotelomnibus kam gerade von der Bahn. Er brachte vier Gäste – zwei ältere Engländer und einen etwa fünfunddreißigjährigen Herrn mit schwarzem Schnurrbart, in Gesellschaft einer Dame, die ungefähr zehn Jahre älter zu sein schien als er. Die beiden Engländer beeilten sich, ihren Namen einzutragen, das andere Paar winkte dem Portier zu warten und ließ sich außer Hörweite in der Lounge nieder. Der junge Herr schien in bester Laune zu sein, während seine Begleiterin verstimmt aussah und sich unaufhörlich mit betrübten Blicken in den Spiegeln der Lounge betrachtete. Er war es, der die Konversation begann.

»Nun wohl, Madame, jetzt sind wir also glücklich in Marseille. Wenn Sie irgendwelche besondere Wünsche haben, so sagen Sie sie mir bitte jetzt, im Zuge war ja keine Gelegenheit dazu.«

»N – nein, nur daß Jacques kommt.«

» All right, aber das dauert noch mindestens einen Tag, wenn es ihm gelingt, Ihren Feinden zu entkommen. Unterdessen gilt es, ihn wissen zu lassen, daß Sie hier sind. M. Jacques ist intelligent, vermute ich?«

»Ja, sehr! Hätte ich ihn nicht gehabt, und Sie ...«

»So wären Sie jetzt nicht in Marseille. Ganz richtig. Mein erster Besuch wird also einer Zeitungsexpedition gelten.«

»Einer Zeitungsexpedition?«

»Ja, gewiß, um eine Annonce an M. Jacques aufzugeben.«

»Pflegten Sie ihn Jacques zu nennen?«

»Ja, allerdings.« – Die Stimme klang etwas geniert. – »Er war doch nur mein Chauffeur.«

»Ja, gewiß, ja. Also adressiere ich an Jacques. Aber ich muß doch auch irgendwie unterzeichnen, so daß er versteht, von wem die Annonce ist. Was schlagen Sie vor?«

»O, das genügt.«

»O?«

»Ja, das ist meine Initiale.«

»Ihre Initiale? Pflegte M. Jacques Sie denn auch beim Vornamen zu nennen?«

»Was unterstehen Sie sich? Wie meinen Sie das? Mich beim Vornamen zu nennen? Ein Chauffeur?«

»Verzeihen Sie mir, ich habe eine Dummheit gesagt. Wußte M. Jacques, daß Sie kein Geld bei sich hatten?«

»Ich weiß nicht. Es ist schon möglich.«

»Ich hoffe, nein. Denn dann dürfte er Sie nicht in Marseille vermuten. Aber vielleicht hat er in den Zeitungen gelesen, daß Sie durchgebrannt sind.«

»In den Zeitungen. Wie können Sie gl... Sie glauben wirklich, daß das in die Zeitungen kommen kann?«

»Daß Sie aus dem Hotel verschwunden sind? Ja, natürlich. Die Zeitungen in Paris mischen sich in alles, wovon sie reden hören und reden selbst noch mehr darüber.«

»Sie können beruhigt sein. Über mich würde nie etwas in die Zeitungen kommen.«

»Sie erstaunen mich immer mehr und mehr. Ich hätte nie geglaubt, daß eine junge Dame mich intrigieren könnte, aber Sie haben es zustande gebracht. Bitte, bitte, seien Sie ganz ruhig! Ich bin neugierig, was verzeihlich ist, aber ich habe versprochen, keine Fragen zu stellen, und ich halte immer Wort. Jetzt haben wir eine andere Sache zu besprechen, die ebenso wichtig ist wie M. Jacques.«

»Was denn?«

»Unter welchem Namen Sie hier wohnen sollen. Was meinen Sie selbst?«

»Unter welchem Namen ...« Die Stimme wurde wieder überaus befangen. »Ich meine ... ich meine ...«

»Ja?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, so meine ich, es ist am besten, es bleibt, wie es ist.«

»Madame Pelotard.«

»Ja ... Madame Pelotard.«

» All right. Es ist entschieden das beste. Unter diesem Namen wird man Sie bestimmt nicht suchen. Aber wenn Sie meinen Namen tragen sollen, Madame, muß ich eine Bedingung stellen.«

Sein Ton war sehr ernst, aber er lächelte rätselhaft. Sie starrte ihn an und wiederholte verständnislos:

»Bedingung?«

»Ja, daß ich bei Ihrer Toilette assistieren darf.«

»Wie ... was ... Bei meiner Toilette!« Sie sprang mit blitzenden Augen auf. »Ja, was meinen Sie? Und Sie haben behauptet, ein Gentleman zu sein? Sie scheinen ...«

Sie brach ab. Philipp Collin war plötzlich in ein schallendes Gelächter ausgebrochen.

