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Kapitel IV

Ruth

Titatata tumtatiii. »Wer pfeift denn das wieder ganz unten von weit her schon herauf? Es kann kaum erst am andern Ende der Straße sein. Und dann pfeift es noch einmal. Aber wieder von ganz weit her. Sicher von dort, wo der Weg sich zur Uferstraße und zum Neckar senkt. Aber diesmal lauter und deutlicher. Das kann nur Ruth sein. So hoch pfeift keiner sonst. Warum denn eigentlich schon so von weitem? Also Frau Zehrer hat wohl Maud jetzt schon im Bett.«

Titatata tumtatiii antworten Fritz Eisner und Fränze.

»Ich werde jetzt doch gehen müssen«, meint die und läßt Emi los.

»Bleib doch ruhig zum Abendbrot da, Fränze. Was tust du mit dem angebrochenen Nachmittag, mein Kind?«

Fränze wird etwas rot. Oder ist das nur von der Krabbelei unter dem Sofa her. »Ach nein«, meint sie, »Käthe Marx wartet auf mich. Ich stenographier immer mit und sie tippt dann die Kollegs sich in die Maschine, und da man das Stenogramm eines andern so schlecht lesen kann, so diktier ich ihr dann. Da repetier ich es auch gleich mit.«

Na ja, dreiviertel wird es wohl auch wahr sein. Kollegs, Stenographie und Schreibmaschine stimmen vielleicht. Frage nicht, damit du nicht belogen wirst! Gerade da Ruth kommt. Immer wenn man denkt, man hat sie ungefähr zusammen, nun wird es sich von selbst weiterspinnen, hat es zu Hause wieder ein Dutzend Szenen mit dem Schlagwort »Entfremdung« und »nur eine Mutter fühlt« gegeben und die latente Spannung ist wieder da. Und dabei passen sie doch zusammen.

Gewiß – wenn ich es hätte erreichen können, daß, wie vereinbart, jedes Kind im Jahre sechs Wochen – vielleicht haben wir auch zu nahe beieinander gehockt dazu – bei mir gewohnt hätte. Aber nachher hieß es immer, die Kinder wollten nicht mit der »fremden« Frau »unter einem Dache« (nur in solchen Verbindungen bekommt der Dativ noch das e) wohnen. Also, solange wir nicht verheiratet waren, haben sie sich eigentlich doch ganz gut verstanden, Ruth und die Kinder. Haben sie als solche Art großer, hübscher Schwester genommen. Wie jetzt Maud Fränze. Und hätten wir nicht geheiratet, so wären sie jetzt sicher die besten Kameraden miteinander. Aber so ging das natürlich nicht .

Und zwingen könnte man sie eben nicht. Die Kinder tobten schon bei dem Gedanken, hieß es. Natürlich konnte man sie zwingen. So etwas ist sogar ein beliebter Sport der Vormundschaftsgerichte. Nur erreicht man – das wußte Annchen sehr genau – damit das Gegenteil von dem, was man erreichen will, und treibt Menschen innerlich auseinander, statt sie zusammenzubringen. In ein paar Wochen wird Fränze gottlob majorenn. Da kann sie selbst entscheiden. In so etwas kann nun mal nur die Zeit für einen arbeiten.

Ach, da kommt Ruth die Straße herauf. Sie ist eigentlich, wie sie da so kommt, fast mehr als stattlich. Und reichlich über mittelgroß. Ist sicher in den sechs, sieben Jahren, da ich sie kenne, noch gewachsen. Und auch etwas schwer und üppig. Aber sie hat, wie solche Frauen oft, einen schnellen und spontanen Gang mit ausgreifenden Schritten. Ihr Kopf steht sehr gerade auf dem ein wenig schweren Nacken. (Wie ein Zebukalb sage ich immer, aber das ist übertrieben.) Sie liebt es besonders, gerade Ausschnitte zu tragen. Daß die Marmorsäule des Halses, die auf der breiten Tempelschwelle der Schultern aufragt, ganz frei ist.

