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Kapitel I

Fritz Eisner gibt vor, am Fenster zu arbeiten.

Alle sind damit – mit Unrecht, vielleicht mit Recht, je nach dem, wie man das ansehen will – unzufrieden. Denn ihr Stück Gemüseland, und das gehört zu jeder Wohnung, wäre, so meinen sie, sicher viel ertragreicher geworden, und so bekäme man ja gar nichts raus, kaum ein Bund Radieschen und einen halben Zentner grüner Bohnen, ... also – viel ertragreicher wäre es geworden, wenn man nicht damals hier erst mal unnötigerweise den Boden planiert hätte, und dabei die alte Humusdecke abgestochen und untergegraben hätte. Und den dicken, rotgelben, schlechten Lehm, den von ganz unten, dafür hochgeworfen hätte. – Damals nämlich, als man die Absicht auszuführen begann, dieses Dutzend Wohnkästen hier – und warum eigentlich auf der Winterseite des Tals? – hinzustellen. Und außerdem noch gerade neben den Friedhof. Ja, da gehört doch gleich mit Eisenbahnschienen 'neigeschlagen! meinen sie.

Außerdem hatten die Erdarbeiten, die so unnütz wie ein Kropf waren, denn das Stückchen Gartenland hätte ebenso ruhig etwas mehr hügelan laufen können ... oder man hätte es überhaupt ganz so lassen sollen, wie es war, und die Häuser einfach mitten in die Margeriten- und Salbeiwiesen zwischen die alten Birnbäume stellen sollen, statt diese abzutragen und umzuhauen ... die Erdarbeiten hatten so viel verschlungen, immer neue Tausender, Hundertausender und Millionenscheine, die stets nach acht Tagen wieder so wertlos waren, daß es sich nicht mal lohnte, sie als Makulatur unter die Tapete zu kleben ... derartige Packen von Scheinen hatten die Erdarbeiten gefressen, daß die Häuser deshalb nachher kaum zu Ende gebaut werden konnten. Das Geld, das dafür bestimmt war, rutschte immer wieder unter dem Bau fort, wie Schwimmsand unter dem Fundament.

Sagte ich eben ein Dutzend?! Es sind ja nicht mal ganz ein Dutzend von diesen großen, gelben, langgezogenen Kästen mit je vier Parteien. Aber das ist wirklich nicht so wichtig. Das müßte man erst nachzählen. Und außerdem geht uns das gar nichts an. Vielleicht später mal. Genug, die Siedlung ist in der allerunsichersten Zeit errichtet worden. Heute macht man sowas besser! Kurz nach dem Krieg, als man noch nicht ahnte, was alles los war und werden würde, und nun meinte: jetzt ist der Krieg zu Ende, also ist deshalb doch Frieden. Wieder Frieden. Und alles wird ungefähr so werden, wie es vorher war. Nur die Briefmarken werden wir ändern. Die Menschen aber werden doch wieder wohnen müssen. Nicht wahr? Und sie werden essen müssen. Nicht wahr? Und sie werden Geld verdienen. Nicht wahr? Und sie werden Geld ausgeben. (Das haben sie immer getan.) Alles wird zwar etwas bescheidener sein als vorher, – dafür war eben Krieg! – aber doch ungefähr ebenso. Nicht wahr? Also: Geld wird wieder Geld sein. Und Ware Ware. Und die Menschen werden eben wieder Menschen sein.

Doch das ist eine durchaus falsche Annahme gewesen. Weder blieb das Geld Geld. Noch die Ware Ware. Noch die Menschen Menschen. Der Staat hat nur die Zauberformel »Inflation« gemurmelt, hat nur seinen Zauberstab geschwungen: Hokus Pokus Trallala! Und alles ist anders geworden: das Geld ist kein Geld mehr. Die Ware Ersatzware. Und was aus den Menschen geworden ist, ist schwer zu sagen. Doch eines kann man mit Bestimmtheit feststellen: keine Menschen.

Genug davon. Nur soviel: die Siedlung hier ist damals, als man noch gar nicht ahnte, was werden würde, begonnen worden, und hat deshalb lange halbfertig gestanden, und ist endlich noch so gerade notdürftig aus allerhand unerprobten Surrogaten von Baumaterialien zusammengeleimt und unter Dach gebracht und dann ganz schnell bezogen worden.

Der Hauptvorzug dieser Ersatzstoffe besteht darin, daß sie durchweg vorzügliche Schalleiter sind.

Wenn z. B. jemand jetzt in der Nebenwohnung oder zwei Wohnungen weiter Klavier spielt und dazu singt, von der Oma ihrem kleinen Häuschen, das versoffen werden muß, oder wenn er auch nur seiner Frau ein Geheimnis anvertraut, hört man es fünfzehn Meter höher oder tiefer oder weiter, im Waschkeller und auf dem Trockenboden, im Schlafzimmer oder auf der Diele, genau so gut wie im Kleinviehstall. Jedes Ei, das dort gelegt wird, erleben alle Parteien ringsum. Und all das hört man dank der Vorzüglichkeit der neuen Baustoffe fast noch deutlicher und reiner und ohne Nebengeräusche als an Ort und Stelle selbst.