»Aber, Madame, Sie mißverstehen mich zu arg. Ich muß bei Ihrer Toilette assistieren, weil Sie sonst Ihr altertümliches Aussehen verlieren würden. Es geht nicht an, daß Sie sich zu rasch verjüngen. Wenn Sie mit dem Rest fertig sind, müssen Sie mich kommen lassen, damit ich dafür sorge, daß Sie Ihre senile Würde behalten.«

»Muß ich ... muß ich denn noch länger mit dieser Schminke und diesem gräßlichen grauen Haar herumgehen?« – Die Stimme war jetzt ganz weinerlich. »Ich sehe ja aus wie eine ... wie eine Vogelscheuche.«

»Gewiß nicht, glauben Sie mir. Sie sehen aus, als wären Sie vierzig und wollten fünfunddreißig sein. Aber die Hauptsache ist, daß Sie glaubwürdig aussehen. Bis M. Jacques kommt, ist es am besten, daß alles so bleibt, wie es ist. Seien Sie überzeugt, daß niemand sich mehr nach seiner Ankunft sehnen kann als ich.«

»Damit Sie mich los werden?« Sie erhob sich wieder zornflammend. »Ich werde Ihnen nicht lästig ...«

»Nein, chère Madame, damit ich Ihr wirkliches Gesicht wiedersehen kann.«

Herr Collin verbeugte sich, und seine geheimnisvolle Begleiterin lachte so herzlich, als hätte sie nie ein größeres Kompliment gehört. Es sah aus, als ob sich ihre Laune endlich unter dem Einfluß der seinen etwas gehoben hätte. Herr Collin sah auf seine Uhr und sagte:

»Wissen Sie, was wir uns aber jetzt wirklich verdient haben? Meiner Ansicht nach ein ausgiebiges Frühstück, und zwar so rasch als möglich. Seit achtzehn Stunden habe ich nichts anderes zu mir genommen als einen Absinth. Ich bin so hungrig wie ein Wolf, und ich glaube, Sie können von sich dasselbe sagen. Mit der Toilette können wir uns später befassen.«

Er reichte ihr den Arm und führte sie in den Speisesaal des Hotels, bestellte ein reichliches Frühstück und entschuldigte sich für ein paar Augenblicke bei ihr.

»Ich expediere unsere Botschaft an Jacques lieber gleich,« sagte er, »und reserviere uns Zimmer. Wollen Sie inzwischen etwas zu lesen haben, so sind hier die gestrigen Zeitungen, die ich noch aus dem Café de la Paix bei mir habe. Viel frischere Neuigkeiten werden sie hier auch nicht haben.«

Er reichte ihr die Blätter und verschwand.

Herr Collin war in seinem Leben selten erstaunter gewesen als in den Stunden, die seit dem Auftauchen dieser jungen Dame im Café de la Paix am vorhergehenden Tage verflossen waren. Seit er vor sechs Jahren den Staub Schwedens von seinen Füßen geschüttelt hatte, war sein Leben voll von Ereignissen gewesen, aber es waren zumeist Ereignisse, bei denen er selbst die Initiative ergriffen hatte und bei denen die handelnden Personen Männer gewesen waren. Die Frauen hatten eine geringe Rolle in seinem Leben gespielt. Und die ihm der Zufall oder das Schicksal jetzt in den Weg geführt hatte, war die verwirrendste, die ihm noch begegnet war. Er konnte kaum sagen, warum er sich ihr zuliebe in Angelegenheiten gemengt hatte, die ihn gar nichts angingen, und sich bemühte, Personen naszuführen, die, wenn er ihr Glauben schenken durfte, die Lust wie die Macht hatten, sich zu rächen. Apropos – wer zum Teufel war doch der Mann, den er in der Gare de Lyon gesehen hatte? Daß er das Gesicht kannte, darauf konnte er einen Eid ablegen, aber obgleich er diese Nacht die längste Zeit damit verbracht hatte, ein von Natur vortreffliches Gedächtnis zu durchforschen, war es ihm doch nicht gelungen, den Namen zu finden, nach dem er suchte. Das Mädchen selbst vermied es nicht nur, irgendwelche Aufschlüsse über sich zu geben, sondern hatte ihn überdies noch gezwungen, von jedem Versuch, etwas herauszubekommen, abzustehen. Das war übrigens ganz im Einklang mit ihrem Charakter, wie sie ihn gezeigt hatte. Hätte er eine Analyse von ihr entwerfen sollen, sie würde gelautet haben: sehr gute Erziehung, ungewöhnlich große Unschuld (u. a. bewiesen durch die Art, wie sie sich ihm im Café in die Arme warf), Herrschsucht im Verein mit angeborener Liebenswürdigkeit, und ein wunderliches Gemisch von Scheu und Abenteuerlust. Ihr Sinn für Humor schien nicht besonders entwickelt zu sein, und es machte den Eindruck, als ob sie die Welt hauptsächlich aus Romanen kennen würde – eine andere Erklärung hatte er z. B. nicht für die wunderlichen Worte finden können, mit denen sie ihre Bekanntschaft eingeleitet hatte: Behandeln Sie mich, als ob ich Ihre Freundin wäre. – Jetzt am Morgen, als sie im Marseiller Bahnhof ausgestiegen waren, war sie sehr verstimmt gewesen, was ja nach all ihren Abenteuern erklärlich genug war. Er hatte versucht, sie in der Weise aufzumuntern, die er am geeignetsten fand – ein bißchen Neckerei und sehr viel Rücksicht; seiner Auffassung nach schadete es nicht, wenn ein Rassepferd hie und da die Sporen ein wenig zu fühlen bekam.

Wenig darauf gefaßt, welche Überraschungen ihn noch von ihrer Seite erwarteten, kehrte er nach fünf Minuten mit einem großen Veilchenstrauß in der Hand in den Speisesaal zurück.