Sie hat eines ihrer grünen Seidenkleider – das schätzt sie sehr, diese Farbe zwischen resede und russischgrün – an und hat wie immer ihren grauen Velourshut auf. Das heißt, einen aus der Reihe ihrer grauen, silbergrauen Velourshüte. Diese sparsame junge schöne Frau Eisner, denken die Leute. Sie trägt immer den gleichen Hut seit vier Jahren, Sommer wie Winter. Und immer denselben erdbeerfarbenen Taftmantel über dem Arm. Den sie stets mitnimmt, aber nie anzieht. Die Mode, sich die Haare bobben zu lassen, hat sie nicht mitgemacht. Wenn sie auch oft mit dem Gedanken gespielt hat. Aber sie hat viel sehr glattes und sehr schönes Haar, schwarz und schimmernd wie Glanzruß. Das gehört zu ihr, ist ein untrennbarer Bestandteil ihrer Erscheinung. Und sie sieht das ein. Vielleicht ist ihr das auch zu oft gesagt worden, daß es schade darum wäre. Wie sie mit ihrem vollen Haarknoten aussieht, weiß sie. Und ihr Mann weiß es auch. Und andere haben es gewußt. Aber wie sie dann aussehen würde, ist unbestimmt. Außerdem ist der Kopf eher rund als länglich. Und für solche Gesichtsformen ist der Haarschnitt selten ein Vorteil.

Ruth ist ziemlich rot und hastig und winkt herauf. Aber sie scheint mich doch noch nicht genau erkennen zu können. Sie ist ein wenig kurzsichtig. Wie das Leute mit so übergroßen, schwimmenden und etwas gewölbten Augen – aber das schönste an ihnen sind diese ganz zirkelgenauen und feinen Brauen darüber –, wie die es oft sind. Kein Schönheitsfehler, aber ein Fehler der Schönheit.

»Na, was hast du denn schon von ganz unten her so laut gepfiffen?«

»Ach, denke mal«, ruft sie, »da unten ist doch ein fremder Mann mit einem Revolver auf mich zugekommen. Und da habe ich gepfiffen, du sollst kommen. Ich habe gedacht, es ist ein Amokläufer. Solchen Menschen ist es ganz gleich, ob sie mit den Gesetzen in Konflikt geraten. Sie legen bekanntlich längeren Freiheitsstrafen kein Gewicht bei.«

»Wo ist er denn lang gegangen! Aber hier passiert doch eigentlich nie ...«

»Ach Gott, laß mich doch ausreden. Ich bin doch so kurzsichtig. Wie ich näher komme, zieht der Amokläufer den Hut. Da war's doch der Herr Vogel von Nummer 12 mit dem Hausschlüssel in der Hand. Und der hat mich dann hier ein Stückchen heraufbegleitet.«

Fränze steckt jetzt neben mir lachend den Kopf zum Fenster hinaus. Die Begrüßung ist sonst jedesmal etwas steif und peinlich zwischen den beiden. Wenn sie sich eine Zeit nicht gesehen haben, sind sie immer gegeneinander verputscht und wenn sie noch so lustig und freundlich auseinander gegangen waren. Aber dieses Mal ist Gelächter gleich am Anfang. Überhaupt ist Fränze jetzt sehr vergnügt. Erstens Halle. Und zweitens die Ente. Und jetzt noch der Amokläufer. Das Leben ist wieder sehr komisch. Und dann ist auch das Zimmer jetzt so schön. All das Zeug ringsum, die gotischen Figuren, die alten Mahagonimöbel schimmern plötzlich auf in der sinkenden Sonne, – das tun sie immer nur wenige Minuten lang – als ob sie von innen her ganz langsam erglühten.

Und dann ist Ruth oben.

»Na, was war nachmittag? Ich habe mich verspätet. Frau Dr. Holland hat mich noch zum Tee ins Grand geschleppt. Also, wie immer: ein Dutzend Amerikaner – unserer war auch da –, ein halbes Dutzend Franzosen und drei Dutzend Balkanier und acht Schweden. Ich denke wenigstens, es waren Schweden. Außerdem sah man's ja an den Fähnchen, die in den Blumenvasen auf ihrem Tisch steckten. Ja, und drei Deutsche. Ich jedenfalls habe nicht mehr gesehen. Und die Gräfin T. Und Frau Ehmke, du weißt doch, die, bei deren Enkel Maud vorigen Sonntag eingeladen war. Die hat sich da von einem Gigolo her um schwenken lassen. Der Arme hat mir auch wieder leid getan. Hantle du mal so fünf Minuten lang mit zwei Zentnern Lebendgewicht. Auf der Bank war ich vorher. Kehl ist gestiegen. Gewechselt habe ich auch. Aber gleich drei Dollar. Der Mann sagte, der Dollar fällt wieder.«

»Richtig. Gerade das würde ich auch sagen ... wenn ich Bankmensch wäre.«

»Ist Maud schon zu Bett? War sie artig? Hat die Zehrer viel Mühe mit dem Waschen gehabt? Wo ist denn Emi?«

»Ich nehme an, wieder unterm Sofa, mein Kind.«

Denn als Emi Ruth kommen hörte, hat er sich in dem richtigen Gefühl, daß die Sache mit der Ente doch nicht so ganz glatt für ihn abgehen würde, wieder in seine Siegfriedstellung zurückgezogen.