Die anderen Eigenschaften dieser Bausurrogate sind jedoch weniger angenehm. Sie machen es z. B., daß im Spätherbst und mehr noch im Vorfrühling die Wände schwitzen, als hätten sie Aspirin genommen. Daß im Winter kein Ofen, ganz gleich welcher Konstruktion, je ein Zimmer warm und mollig kriegt. Weil kein Fenster dicht zu kriegen ist. Daß kein Teppich die Fußkälte behebt. Daß die Dielen sich wellen. Und daß in keiner Wand ein Nagel hält. Daß sich alsbald über die niedrigen Decken Landkarten von Sprüngen ziehen, die alle Vierteljahr von der Verwaltung aus mit Gips verschmiert werden, der stets nach vierzehn Tagen wieder herausfällt, weil er vielleicht auch nur Gipsersatz ist.

Wenn es Balken im Haus gegeben haben soll, so sind sie sicher nicht aus richtigem Tannenholz, sondern, um in der Linie des Ganzen zu bleiben, aus Patent-Lignosin gegossen. Trotzdem doch übergenug Tannen- und Buchenwälder ringsum auf allen Bergen sind. Und schwer, satt, üppig und im letzten sommerlichen Blaugrün, das schon ganz leicht goldbraun angestäubt ist.

Und das genügt ihm, Fritz Eisner, vollkommen. Frau Ruth Eisner genügt das hingegen weniger. A propos Fritz Eisner. Vor fünfundzwanzig Jahren war er jedenfalls jünger gewesen. Wenn er auch im Ganzen so ungefähr der gleiche geblieben war, als Schriftsteller war er immer noch ganz bekannt. Das Leben hatte ihm verschiedene Mal kreuz und quer über den Kopf gehauen, und außerdem hatte der Krieg, den er eigentlich nur von außen gesehen hatte, trotzdem ein schweres seelisches Trauma bei ihm zurückgelassen. Vor wenigen Jahren, als er sich endlich wieder verheiratete, war sein Haar noch schwarz gewesen, mit einigen grauen Fäden. Jetzt aber ... so Anfang Oktober neunzehnhundertdreiundzwanzig (nach seinem fünfzigsten erst hat das eigentlich eingesetzt), haben die grauen Fäden in seinem Haar doch die schwarzen so allgemach zu überstimmen begonnen und machen schon Anspruch darauf, demnächst zum mindesten den Alterspräsidenten zu stellen.

Es läßt sich nicht leugnen, er ist auch nicht mehr so ganz gesund. Aber zum Schluß ist das um die Jahre so jeder schon. Irgendwie klappt es bei keinem dann mehr so vollkommen. Aber Fritz Eisner war doch trotzdem ganz gut in sein neues Jahrzehnt hinein gekommen und planscht schon einige Jahre ziemlich unverändert darin umher. Außerdem, und das soll man bei so etwas nicht übersehen, ist doch Ruth ... genannt Nuck ... auch Nukelino ... ehedem Ruth Block ... die Schwester der Malerin Lena Block, die da in Spanien während des Krieges starb (warum kann man nicht »sich sterben« sagen? Das klingt besser, als sich das Leben nahm) seine zweite Frau ... ein Vierteljahrhundert jünger als er. Und so etwas zwingt einen Mann, jünger zu bleiben, und sich innerlich straffer zu halten, und sich unbejahrter zu geben, als er es eigentlich ist.

Natürlich – wenn man Fritz Eisner manchmal so reden hört ... aber er tut es nicht oft grade ... so ersetzt er in seiner Person dem jüngeren Medizinstudenten ein ganzes Lehrbuch innerer Krankheiten.

Immerhin schob nach seiner Laienansicht der Bankerott sich dadurch wohl länger hinaus, daß Fritz Eisner (und Ruth ... von Maud dem Kind und Emi dem Hund und Frau Zehrer der Stütze gar nicht zu reden) ... seit einigen Jahren wieder mal draußen, wenn auch nicht grade auf dem Lande, so doch im Freien, am Neckar, zwischen Wäldern, Bergen und Wiesen, etwas abseits und eingesponnen, wie das seine Art nun mal war (nur nicht mit dabei sein wollen!!), lebte. Und außerdem verzögerte sich der Bankerott ... seiner Ansicht nach ... wohl auch dadurch, daß er, wie das bei Schriftstellern grade besonders häufig, für zwei Familien zu sorgen hatte, und somit viele Verpflichtungen hatte, und deshalb es sich durchaus nicht leisten konnte, krank zu sein. Eben weil er immer arbeiten und arbeiten mußte, um die beiden Schornsteine rauchen zu lassen. Aber das Wichtigste war es wohl trotzdem, daß er es zum Prinzip erhoben hatte, wenn er sich mal schlecht fühlte, einfach solange zu warten, bis er sich wieder gut fühlte. Was stets nach einiger Zeit auch wieder eintrat. Eine Methode, die bekanntlich dem Arzt nicht gut bekommt. Aber für den Patienten meist nicht ohne ernstlichen Vorteil sein soll.