»Alles in Ordnung, Madame,« sagte er. »Ich habe Zimmer für uns im ersten Stock bestellt, und eine Annonce an die Pariser Zeitungen telegraphiert. Im Vorübergehen habe ich dafür gesorgt, daß Sie ein paar Toilettesachen auf Ihr Zimmer bekommen. Darf ich Ihnen diese Veilchen überreichen, zum Zeichen, daß wir in das Land des Frühlings gekommen sind?«

Sie nahm das Sträußchen mit einem zerstreuten Lächeln entgegen, er warf einen Blick auf sie und sah, daß sie in eine seiner Zeitungen vertieft dasaß. »Excelsior« oder »Matin«, dachte er, im selben Augenblick sah er zu seinem Staunen, was für eine Zeitung sie gefesselt hatte. By Jove, der »Financial Leader«! Was in aller Welt! Eine englische Börsenzeitung! Spekulierte die neugebackene Madame Pelotard in Aktien? Jenseits des Kanals war augenblicklich eine Craze in Gummi, und ein erheblicher Teil der Spekulanten waren Damen, das wußte er. War sie eine von dieser Sorte? Bevor er noch Zeit hatte, sich weitere Fragen zu stellen, wurde er durch den Gegenstand seiner Grübeleien selbst unterbrochen, sie fragte mit leichtgerunzelten Augenbrauen:

»Sagen Sie mir, haben Sie diese Zeitung gelesen?«

»Ja, Madame.«

Die Zeitung war Mr. Ernest Isaacs spezielles Organ, und Philipp las sie regelmäßig, da ihre Leitartikel ihm mehr Amüsement bereiteten als der »Punch«. Aber diese Nummer hatte besondere Voraussetzungen, ihn zu interessieren.

»Wollen Sie mir einen Artikel hier erklären?«

»Gerne. Welchen?«

Er beugte sich rasch vor, überzeugt, sie in einen der optimistisch poetischen Artikel vertieft zu finden, mit denen Mr. Isaacs' Sekretär, Mr. Baß, die Geburt einer neuen Isaacsschen Gesellschaft zu begrüßen pflegte. Seine Verblüffung war so groß, daß er fast umgefallen wäre, als er sah, wohin ihr kleiner Finger wies.

»Diesen Artikel,« sagte sie, »über die Staatspapiere von Minorca!«

By Jove! By Jove! Philipp starrte fünfzehn lange Sekunden das dunkelhaarige Köpfchen an seiner Seite an. Minorca. Was in allen Sternenwelten konnte diese junge Dame für ein Interesse an Minorca haben? Wie um Himmels willen konnte der Artikel über Minorca und seine Staatspapiere sie interessieren? Der Artikel, der ihm am Tage vorher auf dem Trottoirrand des Café de la Paix ein so selbstzufriedenes Lächeln entlockt hatte! Minorca! Als ihm der Name und der Artikel wieder unter die Augen kam, hätte er fast laut aufgelacht. Vorgestern war der größte Coup seines Lebens vom Stapel gegangen, den er vor ein paar Wochen Mr. Isaacs in seinem Kontor vorgeschlagen und zu dem dieser Geld vorgestreckt hatte. Der kühnste Plan, den sein erfindungsreiches Hirn bisher ausgeheckt hatte und vor dem sogar Mr. Isaacs erzittert war: die ganze Staatsschuld eines unabhängigen Reiches aufzukaufen und sich zum Herrn über all seine Schicksale zu machen – allerdings ein kleines Reich, aber zum Teufel, dafür mit um so größerer Staatsschuld! – Diese ganze Staatsschuld oder nahezu die ganze aufzukaufen (zu zweiundvierzigeinhalb Prozent!), die blutsaugerischen Wucherer zu prellen, die des Profits so sicher gewesen waren, und die übrige Welt zu verblüffen, die keine Ahnung hatte, daß dieser Verdienst existierte. Zwei Wochen waren mit den Vorbereitungen des Coups vergangen. Mr. Isaacs' »Leader« nebst befreundeten und besoldeten Organen in England und auf dem Kontinent hatten in regelmäßigen Zwischenräumen Alarmartikel über die Lage des Herzogtums Minorca losgelassen, und die Folge war die gewünschte gewesen. Die Verkaufslust war allgemein geworden, sie näherte sich der Panik, die Papiere wurden an die Börsen gezogen, und last not least war der Kurs noch weiter von fünfundvierzigeinhalb auf dreiundvierzig herabgepreßt worden. Unterdessen hatten sich Philipp und zwei getreue Mithelfer mit den 1 300 000, die Mr. Isaacs vorgestreckt hatte, und den 50 000, die Philipp selbst entschlossen war, in das Unternehmen einzusetzen, bereit gemacht; und vor zwei Tagen, am 3. März, hatten sie zugegriffen. Ein letzter Alarmartikel in der ganzen Serie koalierter Zeitungen hatte die gewünschte Wirkung hervorgerufen, die Börsen in Paris, Madrid und Rom hatten mit einem offiziellen Verkaufskurs von zweiundvierzigeinhalb eröffnet, und unmittelbar darauf fiel der Schlag. Kaum zwanzig Minuten nach Öffnung der Börsen waren acht Zehntel der Staatsschuld des Großherzogtums Minorca in andere Hände übergegangen, eine halbe Stunde später verbreitete der Telegraph die Kunde hiervon durch ganz Europa, und unmittelbar darauf stellte man sich rings in dem Weltteil dieselbe Frage: Was um Himmels willen ist der Sinn?? Die minorcanische Staatsschuld aufzukaufen! Ein Corner in den Staatspapieren von Minorca zu machen! Man konnte um Geringeres ins Irrenhaus gesteckt werden – bedurfte es noch einer Bekräftigung dieser Ansicht, so wurde sie in den Abendzeitungen in kleinen, aber ausgesucht ironischen Leitartikeln geliefert. Was Philipp, als er am nächsten Tage die Preßerzeugnisse durchging, am meisten amüsiert hatte, war der Artikel, den Mr. Isaacs sich mit humoristischer Artigkeit beeilt hatte, ihm expreß zuzusenden. Natürlich stand er im »Financial Leader« zu lesen, und natürlich war er »inspiriert«. Er trug die Überschrift »Das Vorgehen eines Narren – was sonst?« und er war es, der nun zu seiner unbeschreiblichen Verblüffung das Interesse seiner angeblichen Gemahlin fesselte.