Dann aber ... (wozu soll ich die Ente nochmal aufwärmen?) ist sie bei mir. »Jorry, blöder Hammel, und was hast du nachmittag für Unfug getrieben?«

»Ich? Ich habe den ganzen Nachmittag gelesen und gearbeitet.«

»Ist Fränze schon lange hier? Ein paar Minuten erst? Und was machen die Maikäfer, Fränze? Seit wann gehst du zu Gundolf? Ich habe dich da neulich mal von weitem leuchten sehen. Da du aber sehr eifrig mit Beschlag belegt zu sein schienst, wollte ich mich nicht bemerkbar machen.«

Jetzt ist es an Fränze, etwas verlegen zu werden. Aber Frauen haben immer eine Parade. »Du hast jetzt mit Fräulein Franke, einer Institutskollegin von mir, bei der Ritzhaupt Gymnastik? Wie macht sich denn Fräulein Franke? Gut? Ich kann's mir nicht vorstellen.«

Ruth sieht zu mir herüber. Aber sie versteht es wieder mal sehr geschickt, eine Situation abzubiegen. »Man plaudert nicht aus der Schule«, sagt sie, »damit wollte ich deinen Vater überraschen. Weißt du, er stöhnt doch immer so über die elektrischen Rechnungen. Deshalb will ich jetzt die Kerze lernen. Da können wir dann immer bei Kerzenbeleuchtung zu Bett gehen. Das ist viel billiger.«

Ich lache und auch Ruth lacht. Und Fränze stimmt ein. Eigentlich ist sie ja doch ein originelles Luder, die da, die ihr Vater sich gekapert hat, oder sie ihn. Wenn man immer zusammen wäre, würde man ganz viel voneinander haben. Sie ist mehr mit dem Leben verbunden und man selbst mehr mit der Wissenschaft. Warum hat man das eigentlich nicht schon eher gesehen? Warum läßt man sich immer wieder in Aversionen hineintreiben, die man doch gar nicht hat?

»Du, Ruth«, sagt sie, »weißt du schon, ich gehe jetzt das Wintersemester nach Halle zu Ehrenfried. Der Olle da hat's erlaubt vorhin. Und wenn ich dann zurückkomme, dann wohne ich mal länger bei euch. Ich seh das gar nicht ein. Wir werden dann beide auf ihn aufpassen. Wozu werde ich denn majorenn?«

»Also abgemacht. Wenn wir noch hier sind. Wir werden das schon mit dem Bett einrichten. Aber du bleibst doch jedenfalls schon als Anzahlung zum Abendbrot hier jetzt. Ich will noch mal nach dem Kind sehen. Es schläft sonst nicht ein.«

Ich rufe ihr noch nach. »Sage mal, hast du wegen der Gymnastik Holland gefragt, ob du es auch darfst?«

Ruth dreht sich nochmal in der Tür um, und wirklich, sie sieht sehr hübsch aus so im Türrahmen. Von dem Turban von Ebenholzhaar bis zu dem schwimmenden Weiß der großen dunklen Augen bis herunter zu ihren langen dunkelgrauen Seidenstrümpfen, ganz und gar von der Sonne angeglüht, die jetzt schon mit der unteren Rundung verschwinden will und fast vollkommen frontal ihre letzten kupfrigen Strahlen wirft. Etwas nervös spielt sie dabei mit ihren Schuhspitzen. Der dunkelgraue Wildlederschuh ist ausgeschnitten und hat zwei Augen, durch die das Hell des Strumpfes sieht und hin und her huscht wie ein Wiesel. Wie ein kleines nervöses Tier, das auftaucht, schwindet und wieder hervorhuscht, nur um sich von neuem zu verstecken. Man müßte doch malen können!