Wirklich, wenn man Fritz Eisner so jetzt an seinem Schreibtisch vor dem Fenster sitzen sah ... schmalköpfig ... hochstirnig ... mit der Hakennase ... ohne eine Falte im Gesicht ... und mit den noch sehr guten und gar nicht müden Augen, die ständig sich irgend etwas scharf anzusehen schienen ... in den grauen Knickerbockers, den breitgesteppten braunen Schuhen, dem gelben Sporthemd und dem weißen Ledergurt ... nicht klein ... nicht groß ... nicht grade schlank ... aber beweglich .. wenn er auch etwas schwerfällig schien und nachdenksam ... sehr brünett ... nußbraun .. eigentlich schon mehr wie ein Inder oder wie ein Araber (denn er hatte sich den ganzen Sommer in oder meist am Wasser in der Sonne umhergewälzt) ... wirklich, wer ihn so an seinem Schreibtisch hätte sitzen sehen, würde durchaus den hippokratischen Zug an ihm vermißt haben, und durchaus der Ansicht gewesen sein, daß der da für sein Alter doch einfach lächerlich jung aussah grade, und daß der da ganz gut noch auch in das nächste Jahrzehnt hinüberkommen würde.

Jedenfalls arbeitet Fritz Eisner intensiv seit mehreren Stunden. Und in Wirklichkeit sitzt er auch schon solange in seinem alten Mahagonisessel und hat beide Ellenbogen auf die schönen Voluten der Seitenlehnen gelegt, hat einen Kranz von Büchern verschiedensten Formats und Dicke rund um sich auf der Schreibtischplatte aufgestapelt und inmitten einen Stoß sehr weißen Papiers vor sich hingebreitet, neben dem ein Füllhalter und drei gutgespitzte Bleie und ein Rotstift gebrauchsfertig lauern für den Fall, daß sie benötigt würden. Ebenso wie die Schreibmaschine drüben dienstbeflissen mit vielen Buchstabenaugen zu ihm herüberschielt.

Drei Stunden also sitzt Fritz Eisner schon so und sieht zum Fenster hinaus. Und wenn man die Schönheit dieses Blicks mit Bergen, mit Wäldern, mit dem Flußband, mit dem rotgedächerten langgestreckten Ort weiter drüben, mit der geschwungenen rostfarbenen Steinbrücke, die zu ihm führt, mit dem helleren Wiesenstreifen an den Ufern ... und mit dem dunkleren Wollbesatz der Buchenwälder an den Bergflanken und auf den Höhen ... und mit den sanften und bestrickenden Linien, mit denen Kuppen, Täler und Nebentäler, die Windungen des Flusses, die Felder und Äcker drüben auf dem Plateau ... alles, aber auch alles hier zusammenfloß .., wenn man so die ganze seelenstreichelnde Schönheit dieses Blickes in Betracht zog – und das alles noch im wechselnden Sonnengold eines späten, warmen, leise schon melancholischen Oktobertages ... wenn man all das in Erwägung zog, so mußte man Fritz Eisner durchaus recht geben, daß er diese beruhigende Beschäftigung, aus dem Fenster zu sehen der erregenden Unannehmlichkeit des Arbeitens vorzog.

Jedenfalls also ... jetzt ist es sehr erfreulich hier! Und das andere sind ja alles nur Winterfehler.

Richtig: vier Monate lang, von November bis Anfang März, hassen beide diese Wohnung und verfluchen sie geradezu. Darin muß Fritz Eisner Ruth durchaus recht geben: diese Wohnung ist eine Qual dann für einen empfindlichen Menschen wie sie. Im ersten Frühling aber, sowie auf den Wiesen die Anemonen beginnen mit weißen Sternaugen in die Sonne zu sehen, und den ganzen Sommer lang bis tief in den Herbst hinein, ja gerade erst dann, wenn das ganze Tal in rotbraunem Feuer flammt von den Buchenwäldern, dann kann man sich dafür auch geradezu in die Wohnungen, in solche Wohnung wie hier verlieben. Derart verlieben, daß man, bis der Winter wieder plötzlich kommt, alles radikal vergessen hat, was man im letzten Jahr hier ausgestanden hat. Damals, so vor acht, neun Monaten. So verliebt war man, daß von Wohnungstausch und von Umziehen in der ganzen Zeit gar nicht mehr die Rede zwischen ihnen ist. Und eines Tages sitzen sie eben dann doch wieder mit kalten Füßen da. Wie die Jahre vorher.

Die ganze Zeit bis dahin aber leben sie hier doch – denkt Fritz Eisner – wie der Vogel im Nest. Man erinnert sich gar nicht daran, daß Fenster zugemacht werden können. Weder Tag noch Nacht. Von allen Seiten kommt die Sonne herein. Und das Licht. Und die Berge. Und die Luft. Das Glitzern vom Fluß her. Das Gelächter der Badenden weiter drüben, deren weiße und braune Rücken herüber schimmern. Die Mondeinsamkeit kommt und unter dem Sternenstaub die Schattenkühle der dichten Wälder. Der silberne Frühlingsschimmer der Wiesen kommt, die die Böschungen säumen. Und die Signale der Autos von der Uferstraße her, die von fern manchmal wie kleine Glücksschreie klingen. Und die Fliegen und Käfer kommen herein. Erstaunliche Sorten manchmal, die sonst gar nichts in einer Wohnung zu tun und zu suchen haben, sondern nur an Waldrändern die hohen weißen Schirmblüten von Bärenklau und wilden Möhren umschwirren. Oder mit braunen Hirschgeweihen auf alten Eichenstämmen krabbeln.

»Aber das ist doch gar nicht so schlimm, Ruth!« denkt Fritz Eisner. Ich bestaune alles, was sechs Beine hat und Flügel. Und ich kann durchaus nicht begreifen, warum andere Menschen wie du, ja Frau Zehrer, die doch so ungefähr vom Land kommt, und selbst Maud ... meine anderen Kinder, vor allem Fränze, sind auf jeden Feuersalamander, der im braunen Laub kroch, auf jeden Igel, der aus der Gartenlaube flüchtete, mit Jubel losgegangen ... wie ihr alle vor solchen Sylphiden mit ihrer geflügelten Anmut weglaufen und schreien könnt, wenn ich sie euch zeigen will.