Sein Staunen beherrschend, sagte er:

»Was wollen Sie, daß ich Ihnen da erkläre? Der Artikel ist ja ganz unverblümt – die Überschrift sowohl wie der Rest.«

»Das ist es ja eben,« sagte sie ungeduldig. »Warum muß man denn ein Narr sein, um die Staatspapiere von Minorca zu kaufen? Sind sie denn nicht gut?«

Sind sie nicht gut! Philipp bezähmte seine Lachlust und sagte: »Verzeihen Sie mir, was wissen Sie von Staatspapieren? Und was wissen Sie von Minorca?«

Sie schien zu zögern, dann sagte sie:

»Wenn ein Land sich Geld ausborgt, nennt man die Schuldscheine doch Staatspapiere, nicht wahr? Daheim in ...« sie unterbrach sich. »Und warum sollten die minorcanischen Staatspapiere schlechter sein als un ... als andere? Ich weiß nur, daß es am Mittelmeer liegt und einen Herzog hat ... Roland oder so irgendwie?«

»Ramon XX., Madame, der nebenbei ein überaus liebenswürdiger Mann sein soll. Soweit haben Sie ganz recht. Minorca liegt am Mittelmeer und hat einen Herzog, aber seine Finanzen sind leider nicht ebenso schön wie seine Umgebung – nicht ganz so flüssig, könnte man sagen. Sehen Sie, es ist nicht nur für den Augenblick ohne Geld, wie Ihr Land ...«

»Mein Land?« Sie fuhr auf. »Was wissen Sie von meinem Land?«

»Nichts! Sie sagten nur, daß Ihr Land sich auch Geld ausborgt, und ein Land mit solchen Töchtern kann doch nicht lange in der Klemme sein.«

Philipp verbeugte sich, und sie lachte, offenbar besänftigt.

»Also, Minorca ist schon seit ein paar hundert Jahren ohne Geld, und hat sich die ganze Zeit geborgt. Dadurch ist es in die Krallen von Wucherern geraten, von Leuten, die zwanzig oder dreißig Prozent für ihre Dienste nehmen. Wissen Sie, was Prozente sind? Mon dieu, was für eine hervorragende Nationalökonomin! Nun gut, wenn man einmal in die Krallen solcher Herren gekommen ist ...«

Sie unterbrach ihn:

»Aber der Großherzog, wissen Sie etwas über ihn?«

»Nichts Besonderes. Er ist 1875 geboren, wie ich selbst, wohlerzogen, gut gewachsen und stattlich, nur daß er leider hinkt.«

»Hinkt? Er hinkt? Das meinen Sie doch nicht?«

»Doch, Madame, ich weiß es ganz bestimmt. Er hinkt. Die Last der schlechten Finanzen Minorcas hat so auf ihn gedrückt ...«

»Ach, der Arme! Der Arme! Er hinkt! Aber schön und stattlich, sagten Sie. Das habe ich auch gehört. Und fünfunddreißig Jahre?«

»Ja, Madame, fünfunddreißig Jahre. Gerade das rechte Alter für einen Mann zum heiraten. Sie scheinen sich für Don Ramon sehr zu interessieren?«

Sie schien ihn zuerst nicht zu hören, dann schüttelte sie ungeduldig den Kopf.

»Durchaus nicht,« sagte sie. »Essen wir doch gefälligst endlich! Ich bin schon ganz verhungert. Sie reden ja so viel, daß die Speisen kalt werden.«

Philipp verbeugte sich tief mit einem appellierenden Blick himmelwärts.

»Ich habe vergessen zu fragen, was Sie trinken wollen,« sagte er, indem er sich zu Tische setzte.