»Nun bleib mir doch endlich mit den Ärzten weg«, ruft sie. »Ich denke, wir wollten jetzt immer das Buch ›Der Arzt und seine Verhütung‹ zusammen schreiben.«

»Aber es ist sicher nicht das richtige für dich. Was macht denn die Milz in letzter Zeit? Geh wenigstens deshalb wieder mal zu Dr. Holland. Er will dich doch alle vier Wochen durchleuchten. Du darfst nie vergessen, daß du ein interessanter Fall bist. Auch wenn es dir noch so gut geht gerade.«

»Ach, ich habe genug von den Ärzten und ich werde wirklich zu dick«, ruft Ruth und geht, weil Maud hinten »Mutti, Muttiii, Muuutttiiiii« brüllt.

»Ich will auch schnell noch Maudi Gute Nacht sagen«, meint Fränze spontan und geht zur Tür, dreht sich aber noch mal um da. »Waren wir eigentlich auch so niedlich?«

»Was heißt wir? Du nicht, aber Hänseken. Deine Meriten lagen von früh an auf andern Gebieten. Siehst du, das wäre gleich ein Fontanescher Vers.«

Und dann ist Fränze auch draußen und man hört sie beide mit dem Kind herumdalbern. Ich weiß genau, wenn ich jetzt auch hingehe, fallen beide, Ruth und Fränze, über mich her, denkt Fritz Eisner. Merkwürdig, Frauen können innerlich sogar miteinander verfeindet sein, sowie es sich um ein Kind dreht und es gegen den Mann geht, sind sie einig. Solange protegieren sie uns auf unsere Kosten. Aber dann heißt es, wir stören das Kind, es könne nachher nicht einschlafen. Das Kind müsse Ruhe haben. Und dürfe nicht vor dem Schlafen aufgeregt werden. Wir könnten vielleicht dies und jenes, aber verständen nichts von Kindererziehung. »Das sehe man ja an ihnen«, sagt Fränze dann. Unsinn. Soweit ich bisher es immer gesehen habe, ist die bessere Mutter in jedem Fall der Vater.

Wie schön das jetzt ist. Die Berge sind ganz dunkelblau geworden. Und am grünen Himmel sind einige wenige kleine orangenfarbene und kirschrote Wolken über ihnen. Drüben vom Ort sind zwei Ketten von gelben Lichtern – denn eigentlich ist es ja noch hell – übereinander aufgegangen. Die eine Kette zieht sich gerade, die andere in schräger Kurve hügelan. Und sie leuchten scharf wie Katzenaugen, wenn des Nachts auf der Landstraße der Scheinwerfer des Autos in sie hineinfällt, herüber. Der Fluß aber ist ganz still und ölig nun, spiegelt hell den grünlichen Himmel und die roten Wolkenstreifen. Und die vielen Boote, die unter dem Sandsteinbogen der Brücke hindurchtreiben – am Tag hat er das schöne Gelbrot der alten Steinbrüche hier ringsum, jetzt aber die Farbe geronnenen Blutes –, sind ganz schwarz oder tiefbraun auf der hellen, glatten Seite des Wasserspiegels. Sind mit der feinsten Silhouettenschere ausgeschnitten bis dort hinten, wo sie nur noch dünne Striche werden. In vier Jahren bin ich nie müde geworden daran. J'y suis, j'y reste.

Frau Zehrer balanciert ein Tablett auf ihren quabbligen Handgelenken. In der alten Bluse von Ruth mit den rumänischen Stickereien, die sie ausgeschnitten hat bis sonstwohin, und aus der die Arme nun herauskommen, daß man glauben möchte, sie hätte sie mit den Beinen verwechselt.

»Also, hören Sie, liebe Zehrer, wir wollen der Frau nichts von der Ente sagen.«

»Gewiß«, sagt sie, »ich werde schweigen, gnädiger Herr. Aber es ist nicht gut, wenn zwischen Eheleuten Unwahrhaftigkeit Platz greift« (also wenn der Pöbel geschraubt wird! Und woher nimmt überhaupt Frömmigkeit das Recht, andere Leute ständig zu vermahnen?). »Die gnädige Frau hat nebenbei gewünscht, daß ich hier decke.«

Emi hat sich wieder herausgewagt. Erstens ist er ein guter Psychologe und weiß sehr genau, wenn eine Sache verjährt ist: und man nur noch mit dem Finger droht »Alterle, Alterle, dir werd ich noch mal das Fell locker machen«. Und zweitens weiß er, daß ihm Frau Zehrer, trotzdem sie verfeindet sind, in Gegenwart dieses großen guten, aber geistig leider wohl etwas minderwertigen Mannes (denn man kann ihn zu allem mißbrauchen ... aber er riecht recht sympathisch), nichts tun darf. Und drittens hätte ihn selbst bei allen diesen Bedenken das Geklapper von Tellern und der Duft von Spritzgebackenem hervorgelockt, für das er sogar gern ein paar Kläpse noch hingenommen hätte. Denn die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß er nachher dann gerade mehr als seine normale Ration bekam. Für so etwas zahlte er jeden Preis.