So etwas ist doch wirklich höchst beachtenswert. Sicherlich viel erstaunlicher, als man selbst ist. Menschen sieht man alle Tage. Aber Hirschkäfer? Und dazu noch in der eigenen Wohnung! Ohne vor die Tür zu gehen!!

Und gegen Abend, wenn die Fliegen und Käfer abmarschiert sind, kommen Nachtfalter herein. Eulen, Spinner und Spanner. Komisch: Schwärmer kommen nun mal nicht in die Zimmer. Sie sind zwar auch wild und stürmisch, wie die Spinner, – aber sie suchen keine Menschennähe. Sie meiden sie. Wenn sie nur ein offenes Fenster ahnen, kehren sie sofort um und entschweben.

Wie nett das immer wieder ist, wenn so eine Nachtmotte durch das Arbeitszimmer torkelt. Und dann gibt es Ordensbänder. Jeden August sind ein paar hereingeflogen. Drüben von den Eichen und von den Pappeln des großen alten Gartens weiter unten. So um Ende August herum, wenn erst die Abende beginnen länger zu werden. Rote öfter. Aber, auch ein blaues.

Doch Ruth fürchtet sich immer von neuem vor den Gästen dieser Art. Und Maud ist stundenlang nicht zu beruhigen gewesen, als ich die Schachtel voll Glühwürmchen aufmachte in ihrem Schlafzimmer, und die nun hochstiegen an die Decke und wie die chinesischen Wunderkerzen herumzukreisen begannen. Und dabei hat sie doch jeden Tag, einen Monat lang, als es noch gar keine gab, gesagt und gebettelt, daß sie heuer aber Leuchtkäferle sehen wolle. Aber es lag ihr doch wohl mehr am Aufbleiben, als an den Leuchtkäferles. Denn als sie nun so plötzlich aufs Bett und auf den Teppich herunterpurzelten, ganz steil, und leise verglimmend dabei wie kleine Meteore, die nur noch rötlich nachglühen, da ging das Geschrei erst recht los.

Aber es bleibt nicht bei Fliegen und Nachtmotten, die hier ihren Weg hineinfinden. Auch die Tannenwälder und die Buchenwälder wetteifern von beiden Ufern aus (zusammen mit den bemoosten Sandsteintrümmern) darin, wer seinen Hauch herüber- und hereinschicken soll. Je nachdem, ob Ost- oder Westwind weht, ist es Humusduft oder Tannennadel-Extrakt. Wenn es geregnet hat, atmen die Küchenkräuter in dem Gemüseland – Pfefferkraut, Dill und Minze – bis hier herauf durcheinander. Und, wenn die Sonne in die Reseden da vorn an der Mauer scheint und in die Moosrosen da unten am Zaun, so weht das ganze Zimmer mit ihrem Duft voll, daß noch am Abend die Bettücher danach riechen.

Ja, es kommt sogar vor –, einmal habe ich es selbst gesehen – Frau Zehrer meint, es wäre immer der gleiche – daß ein Buchfink, der sein oder ein – denn gerade sie halten wenig von der ehelichen Treue – Weibchen jagt, durch das eine Fenster herein- und im Nebenzimmer mit einem Schwung einfach durch das andere wieder hinausfliegt, weil er glaubt, es wäre hier ebenso sein Reich, wie die Holzpflöcke des Zauns, die Straße draußen, die Stangenbohnen und die Blumenbeete, die Drähte der Hochleitung und der gebogene Hauptast des alten Birnbaums, des einzigen, den man als Erinnerungszeichen an das jahrhundertealte Obststück, das hier ehedem zum Fluß sich senkte, gelassen hat.

Kein Mensch versteht, denkt Fritz Eisner, warum Ruth eigentlich gegen diese Wohnung in letzter Zeit so revoltiert. Ruth meint, »sie hätte doch die Wohnung gemietet und nicht die Aussicht und die Hirschkäfer«. Und dann: die Leute liegen ihr hier nicht. »Provinziell und kuhdof«, meint sie. »Sie wäre nun mal Norddeutsche!« Bisher hat sie immer ihr Lob gesungen. Weil sie so höflich und doch charmant dabei wären.

Nun ja, Norddeutsche gibt es hier kaum. Und es ist auch etwas durcheinander gemischt hier in der Siedlung. Kleinbürger – das sind hier jene, die in Berlin oder Stettin Proletarier sind – und allerhand Bildung. Hirnverletzte Ärzte. Pensionierte Lehrer. Pfarrer im Ruhestand. Kriegswitwen mit wenig Vermögen, noch weniger Pension und vielen Kindern. Städtische Arbeiter und Wachtmeister. Heruntergekommene Tünchermeister und Acquisiteure für irgend etwas: Staubsauger, Lebensversicherung oder Pfuschmedizin. Alle sind hier durcheinander geschoben wie ein Spiel Karten. Und alle streiten sich fröhlich untereinander, wer am nächsten Dienstag die Waschküche kriegen soll und hängen sich nachher Beleidigungsprozesse an den Hals.

