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Die vorliegende Legendensammlung, die aus verschiedenen, frühen Quellen geschöpft wurde, will nicht als kritischer Beitrag für die Literaturgeschichte der Legende betrachtet werden. Das tiefere Wesen der Legende, ihr Geist läßt sich nicht durch Studium und Wissenschaft erschließen, sondern ergibt sich lieber dem unbefangenen Leser, der mit staunender Freude die Wunderwelt des Heiligen betrachtet, die einem verwunschenen Zauberwald gleicht, dessen märchenhafte Schönheit uns anzieht.
Die Auswahl der Legenden ist nach rein persönlichem Geschmack getroffen worden. Wir waren darauf bedacht, ein Stück echte, volkstümliche Poesie in Verbindung mit dem religiösen Empfinden und Erleben in farbenfroher Mannigfaltigkeit zu zeigen. In unserer lauen, zum Teil glaubenslosen Zeit wollen wir auf den kostbaren Schatz der Vergangenheit zurückgreifen, die edlen Früchte betrachten, die der christliche Glaube selbst hervorgebracht hat. Wohl mag es für den Kunstfreund reizvoll und anregend sein, die Legende daraufhin zu betrachten, wie sie im Lauf der Jahrhunderte für die Literatur, besonders für das Volksmärchen, aber auch für die bildende Kunst, für die Malerei und Bildhauerei bahnbrechend und bestimmend wurde, wie dies noch heute der Fall ist. Schöner aber noch mag es sein, sich dem Urquell der Legende selbst hinzuneigen, denn die Ursache der Legende ist ja das göttliche Leben. Die Heiligen gehören zum Sprachschatze Gottes, und ihr Leben ist gleich Worten, die von Seinem Munde strömen. Im letzten Absatz unseres Bekenntnisses heißt es: «Ich glaube an eine heilige katholische Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen.» Wie konnten wir an diese Gemeinschaft glauben, mehr noch, wie konnten wir sie verwirklichen, wenn wir das Leben der Heiligen uns nicht immer wieder vor Augen führen und es aufmerksam betrachten wollten? Wäre es nicht gut, in dunkler Zeit sich etwas mehr als zuvor an das leuchtende Ideal, an das unsterbliche Vorbild der Menschheit zu halten, an den Heiligen als an den reinsten Spiegel der Seele? Die Heiligen sind und bleiben für uns der innige Ausdruck des Heiligen Geistes auf Erden, dem wir uns in unruhiger, friedloser Zeit mit mehr Gewinn denn je zuwenden wollen, dazu uns die Legende sehr dienlich sein kann.
Nun stammt die Legende aus früher und frühester Zeit, und betrachten wir sie einmal nur als Lehr- und Erbauungsbuch, kommt uns bei manchen Erzählungen vor, etwa bei «Sankt Brendans Meerfahrt» oder beim «Fegefeuer des heiligen Patrizius», um nur einige zu nennen, als wurde die Lust am Fabulieren gar oft mit dem Trachten nach seelischer Erbauung verwechselt; doch können wir uns mit solcher Annahme irren. Wir dürfen nicht vergessen, daß frühere Generationen ein wenig mehr besaßen von dem, was uns Heutigen leider etwas verlorengegangen ist, nämlich die Freude am Wunderbaren und Märchenhaften. Und diese reine Quelle der Kunst stammt eben aus dem Religiösen. (Wir Heutigen sind wohl zu sehr abgelenkt von Wundern, die mehr diabolischer als göttlicher Art sind.) Die Legende aber bleibt der letzte, spannende Ausdruck, die dichterische Gestaltung religiösen Lebens, das besonders im Mittelalter, zur Zeit der großen Marienverehrung, zur schönsten, reichsten Blüte gelangte. Wie hatten wir uns versagen können und dürfen, einige Marienlegenden, die unverwelklichen Rosen frommer Dichtung, in unser Buch aufzunehmen? Gerade diese Legenden gehören zu den mystischen, hellen Sternen, von denen wir lernen können, was Glaube und Vertrauen vermag.
Mancher Leser wird in diesen Legenden das Unmittelbare der Anschauung, das Hinnehmen des Wunders als etwas durchaus Selbstverständliches bestaunen, wenn zum Beispiel erzählt wird, wie die Mutter Gottes in der Kirche vom Sockel herabsteigt, um sich mitten in der Nacht in ein Gefängnis zu begeben, und dort einen Gefangenen befreit, oder wenn sie jahrelang für eine vorübergehend treulose Nonne das Amt als Küsterin versieht. Was will dies besagen? Oh, sie kann allmächtig sein, wo sie gläubig ersehnt wird, Unsere Liebe Frau von der immerwährenden Hilfe. Dies ist wohl die nächstliegende Deutung des Wundergeschehens. Sie bringt ein verlaufenes Kind heim, sie hält es an der Hand, sie wärmt es und hüllt es schützend in ihren warmen, blauen Mantel. Und einmal nimmt sie in der Kirche ihr Kind vom Schoß, setzt es auf den Stuhl, und wirft sich vor ihrem göttlichen Kinde auf die Knie, um für irgend jemanden eine Gnade zu erbitten. Sie ist die Fürsprecherin bei Gott, und man kann wohl sagen, daß die Legende dieses im übertragenen Sinne meint.