»Ich würde den Hund abschaffen an Ihrer Stelle, gnädiger Herr«, sagt Frau Zehrer und blickt noch einmal über den Tisch, ob auch alles richtig liegt. Und dann trendelt sie auf ihren hohen braunen Schnürstiefeln aus dem Raum heraus. »Der Herr Pfarrer Moser ist der gleichen Meinung.«

Ja, und dann kommen Fränze und Ruth zurück. »Maud war reizend. (Sie sind noch ganz voll davon.) Abends im Bett sind Kinder immer am nettesten. (Nur Kinder?) Bis man solch Kind kriegt, ist es eine Quälerei. Wenn man's kriegt, eine Gemeinheit. Man kann ein Gutteil seiner Gesundheit dabei zusetzen. Nachher ist es doch das einzige, was man hat. Ich geb's nicht wieder weg.«

Wie kommt nur Ruth plötzlich auf so etwas?! »Es wird auch nicht von dir verlangt, Nukelino.«

»Alter Jorry, kannst du mir versprechen, daß das nie von mir verlangt wird?«

Ich verstehe nicht recht, was sie damit meint. Warum ängstigt sie sich plötzlich, daß sie das Kind verlieren wird. Gewiß, Garantiescheine werden nicht ausgegeben. Aber nach menschlichem Ermessen. Doch vielleicht hat Ruth das gar nicht so gemeint, sondern ganz etwas anderes sich dabei gedacht. Sie berechnet zwar doch sonst – eine Diplomatin ist sie darin – jedes Wort und seine Wirkung haargenau.

Fränze und Ruth sind sehr d'accord heute. Sie erinnern mich an solch ein altes Auto, bei dem der Motor so schwer anspringt; aber wenn's mal erst läuft, kann man eigentlich nicht klagen. Nur daß man im Anfang immer so die gleichen Scherereien damit hat und jedesmal denkt, man kriegt es nicht wieder in Gang und muß es abschleppen lassen. Aber dann, wenn man es am wenigsten erwartet, schnattert es plötzlich los.

Ruth und Fränze scheinen auch irgendwelche Geheimnisse miteinander zu haben, denn sie reden mit verschwommenen Andeutungen und blinzeln sich lächelnd an. Überhaupt haben sie sich beide gegen mich verschworen, protegieren mich zwar scheinbar, aber doch sehr von oben herab: der alte Herr wird etwas komisch .. denn für 21 und so ungefähr 28 ist man zum Schluß ja doch mit 53 schon der alte Herr! .. In diesem Augenblick ist Ruth nur die älteste Tochter und die ältere Schwester. Und das ist vielleicht wieder Berechnung von ihr. Aber es ist nicht unklug. Denn Töchter sind nun mal immer eifersüchtig – nicht nur auf die zweite Frau – was den Vater betrifft.

Das Zimmer ist noch hell und im rosigen Schein von draußen. Wir brauchen das Licht noch nicht anzuknipsen beim Essen. Bei Ruth gibt es eher gut als viel. Sie hat also irgendeinen kalten Salat aus Spargeln und Eiern im Hintergrund gehabt. Mit Schinkenscheiben dazu. Sardinen, Käseschüssel. Und einen garantiert selbst geschmuggelten Tee aus Holland. Dann ein Halbgefrorenes, das nach Himbeeren und Aprikosen schmeckt, je nach der Färbung. Und eben – die Zehrer ist darin Spezialistin – Spritzgebackenes. Ruth selbst nimmt fast nichts. Ein Mohnblättchen Schinken und drei Spargelköpfe. Aber am Halbgefrorenen hält sie sich schadlos. »Wenn ich die Sachen selbst gemacht habe, kann ich nachher nichts essen. Und wenn sie ein andrer macht, schmecken sie mir nicht«, sagt sie. Sie hat immer eine Ausrede.

Und damit steht sie vom Tisch auf und setzt sich auf das Sofa, schmiegt sich an die Seitenlehne und zieht die Beine halb an sich. Das ist von je ihre Lieblingsstellung. So wie die Frauen dargestellt sind schrägliegend und aufgestützt auf den alabasternen etruskischen Grabkisten.