Kleinbürger unterscheiden sich von den Gebildeten hier dadurch, daß sie erstens mehr Kinder bekommen, denn die Wohnungen sind ja eigentlich zu groß für ihre Bedürfnisse, und deshalb wollen sie sie füllen. Und daß der Kleinbürger leichter krank wird und einfacher stirbt. Merkwürdig, wieviel Menschen, von denen man es nicht geglaubt hätte, in diesen drei, vier Jahren hier so gestorben sind, alles nette freundliche Leute, die das gar nicht nötig hatten. Manche hat man sogar unten bei den Tannen und unter den Feuerlilien begraben. Andere auf dem Bergfriedhof in der Stadt, weil das von den Kliniken aus praktischer ist. Und schön und gesund ist eigentlich beides. Es sind gar keine Friedhöfe, wie sie so in unserer Vorstellung leben. Man sinkt da wirklich in die Natur zurück, gerade als ob man reumütig wieder zu ihr heimkehrt.

Ach Gott ja! Es ist überhaupt falsch zu glauben, daß die Menschen in schönen Gegenden weniger krank sind, als in häßlichen etwa. Wo das grüne Leben schneller sprießt und verweht, tun es auch die Menschen. Und hier ist es doch – das muß selbst Nuck zugeben – eine der schönsten und üppigsten Ecken von Deutschland gerade. Aber sicher nicht sehr gesund.

Ja, und drittens und vor allem unterscheidet sich der Kleinbürger dadurch von der benachbarten Bildung, daß sein Gartenstück stets wundersam instand ist. Sauber und bunt wie ein Teppich. Daß die Bohnen tragen, daß die Salatstöcke sich schließen, und daß die Tomaten in dicken Ballen blutglühend reifen. Und daß die Johannisbeerbüsche und die Stachelbeeren mehr Früchte als Blätter haben. Daß der Mangold – das Stielgemüse – das ganze Jahr fast trägt, und daß der Rhabarber wie eine Großbank wuchert und täglich neue Filialen sich zulegt. Daß bei ihnen ewig umgegraben, gesät, abgeerntet wird ... Während bei der Bildung auf den Bohnenbeeten Legionen von Schnecken sich zusammenfinden, die im Keim schon Herr über sie werden ... Die Salatstöcke schießen, statt sich zu schließen ... Und die Tomaten grün bleiben und nicht reifen und nicht rot werden. Höchstens, daß sie gelb vor Neid werden auf ihre kleinbürgerlichen Nachbarn.

Es hat zum Beispiel eine ganze Weile gedauert, bis Fritz Eisner eingesehen hatte, daß er ein Spinatbeet nicht ansehen, geschweige denn gießen darf, da es sonst sicher am nächsten Morgen gelb wird. Daß ein Huhn, das keine Eier legt, einem Huhn, das solche legt, vorzuziehen ist. Weil man sich für die Selbstkosten eines Eies eine Mandel davon auf dem Markt kaufen kann. Und daß es überhaupt das Beste ist, einfach Blumen zu setzen. Denn Blumen kann man zwar nicht essen, aber sie haben die Tendenz zu blühen. Und wenn sie es nicht üppig können, so tun sie es spärlich. Selbst am falschen Standort und schlecht gepflegt. Aber blühen tun sie. Ob das Buschrosen sind oder Delphinium. Zinien oder Goldball. Goldlack, hängende Herzen oder nur die kleinen kommunen violetten Astern. Die natürlich hat Fritz Eisner sich zuerst gepflanzt. Schon des »Klubs der violetten Aster« – die Alteherrenblume, unjung und nicht mehr ganz gesund. Dito passabel – willen. Und sie blühen jedes Jahr mehr.

Oder ob es auch nur die spanische Kresse ist. Sie blüht hier von selbst wie ein Galafeuerwerk. Sät sich immer wieder und immer weiter aus, Jahr für Jahr. Wirklich, denkt Fritz Eisner, die damals vor zwanzig Jahren in Friedenau auf meiner Loggia war, damals, als das erste Kind, mein armer kleiner Gast, mir so gemein wegstarb .. die damals, ich sehe sie noch vor mir, dagegen sind diese hier nur elende Jämmerlinge. Heute hätte es gewiß schon das Physikum hinter sich. Denn studiert hätte meine Tochter. Und das einzige, das befriedigt, sind ja doch Naturwissenschaften. Die wäre Arzt geworden. Kinder sollen immer das erreichen, was man selber nicht erreichen konnte. Fränze wollte jetzt doch lieber mit gesunden Tieren zu tun haben, als mit kranken Menschen. Vielleicht wäre Medizin für sie aussichtsreicher. Aber jeder soll nur das studieren, was ihm Freude macht. Sonst ist das Studium sinnlos und man erreicht doch nichts.

Jaja ... üppig ist es hier schon, wenn auch nicht so, wie draußen an der Bergstraße ... da wächst einfach alles erdrückend durcheinander. Aber auch hier kann man Wunder erleben. Nuck soll nur mal den Versuch machen und »Marley, den Stock«, in die Erde pieken! Nach vier Wochen kann sie Aprikosen von ihm schütteln. Richtige Aprikosen. Und für Aprikosen läßt sie doch ihr Leben. Also das versteht kein Mensch (denkt Fritz Eisner): warum kann sie denn Obst in hemmungslosen Mengen vertilgen, während ihr doch sonst jetzt nun bald alles ... aber auch fast alles widersteht?! Und dabei sieht sie trotzdem doch ganz gut und eingebrannt aus. Und es geht ihr auch zur Zeit nicht mal sonderlich schlecht. Naja! der Mensch ist eben ein komisches Wesen. Er kann sich wohl an alles gewöhnen. Sogar an Krieg und Kranksein und an Nichtessen.