Ohne seine Äußerung zu beachten, stocherte sie zerstreut in dem Essen herum, das sie sich vorgelegt hatte, dann fuhr sie fort:

»Diese Zeitung behauptet, daß es ein Irrsinniger sein müsse, der die Papiere Minorcas aufgekauft hat. Ein Geistesgestörter oder Anarchist, steht da. Glauben Sie das? Wissen Sie überhaupt etwas von diesen Dingen? Natürlich?«

Philipp nahm einen Ausdruck tiefsten Ernstes an, als er erwiderte:

»Wissen? Ja, was meinen Sie? Niemand weiß etwas von dem, der diesen Coup gemacht hat, das sehen Sie doch aus den Zeitungen.«

»Ja, aber was glauben Sie? Glauben Sie, daß er geistesgestört ist?«

Philipp betrachtete sie aufmerksam, bevor er antwortete: Was in aller Welt hatte dieses intensive Interesse für alles, was das Herzogtum Minorca betraf, zu bedeuten? In welcher möglichen oder denkbaren Weise konnte sein Börsencoup diese geheimnisvolle junge Dame interessieren? Wie er die Sache auch hin und her drehte, alles blieb ihm gleich unbegreiflich. Sie betrachtete ihn, ungeduldig auf eine Antwort wartend. Philipp räusperte sich.

»Hm,« sagte er. »Ja, wissen Sie, ich wage wirklich nicht, mich über die Sache auszusprechen. Aber wenn Sie meine private Ansicht über den, der diesen Börsencoup gemacht hat, hören wollen, so glaube ich nicht, daß er gestört ist. Nein, wirklich nicht!«

Sie hörte mit gespanntem Interesse zu und schien, wunderlich genug, nach seiner Erklärung beinahe erleichtert.

»Sie glauben es also nicht,« wiederholte sie. »Wie nett, wie nett. Das freut mich wirklich, wissen Sie!«

»Herrgott, ja, mich auch. Aber warum sind Sie so froh darüber?«

»Ich dachte nur an diesen armen Großherzog Raoul ...«

»Ramon XX.«

»Ja gewiß, Ramon ... ich meine, wenn derjenige, der die Papiere gekauft hat, ein Irrsinniger wäre, hätte er ihn ja ganz ins Verderben stürzen können.«

»Hm, ja, das ist sehr wahr. Nach seinem Coup ist er ja ganz und gar Herr des Herzogtums.«

»Ganz und gar? Wirklich?«

»Ja, das kann man schon sagen. So daß, wenn er ein Narr wäre, er den Großherzog ja zwingen könnte, Bankrott zu machen, vielleicht zu abdizieren ...«

»Aber Sie glauben nicht, daß er einer ist? Sie sagten es ja.«

»Nein, ich glaube es nicht. Andererseits, wenn er ein gutmütiger Narr wäre, ein exzentrischer und freundlicher Narr – es gibt ja auch solche ... hätte er das ja tun können, um die ganze Staatsschuld nachzulassen.«

»Und dann wäre Ronald frei?«

»Ramon? Ja, dann wäre Don Ramon frei. Aber, unter uns gesagt, solche Narren sind äußerst selten. Namentlich an den Börsen. Nein, der diesen Coup gemacht hat (Herrn Collins Stimme zitterte unwillkürlich vor Selbstzufriedenheit) ist ein sehr smarter Busineßman, nichts anderes. Das ist meine Ansicht. Ein sehr smarter Busineßman, der da ein Ei des Columbus gefunden hat, wo kein anderer es ahnte. Seien Sie ganz überzeugt, er hat es getan, um bei dem Geschäft zu verdienen, und er wird dabei verdienen!«

Sie starrte gedankenvoll in ihre Teetasse.

»Und niemand hat eine Idee, wer es ist?«

»Nein, kein Mensch hat eine Ahnung. Es wird allgemein zugegeben, daß er mit ungewöhnlicher Schlauheit zu Werke gegangen ist.«

»Sie auch nicht?« Sie betrachtete ihn mit einer Miene, die so deutlich sagte, daß sie sich damit an die höchste Instanz zu wenden glaubte, daß Philipp in den süßesten Triumphgefühlen innerlich lächelte.

»Nein, Madame, nicht einmal ich.«

Sie versank wieder in Gedanken und schien etwas hin und her zu erwägen.

»Sie möchten vielleicht, daß ich es versuche, es für Sie ausfindig zu machen?«

Sie zögerte einen Moment, die Augen auf ihn geheftet. Dann kam ein plötzlicher Ausdruck der Entschlossenheit in ihre Züge.

»Ja, danke, wenn Sie das tun wollten ... ich wäre sehr dankbar ...«

Sie brach plötzlich ab und trank ihre Teetasse aus, die ohnehin schon leer war.

Philipp betrachtete sie stumm mit womöglich noch steigender Verwunderung. Weiß Gott, war das nicht das mystischeste Wesen des anderen Geschlechts, das er je getroffen hatte! Weiß Gott ... Dann zuckte er die Achseln und gelobte sich selbst, ihr kleines Geheimnis bald erforscht zu haben. Es konnte einem alten Filou wie ihm doch keinerlei Schwierigkeiten bieten, eine so unerfahrene junge Dame wie die vor ihm zu überlisten. Allerdings, er mußte zugeben, sie verstand es, ihre Geheimnisse zu bewahren. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich versprochen, nicht ein einziges Mal hatte sie sich ein Wort entschlüpfen lassen, das die Lösung des Rätsels geben konnte. Das einzige, was sie verraten hatte, war ihr Interesse für Minorca, und das trug nur dazu bei, das Mysterium zu erhöhen. Und der Mann auf der Gare de Lyon in Paris behielt ebenso hartnäckig sein Inkognito. Wie sehr er sich auch den Kopf zerbrochen hatte, es war Philipp nicht gelungen, den Namen zu finden, nach dem er suchte. Nun ja, die Ursache ihres Interesses für das Herzogtum dürfte leichter zu erforschen sein – wenn er nur Zeit fand. Denn übermorgen ging ja das Schiff, mit dem er nach der Insel fahren sollte, die aus verschiedenen Gründen sie, ihn und Mr. Isaacs so lebhaft interessierte – Minorca.