Wo aber das Übertragene, das Dichterische waltet, ist auch das Unmittelbare, das Wunder ist hier daheim, und es gehört zum täglichen Leben. So erfahren wir in der Legende, wie die Himmelskönigin ihren Thron in der Kirche verläßt, um sich ins Volk zu begeben, denn auch die Seele des Volkes, wie die jedes Einzelnen ist ja der Kirche ähnlich und hat in sich Thron, Altar und ewiges Licht. Von diesem Standpunkt aus läßt sich auch jenes Wunder begreifen oder erahnen, das den Gläubigen auch sichtbar geschah. Wohl stehen wir ergriffen vor der taubenhaften Einfalt, vor dem kindlichen Glauben, von dem die Legende erfüllt ist. Besonders die Einfalt ist eine Herzensbegabung, die sich schwer erklären und beschreiben läßt, und mag geheimnisvoll der unberührten, genialen Weisheit des Kindes verwandt sein, die in bezaubernder Unschuld instinktiv jenes erkennt, was den Klugen der Welt verborgen bleibt: das göttliche Wunder, das Märchen unseres Lebens.
Was sich in der Legende sichtbar zeigt, alles, was Gestalt gewann, jeder kleine Bericht, darf als Gleichnis seelischen Erlebens betrachtet werden. Wir Heutigen sind ja nicht so wundersüchtig, daß wir das Wunder greifen und mit physischen Augen betrachten wollen. Aber die Möglichkeit des Wunders gibt es auch für uns, und es kann uns in bedrängter Zeit näher denn je sein. Wo es dringend notwendig ist, spricht Gott zu uns durch Zeichen und Wunder. Doch auch wenn uns kein sichtbares Wunder begegnet, dürfen wir gleichwohl nie den Zugang zum Wunderbaren verlieren, müssen uns bemühen, die Hieroglyphensprache Gottes zu verstehen, lesen zu lernen, dazu uns die Heiligenlegende viel Anregung bietet.
Es scheint uns keineswegs unzeitgemäß zu sein, den Wunderglauben vergangener Generationen näher zu betrachten, noch dazu, wenn wir in Betracht ziehen, daß die Legendenschreiber auch Männer der Wissenschaft waren, deren hohe, literarische Bildung wohl außer Frage steht. Dies ist ein wichtiges Thema, das jeder Leser für sich erwägen und durchgehen mag. Gewiß, die Legende bietet rein stofflich eine überaus reizvolle Unterhaltung, sie streift weltgeschichtliche Ereignisse, vermittelt uns den Eindruck von einem frühen, intensiven Lebensgefühl und blickt uns über alles hinweg wie aus Traumaugen an. Wir aber wollen nicht nur die leichte, schöne Anregung des Geistes, nicht nur die Befriedigung unserer Neugierde, bei der wir allerdings spüren, daß die Vergangenheit wichtiger, spannender sein kann als die Gegenwart. Wir wollen die Absicht der Legende bedenken, den Geist, in dem sie einmal verfaßt wurde.
Dem frühen «Passionale», dem ein Teil unserer Legenden entnommen wurde, hat man einmal im 15. Jahrhundert eine Widmung mitgegeben, auf die unser Blick verlangend fiel, eine Widmung, die wir bescheiden nachsprechen mochten, auf daß sie sich auch in unserer Zeit ein wenig verwirkliche. Das Leben und Leiden der Heiligen wird noch heute der Menschheit ein Beispiel sein können; denn die großen Heiligen als Spiegel der Menschheit, als Glaubenszeugen für Jesus Christus, können ja nie sterben. Weil es das leuchtende Beispiel der Heiligen ist, das die Menschheit hinanzuziehen vermag und uns den wahren Weg des Lebens zeigen kann, werden wir unserem kleinen Legendenkranz in Bescheidenheit die Widmung von einst zum Geleite mitgeben dürfen, die also lautet:
Der Hohen Unteilbaren Dreifaltigkeit zu Lob, Marien, der würdigsten Jungfrau und Mutter, Gottes, zu Ehren und allen Heiligen, und den Christenmenschen zu Heil und seliger Unterweisung.
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