Aber Nuck meint dann jedesmal, »daß das mit ›Marley, dem Stock‹ den Naturgesetzen zuwiderliefe« – sie liebt so eine etwas gesteigerte Diktion. »Und außerdem wäre Marley, der Stock, ein Malakkarohr. Und dann würde auch ihr Jorry sich nicht für einen Wald voll Affen«, sagt sie, »wie Shylock sagt, davon trennen. Alte Herren werden komisch.«

Und viele haben, das ist hier von jeher so, einen Onkel oder eine Großtante drüben überm Wasser, die in den Brief mal einen Greenback oder deren mehrere einlegen. Und abgelegte, aber nicht abgetragene Kleider schicken, die zwar wie Maskenkostüme aussehen, aber doch aus Wolle, Baumwolle oder Seide sind. Und nicht aus buntgefärbtem Löschpapier, alten Zuckersäcken, und dem, was man sonst seit acht Jahren hier in Deutschland für Kleiderstoffe ausgibt. Und sogar Pelzjacken schicken sie. Unmöglich dick. Aus kanadischem Waschbär. Sicher sehr gut für Fahrten im Eskimoschlitten.

Ja und irgendwo und irgendwie wird der Kleinbürger auch immer satt. Oder so beinahe satt. Und wenn er mal eine Woche lang auch nur Kartoffeln, Pannekuchen, Bohnen und Salat ißt, dann trägt er wieder die nächste Woche große Bleche mit Pflaumenkuchen und Hefekränze über die Brücke zum Bäcker und trinkt dann Kaffee dazu oder das, was sich dafür ausgibt. Bis er nicht mehr bah sagen kann.

Aber schlecht, wirklich schlecht, bejammernswert schlecht, gehts hier diesen alten Leuten, den ehemaligen Musikern, Künstlern, Architekten, Sprachlehrerinnen, solchen, die bisher von kleinen Renten gelebt haben. Und die nun nicht einen Pfennig oder eine Million, was im Augenblick ungefähr das gleiche ist, mehr haben. Die ein Stück nach dem andern in die Pfandkammer tragen. Und die sich hartes Brot in dünner Milch wieder aufkochen. Die im Winter keine Kohlen haben. Und deren Kleider in acht Jahren graue Lumpen geworden sind. Die seit langem nicht mehr wissen, was es heißt, sich satt essen. Und die früher einmal ganz behaglich und kultiviert gelebt haben und nichts daraus gerettet haben, als eine etwas traurige Grandezza. Und die deshalb, ehe sie exmittiert werden sollen, noch schnell den Gashahn aufmachen.

Jämmerlich schlecht, denkt Fritz Eisner, geht es den jungen Leuten, – denen gehts schlecht, jämmerlich schlecht heute, die auf die Landstraße gekommen sind, nicht zurückfinden, und in nie endenden Zügen zu jeder Jahreszeit, mit gedorrten Gesichtern und von der Sonne ausgebleichten, zurückgestrichenen Haaren hier die uralte Uferstraße entlangtippeln. Einer gibt bei mir dem andern die Klinke in die Hand. Sie sagen zwar alle, sie seien Werkstudenten. Aber wer einen Blick hat, weiß genau, aus welchem Stall sie kommen, und wie lange sie schon auf der Walze sind. Ob sie noch zurückfinden werden oder nicht. Und was diese starr und ins Weltenlose gerichteten Pupillen verraten. Wieviel Nächte sie heuer nicht platt gemacht haben, sondern in ein Bett gekommen sind. Und ob sie schon etwas auf dem Kerbholz haben und gesucht werden oder nicht. Es ist nicht auszudenken, wenn man sich sagen müßte, man hätte selbst einen Sohn, der so herumzieht und vielleicht bei Leiferde zum Schluß Eisenbahnzüge in die Luft sprengt.

Die Zwischenschichten sind es, die jetzt zuerst zerrieben werden. Der alte Reichtum, der kaputt geht. Das gute, langjährige Geschäft mit der altmodischen Moral, das zerbricht. Der Besitz, der vernichtet wird, Leute, die um ihre Kriegsrenten prozessieren, und, da sie die Schwächeren sind, schon vorher kaputtgehen, ehe sie sie vielleicht bekommen hätten. Alle, die nicht hell und nicht unanständig genug sind.

Vielleicht sind das zahlenmäßig gar nicht so furchtbar viel mehr, als es vorher waren, denkt Fritz Eisner. Aber vordem ist die Armut doch sozusagen unter sich geblieben. Und da sie das tat, hat sich kein Mensch so richtig um sie gekümmert. Sie soll es mit sich abmachen, hat man gemeint. Und außerdem war sie ja in dieser netten Welt, wo man eigentlich nicht arm zu sein braucht, selbst daran schuld, daß sie eben arm und elend war ... Aber plötzlich verkommen Leute, gehen vor die Hunde, verhungern buchstäblich, verrecken in leeren Bettkisten unter alten Zeitungen und werden nach Wochen als Leichen gelandet.