Er sah auf seine Uhr. Es war bald halb elf. Plötzlich kam ihm eine Idee.

»Madame,« sagte er, »mir ist etwas eingefallen. Sie sind ganz ohne Gepäck, und es kann ja noch einige Zeit dauern, bis Ihr Jacques kommt. Wir müssen ausgehen und hier in Marseille einkaufen, was Sie für den Augenblick brauchen. Ich hoffe, Sie gehen gerne Besorgungen machen, ich kenne nichts Netteres.«

Sie strahlte, aber schien noch zu zögern.

»Meinen Sie wirklich?« sagte sie. »Ich ... aber Jacques muß doch morgen hier sein. Und Sie haben recht, ich brauche wirklich etwas zum Anziehen ...« Sie sah sich geniert in einem Spiegel vis-à-vis an. »Namentlich seit ich so alt geworden bin.«

» All right, also gehen wir.«

Er ließ das Frühstück auf ihre Zimmernummer schreiben, und sie gingen in die Frühlingssonne hinaus.

Aber auf dem Rückwege von den Verkaufsläden an der Cannebière traf Herrn Philipp Collin der große Schlag. Er und seine Begleiterin waren in der Filiale eines großen Pariser Hauses gewesen und hatten dort verschiedene Dinge eingekauft, die sie seiner Ansicht nach brauchte: einen Frühlingshut, da die Sonne hier ganz anders brannte als in Paris, Schleier, Parfüm, Handschuhe und ein Paar leichte Promenadenschuhe. Vergebens hatte er sich bemüht, sie auch zu einem hellen Promenadenkostüm zu bewegen, und sie dann verlassen, während sie sich mit einigen Toilettegegenständen versah, bei deren Ankauf seine Gegenwart als unangebracht erklärt wurde. Den Kopf zurückgebogen, den Hut auf der Nase, wartete er auf dem Trottoir auf ihr Kommen und ließ sich inzwischen von der heißen Märzsonne braten. Endlich erschien sie, und sie wollten eben auf Philipps Vorschlag eine Droschke besteigen, als sie ihn durch eine Handbewegung zurückhielt. Mit vorgestrecktem Kopfe starrte sie einen Zeitungskiosk gegenüber an, dessen Schaufenster von bunten Prospekten und Affichen strotzten.

»Was steht da?« sagte sie. »Können Sie es lesen? Minorca – scheint mir ...«

»Schon wieder Minorca,« lachte Philipp. »Wollen Sie mir sagen, was in Minorca passiert sein könnte?«

Und wie als Antwort auf sein Lachen und seine Worte drang plötzlich durch den Straßenlärm der heisere Ruf eines Marseiller Zeitungsjungen zu ihnen.

»Mi-i-i-norca!« kreischte er. »Mi-i-i-norca! Alle Einzelheiten über die Revolution in Mi-i-i-norca! Le Petit Marseillais! Le Petit Mar-seil-lais! Der Mord im Bois de Boulogne und Mino-o-o-orca!«

Hätte dieser Zeitungsjunge später Zeugnis darüber abzulegen gehabt, was nun zunächst folgte, es würde so gelautet haben:

Mitten über die Fahrbahn, mit dem Risiko, jeden Augenblick von Rädern und Hufen zerquetscht zu werden, sah er plötzlich einen schwarzen Herrn stürzen. Ohne ein Wort zu sagen, eilte dieser auf ihn zu, wies stumm auf einen Stoß Zeitungen, die er in der Hand hielt, und warf ihm ein Fünffrankenstück hin. Er – der Zeitungsjunge – fluchte auf gut marseillerisch, denn er gab nicht gerne sein ganzes Kleingeld her, um eine Zeitung für 5 Ct. zu verkaufen. Immerhin zog er eine ungewöhnlich schmutzige Handvoll Silber- und Kupfermünzen heraus und schickte sich an, herauszugeben.

Da begann das Wunderliche.

Der schwarze Herr sah die schmutzige Hand nicht, ebensowenig das Silber und Kupfer.

Er hatte nur Augen für die Zeitungsnummer, die er gekauft hatte.

Er hielt sie so krampfhaft fest, daß die Fingerspitzen weiß wurden; seine Augen überflogen die Spalten; und darunter sträubte sich ein schwarzer Schnurrbart wie die Schnurrhaare eines Katers. Zwei Minuten las er; dann ließ er die Zeitung sinken und starrte über das Straßengewühl hinweg.

Der Zeitungsjunge, der mit einem schlauen Grinsen sein Geld wieder eingesteckt und sich einige Schritte zurückgezogen hatte, hütete sich wohl, ihn durch Worte oder Gebärden zu stören; nicht alle Tage verdient man so leicht 4,95.

Plötzlich öffneten sich die Lippen des fremden Herrn, und ihnen entströmte eine Flut von Worten, die er – der Zeitungsjunge – mit Leichtigkeit als Flüche agnoszierte, obgleich sie in einer ihm fremden Sprache ausgestoßen wurden; im nächsten Augenblick sah er zu seiner Freude, wie dieser exzentrische Monsieur sich direkt ins Verkehrsgewühl stürzte. Voll Hoffnung, ihn überfahren und dadurch außerstande gesetzt zu sehen, sein Geld zurückzuverlangen, folgte er ihm mit den Augen.

Zu seiner bitteren Enttäuschung sah er ihn wie durch ein Wunder heil das andere Trottoir erreichen. Eine Dame, die schon etwas bei Jahren schien, empfing ihn mit einem Strom von Worten. Der exzentrische Herr antwortete, indem er ihr seine Zeitungsnummer reichte. Der Zeitungsjunge beobachtete sie beide gespannt, um zu sehen, welche Wirkung das Blatt auf sie haben würde.

Diese übertraf jedoch alle seine Erwartungen.

Die ältliche Dame riß die Zeitung an sich, aber konnte kaum mehr als vier Zeilen gelesen haben, als sie sie fallen ließ, schwankte und in die Arme ihres Begleiters sank.

Die Nummer des »Petit Marseillais«, die den fremden Herrn mit so großem Interesse erfüllt hatte, daß er 4 Franken 95 Centimes zuviel dafür bezahlte, hatte die ältliche Dame ohne weiteres in Ohnmacht fallen lassen!

Im nächsten Augenblick wurde eine Apothekentür daneben aufgerissen, und der fremde Herr trug sie hinein. Eine Sekunde später kam er herausgestürzt, um etwas zu holen. Was?

Nichts anderes als das Exemplar des »Petit Marseillais«, das er eben für hundertfache Bezahlung gekauft hatte und das seine Begleiterin auf die Straße hatte fallen lassen. Dieses Exemplar steckte er in die Tasche und verschwand in der Apotheke.

Zehn Minuten vergingen; dann wurde eine Droschke zur Apothekentür gerufen, und die ältliche Dame kam heraus, schwer auf den Arm ihres Begleiters gestützt. Sie stiegen in die Droschke und fuhren der Stadt zu.

Gleichzeitig begann ein vollständig konsternierter Zeitungsjunge, an alle Geschäfte vergessend, zum dritten Male hintereinander die Lektüre der Zeitung, die er verkaufen sollte, fest entschlossen, einerseits zu entdecken, was dieses Drama hervorgerufen, andererseits in alle Zukunft das Kino tief zu verachten.

Kurz darauf saß jur. utriusque cand. Philipp Collin aus Schweden, alias Professor Pelotard aus London, bei einem stark verfrühten Vormittagswhisky im Grill-Room des Hôtel d'Angleterre. Seine Begleiterin war stumm, starräugig, und ohne auf eine seiner bestürzten Fragen zu antworten, auf ihr Zimmer verschwunden; und seine Gedanken wiederkäuten, mit Hilfe des Whiskys zum hundertfünfzehnten Male all die Fragen, die er sich seit siebzehn Stunden über sie stellte, während seine Augen zum hundertzwanzigsten Male mechanisch den Artikel im »Petit Marseillais« durchlasen, der ihn plötzlich aus den hellsten Himmeln der Zufriedenheit in die schwärzesten Abgründe der Verzweiflung gestürzt hatte.

Und dieser Artikel lautete folgendermaßen:

!REVOLUTION IN MINORCA!

Ein vielhundertjähriges Reich, das stürzt.

WO IST DON RAMON XX.?

Kein Anhaltspunkt über sein Schicksal – man fürchtet das Schlimmste.
Minorca – Republik! Seine Schuldenlast – abgeworfen
.

So waren die Überschriften; der Inhalt stand nicht dahinter zurück:

»Heute morgen traf aus Barcelona ein Telegramm von so ungewöhnlicher Art ein, daß wir uns unverzüglich von seiner Echtheit überzeugten, bevor wir es an unseren stets wachsenden Leserkreis weitergeben wollten. Die Echtheit ist nunmehr außer allen Zweifel gestellt, und mit gewohnter Raschheit beeilt sich ›Le Petit Marseillais‹, das mehr als aufsehenerregende Telegramm zur Kenntnis des Publikums zu bringen. Es lautet so:

Barcelona, 4. März 1910, 2255.

Der Kapitän des englischen Lastendampfers Lone Star (Blue Star Line) aus Mahon (Minorca) hier eingetroffen, teilt den hiesigen Repräsentanten der Reedereien unter Eid folgendes mit:

Lief Minorca am 3. elf Uhr vormittags zur Abholung von Frachten (Olivenöl) für uns. Ges. London an. Fand die Stadt im Aufruhr, große Erregung herrschte auf den Straßen, Menschen strömten hin und her, die Kanonen der Bastion donnerten unaufhörlich. Wäre selbst beinahe von einem Schuß getroffen worden. Ging ans Land, erkundigte mich nach Ursache; infolge der allgemeinen Erregung schwer, klaren Bescheid zu erhalten. Sicher, daß die Bevölkerung der ganzen Insel sich erhoben hat, die großherzogliche Burg ist gestürmt, die Fenster sind eingeschlagen und die Schloßfahne herabgerissen. Das Schicksal des Großherzogs unbekannt oder wird vor dem Volk geheimgehalten. Als Führer der Bewegung wird ein gewisser Hernandez (Luis) und ein katholischer Geistlicher genannt. Keinerlei Anzeichen eines Blutbades, nur allgemeine Erregung. Wurde am Nachmittag von besagtem Hernandez oder Person seines Namens aufgesucht; teilte in gebrochenem Englisch mit, daß Minorca sich erhoben und ›das Jahrhunderte alte Joch abgeworfen habe‹; weigerte sich, Mitteilungen über das Schicksal des Großherzogs zu machen; erklärte, die Insel würde dem Beispiel Portugals folgen, eine Republik mit ihm als Präsidenten werden und vor allen Dingen die drückenden Schulden abwerfen, ›unter denen sie Jahrhunderte geseufzt‹ hatten.