Und da wird man nun aufmerksam und meint, es müsse doch irgend etwas geschehen. Es ist das ungefähr so wie in Indien mit der Pest. Solange sie in Eingeborenenvierteln wütet, ist sie Gottes Wille. Sowie sie auf die Europäerviertel überspringt, erwägt man sanitäre Maßnahmen.

Unleugbar, das sind alles so kleine Peinlichkeiten, denen Ruth hier etwas nähergerückt ist als ehedem in der Düsseldorfer- oder der Hohenzollernstraße etwa. Immerhin, wer kann eigentlich sonst gegen diese Wohnung etwas einwenden? Wenn auch die richtige Polstermöbel- und Portieren-Behaglichkeit, der Gute-Leute-Stil fehlt bei ihr. Das, woran man gleich die gehobene Steuerstufe sieht. Aber das will man doch gar nicht mehr. Mir liegt gewiß nichts daran. Und Ruth ist überhaupt »für das Glatte, Kahle, für das Moderne, weil das der psychischen Struktur des Nachkriegsmenschen adäquat« – sie spielt gern Ball mit Fremdworten – »und konform ist«.

Dafür, um das zu paralysieren, denkt Fritz Eisner, hab ich mir einfach so allerhand nette Dinge hierher geschleppt. Aus meinem alten Haus. Vom Keller bis unters Dach steckt da alles voll. Und, im Vertrauen, ich sammele noch immer heiter fort. Vor Nuck behaupte ich zwar kühnlich: Nein. Aber – das kann ich nun mal nicht anders. Und etwas brauche ich nun mal um mich, damit das Auge sich ab und zu von den glatten Scheußlichkeiten der Möbel, die ich Nuck zuliebe sehr schön finde, ausruhen kann.

Und außerdem höfliche Menschen, die gar nichts damit anzufangen wissen, stottern daraufhin beglückt: »Bei Ihnen ist ja das ideale Wohnmuseum, Meister.« Ich bin nur ein kleiner Schuster: sie sollten mal zu Paul Gumpert kommen. Und beginnen Unsinn zu reden. Und ferner braucht man bei neuem Besuch – Ruth sammelt Menschen wie Briefmarken – das erste Mal nie um einen Gesprächsstoff verlegen zu sein. Bis der sich alles angesehen hat, ist schon wieder Zeit, daß er fort muß, wenn er den nächsten Zug nicht versäumen will.

Aber das Geheimnis hat Ruth: sie hält Niveau. Den trivialsten Menschen gelingt es nicht, in ihrer Gegenwart trivial zu sein. Das sind sie erst wieder, wenn sie die Tür von außen zugemacht haben. Wirklich, sie ist doch eine umgekehrte Circe. Die hat Menschen in Tiere verwandelt, sie verwandelt Tiere in Menschen.

Also – es ist doch wirklich sehr idyllisch hier. Was hat Ruth denn mit einem Male dagegen? Es ist doch so vollkommen irrelevant, ob die vier Zimmer nach ihren Worten glatt wie Pralinéschachteln sind, oder ob sie halbrund sind. – Im Kitsch gibts keine Abstufungen! Ob sie niedrig sind, und ob der Flur nur aus Türen besteht und kaum ein Stück Wand für einen Garderoben halter da ist. Deshalb hat man ja eben Garderoben haken eingeschraubt. Ob das Badezimmer so eng ist, daß man, wie sie meint, am besten tut, sich in der Wanne an- und auszuziehen. Warum ist das mit einemmal unmöglich? Das weiß sie doch alles seit Jahren. Um Kleinigkeiten hat sich der Prätor nicht zu kümmern. Dafür ist dann eben das andere, das Sommerbadezimmer da draußen, mit ständig fließendem Wasser und pompösen Ankleide- und Auskleideräumen, ganz grün und bunt ausgeschlagen und mit silbergrauen Vorhängen aus Weidenbüschen um so komfortabler. Und man hat außerdem Fische, Libellen und Schwalben zur Unterhaltung. Man hat da eine blau und weiß angestrichene Decke, himmlisch schön. Man hat Berge voll Wald an die Wände gemalt. Sie ist stets gerade gut geheizt. Und sie ist hell wie der lichte Tag. Sie hat Sonnenbäder und Wellenbäder. Je nachdem, wie man es will. Ob man sich nun in den Rasen legt. Oder auf der Kiesinsel die Wellen scharf sich über den Leib strömen läßt. Was fragt man da viel nach der Badestube in der Wohnung eigentlich! Zum mindesten: Solange es warm ist. Und das ist es ja hier sehr früh schon. Vom Mai an, ja manchmal sogar schon im April.

Eigentlich kann Ruth doch nun wirklich froh sein, daß wir hier endlich hängengeblieben sind. Nachdem wir in München so jämmerlich hinten abgerutscht waren. Und in Berlin auch nichts zu machen war mit Wohnungen. Es sei denn mit einem Konglomerat von Betrug, Erpressung und Bestechung. Und außerdem wollte ich es nicht, solange das mit der Heirat nicht klappte, denkt Fritz Eisner. Und wie das dann endlich klappte – hatte ich auch keine Lust. Ich schätze es nicht, wenn man mir auf die Schulter klopft: »Na, sind Sie jetzt wieder verheiratet, Meister?«