Konnte infolge der allgemeinen Erregung die Ladung nicht einschiffen. –

Kapitän Simmons, hier überaus wohlbekannt, fuhr eine Stunde später nach hier wartender Order seines Hauptkontors direkt nach Lissabon; möglicherweise wird in Gibraltar angelegt. Leider hat die Lone Star keine drahtlose Telegraphie, und bei dem Versuch, mit Minorca eine Verbindung zu erreichen, hat es sich gezeigt, daß der Kabel abgeschnitten oder außer Betrieb gesetzt worden ist.

An der Erzählung des Kapitäns ist absolut nicht zu zweifeln. Große Bestürzung herrscht in Barcelona.

So lautete das Telegramm, dessen Inhalt uns sowohl von unserem Korrespondenten wie vom Kontor der Blue Star Line (letzterer erst spät vormittags) bestätigt wurde.

Also hat das Großherzogtum Minorca, gegründet im 13. Jahrhundert, sein Ende erreicht.

Sein jetziger Herrscher, Don Ramon XX., war ein junger Mann von fünfunddreißig Jahren, von dem man nur das Beste weiß. Wie aus Telegrammen hervorgeht, ist sein Schicksal unbekannt. Es ist nur zu hoffen, daß die Bevölkerung von Minorca mehr Milde gegen ihren gestürzten Herrscher gezeigt hat, als die Bevölkerung von Portugal gegen König Carlos.

Es ist zu hoffen, aber sollte das Gegenteil der Fall sein, wäre es auch nicht zu verwundern.

Seit hundert Jahren, seit der Zeit, wo Minorca von Napoleon besetztgehalten wurde, war seine Lage eine sehr mißliche. Die Steuern waren drückend, die Industrie gleich null, die Volksbildung mangelhaft. Die Bevölkerung ist praktisch genommen auf dem Standpunkt des 18. Jahrhunderts hier in Frankreich stehengeblieben, und alles, was von den Regenten durch Steuern und Auflagen aufgebracht werden konnte, ist für ihre Privatvergnügungen verschwendet worden. Bei einer Müßiggängerexistenz haben sie die erste Pflicht des Fürsten vergessen – für sein Volk zu sorgen.

Die nächste Zukunft wird zeigen, welche Folgen der Umsturz auf der Insel haben wird, ob jener Hernandez, den Kapitän Simmons erwähnt, die Leitung ihrer Schicksale nach Don Ramon übernehmen wird, und ob mit besserem Glück. Das Telegramm redet ja in dieser Hinsicht eine vielversprechende Sprache: man will vor allen Dingen die Schuldenlast abwerfen, der Minorca fast erlegen ist. Im Hinblick auf die historischen Verhältnisse können wir diesem Vorgehen unsere Billigung nicht versagen.

Wie unseren Lesern erinnerlich sein dürfte, wurde erst vorgestern ein Börsencoup in Paris, Madrid und Rom gemacht, wodurch so gut wie die ganze Staatsschuld von Minorca in neue Hände überging. Wer der Urheber desselben war, ist noch unbekannt. Aber es gilt für ziemlich sicher, daß das betreffende Syndikat ein ausländisches ist. Vermutlich werden seine Mitglieder das Telegramm aus Barcelona mit gemischten Gefühlen lesen!

Kein nennenswertes französisches Kapital dürfte nunmehr an der Insel interessiert sein ...

 

Kein nennenswertes französisches Kapital! ... Wir können ihnen nicht unrecht geben. Das ist also die Grabschrift über deinen großen Coup, Philipp Collin, deinen Stolz und deinen Triumph!

Doch Mr. Isaacs dürfte noch ein Wörtchen hinzuzufügen haben! Eine Million dreimalhunderttausend Pfund – eine nette Summe, Philipp Collin. Was sind 50 000 aus deiner eigenen Kasse dagegen?

Und der Trost, daß wenigstens Marseille, der Heimatsort dieser vortrefflichen Zeitung »an der Insel interessiert ist?«

Nein, bester Philipp, mache nie mehr Geschäfte in Staatspapieren! Gedenke der schwedischen Geschichte 1809, und wie der Chronist so schön sagt: Es war die erste Aufgabe der neuen Männer, die verzweifelte ökonomische Lage zu ordnen. Nach reiflicher Überlegung schrieben sie die Hälfte der Staatsschuld ab ... So geschehen in Schweden; in Minorca ist man gründlicher. Da schreibt man alles ab.

Eine schöne Affäre, Herr Collin! Eine sehr niedliche und angenehme Affäre!


 << zurück weiter >>