Immerhin, man stelle sich vor: eine Frau haben, ein Kind haben, die Frau doch eigentlich leidend von der Stunde an, da das Kind unterwegs war, für zwei Familien arbeiten müssen, es zahlen können und einfach in einer großen Stadt kein Dach finden, unter das man kriechen kann! Und jedem Nepp und jedem Betrug ausgeliefert sein. »Ja, und Eines«, sagt der Agent, »ist dabei: Die Herrschaften wandern nach Brasilien aus, und da müssen sie für 12 000 Goldmark die wertvolle, erstklassige Einrichtung mit übernehmen«. »Wenn das einem jemand vor sechs Jahren erzählt hätte, so wirds in Deutschland noch kommen, man hätte den Kerl nach Dalldorf bringen lassen! – Nein Ruth, jetzt werd ich mal die Sache in die Hand nehmen! Wenn ich wieder nach Hause zu den Kindern fahre, um nach ihnen zu sehen, da stehen so auf halbem Wege vor der Stadt unfertige Häuserblocks. Der Platz ist sehr schön. – Die Umgebung wie ein grünes Märchen. Ich glaube, sie werden jetzt fertig.« Und richtig, der Bürgermeister hat sogar etwas von einer Ehre für die Stadt gesprochen. Der Münchener hatte etwas von einem verdächtigen, hergelaufenen Schlawiner gesagt. So verschieden malt sich das Gleiche in zwei Köpfen.

Ruth hat doch damals gejubelt. Und nun, nach bald vier Jahren, in denen doch alles schlimmer statt besser geworden ist – mit einem Male gefällt ihr dies und das nicht. Und dabei ist es doch immer noch schwerer geworden, sich eine Bleibe zu schaffen. So junge Eheleute, ob die hier oder da sind, das macht doch nichts aus. Aber ein Kerl wie ich, ein paar Jahre über 50 schon, der eine Menge Menschen durchschleppen muß mit seinen Händen, mit seinem Kopf, mit seinem Hirn, der braucht schon zum mindesten ein Zimmer, in dem er ganz ungestört sein kann. Und da ist dann zum Schluß auch die beste Pension nicht das Rechte. Endlich habe ich schon vorher zehn Jahre in meinem Haus gewohnt, nicht wahr? Ich habe genug davon. Ich kenne das alles. Bis hierhin habe ich's. Und ich mag auch das Essen da nicht. Es bekommt mir nicht. Ich komme 'bei herunter. Und dann, – ich möchte nicht mehr gern herumexperimentieren – j'y suis, j'y reste –. Und ewig geht das doch nicht so weiter mit der Inflation, denkt Fritz Eisner. Die Seifenblase jetzt muß doch mal platzen. Gewiß, ich habe Glück, ich bin die ganzen Jahre anständig durchgekommen. Ich bin ein Stehaufmännchen. Ich bin nicht klein zu kriegen. Seit vier Jahren schreibe ich jede Woche einen Artikel für Kopenhagen – einfach und harmlos über neue deutsche Bücher ... für eine wöchentliche Literaturseite zusammen mit einem Engländer über englische, und mit einem Franzosen über französische. Wird da sogar übersetzt ... kann's also sogar deutsch schreiben. Und dann lasse ich mir in Dollars zahlen. Und von dem einen Artikel wöchentlich leben zwei Familien einen Monat lang. Ich kann gar nicht alles aufbrauchen. Und die Bücher gehen auch besser als warme Semmeln.

Nein, Ruth soll mir noch einmal eine solche Wohnung zeigen wie die. Man braucht gar keinen Kalender hier. Ja, man braucht sogar kaum eine Uhr, denkt Fritz Eisner. Wenn ich zum Beispiel wie vorhin von der Arbeit und dem Schreibtisch aufsehe und oben am Himmel, genau in der Waldecke dort, das Habichtspaar seine Schauflüge macht, dort, wo die beiden Berge sich einander nähern – es ist so weit, daß man nur selten ihren Schrei hört, und dabei sehen sie so groß und so ruhig wie Flugzeuge aus ... dann ist es stets genau drei Uhr. Drei Uhr zehn sind sie wieder hinterm Berg. Einen Tag, wie alle Tage. Durch Wochen beobachte ich das doch schon.

Oder, wenn das erste Reiherpaar, Fischreiher, die in der Ebene draußen viele Meilen von ihrem Horst entfernt, beschäftigt sind, in langem Schwebeflug mit gekrümmtem Hals, flügelarbeitend und die Luft hinter sich zurückdrückend, durch die Bergpforte des Tals, die Sonne hinter sich, – wie durch den Spalt eines Vorhanges herankommen, dann ist es eben sechs Uhr abends. Nach der Sonne können sie sich nicht richten. Denn es ist ihnen gleich, ob da schon die Abenddämmerung – grau und rosa wie eine Prinzessin, von Velasquez gemalt – den Himmel zuschleiert, oder ob noch gerade später Nachmittag im Hochjuli ist. Nein, sie müssen sich schon nach einer Uhr richten. Wo findet man wieder, denkt Fritz Eisner, eine Wohnung, in der man weder Chronometer noch Kalender braucht? Wirklich, Ruth soll mir noch einmal eine Wohnung zeigen wie die.

Aber ich weiß schon, ich höre sie: was nützt mir eine Wohnung, deren Vorzüge auf der Straße liegen? Und vor allem, in der man keinen Menschen hat. Ich will nun mal immer da sein, wo sich die Dinge entwickeln und wo viele Menschen zusammenströmen, die etwas wollen. Hier schläft alles. Für dein – »Troll, sei dir selbst genug!« bin ich noch nicht alt genug. Mit siebenundzwanzig Jahren!


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