Fränze erzählt einen langen Film nach. Sie macht so etwas unendlich komisch in Wort und Mimik. Fränze geht immer gern in Filme. Darin ist sie nicht meine Tochter. Ich lasse sie mir lieber von ihr erzählen, denn sie macht das wirklich viel hübscher, als die Filme sind, und ich sehe sie dann viel reiner und deutlicher als in der Flimmerkiste.

»Warum bist du nicht heute Nachmittag mitgekommen?« meint Ruth und blinzelt wie eine etwas schläfrige Katze vom Sofa aus uns zu, ironisierend, nach dem Tisch rüber. »Kaum aus'm Bau zu bringen ist er.«

»Ach Gott – einer muß doch in 'n Laden bleiben!«

»Also, Fränze, dein Vater ist ein Hypochonderling. Das Wort habe ich eben erfunden. Ein Mittelding zwischen Hypochonder und Sonderling. Er wird immer komischer. Nächstens wundere ich mich schon gar nicht mehr, wenn ihm eines schönen Tages ein Pommeranzenbäumchen auf dem Kopf wächst, wie Onkel Eli.« Sie reckt sich dabei urplötzlich hoch, weil sie glaubt, in dem Winkel zwischen Tür und Schrank Spinnweben entdeckt zu haben. Denn seit Jahren führt sie einen hier aussichtslosen Krieg mit Spinnweben und deren Bewohnerinnen.

»Laß doch. Spinnen sind doch durchaus sympathische Tiere und wollen auch leben. Und zwar auf ihre absonderliche Weise mit Hilfe von Luftnetzen. Und endlich fangen sie hier die Mucken und Schnaken weg. Denn was du Fliegen nennst, sagt man hier: Muck. Und was du Mücke nennst, sagt man hier Schnak. Oder richtiger ›e Schnook‹ ... Der Hans im Schnokeloch!«

Fränze lacht dazu, fühlt sich überhaupt sehr wohl hier, und überhaupt ist sie froh. Wegen Halle besonders. Man merkt es ihr an. Sie hat sich jetzt zu Ruth in die andre Ecke des großen Biedermeiersofas gesetzt, hockt da in einer ähnlichen Stellung. Frauen sitzen gern etwas bequem. Und sie singen da zusammen »Balaue Adria ..« Das heißt auf Arbeitsteilung. Fränze singt und Ruth macht nur die Bewegungen der Konzertsängerin dazu und zittert bei den höchsten Tönen vor Gefühl – während sie das Taschentuch in den Händen auszuwringen scheint – wie ein Oetkerpudding. Das ist eine Spezialnummer von ihr, in der sie stets – wenn man sie dazu bringt – großen Erfolg hat.

Aber man merkt doch Fränze an, daß sie unruhig ist. Schließlich ist sie ja nachher mit Käthe Marx verabredet und will sie nicht zu lange warten lassen. Draußen ist es auch schummerig geworden. Dunkel wird es kaum werden. Denn es ist Vollmond so um diese Zeit jetzt. Gestern Nacht schwamm schon das ganze Tal in grünlichem Glast, in einem ganz dünnen gläsernen Rauch. Und die gelblichen großen Wände der Häuser drüben waren mit Katzengold, Glimmer und Phosphor bestrichen.

Aber da sie bei der letzten Mode sind – und Ruth weiß damit Bescheid, und Fränze möchte damit Bescheid wissen, denn sie hat in der letzten Zeit ihr mondänes Herz etwas entdeckt, so will sie doch gern von Ruth hören, was der Winter bringen wird. Ob römische Streifen noch bleiben? ('s schon passé! Regenbogen .. Regenbogen kommt!!!) Und ob man und wie man sich noch die Sachen ändern kann?! Ob die Taille sinken oder steigen wird?! Und vor allem, ob man die Röcke wieder länger oder noch kürzer tragen würde?! Das wäre wichtig wegen der Modernisierungen. »Und außerdem brauche ich noch etwas für den Winter, Papap. Alter Herr rück raus mit de Moneten!!«

»Ach Gott, Fränzechin, eigentlich brauchst du doch gar nichts. Wenn du dir nur die Stoffstreifen, die du oben und unten in den letzten fünf Jahren dir abgeschnitten hast, aufgehoben hättest. Denn, sieh mal, weiter rauf kann es doch nicht gehen. Denn ihr steht doch schon so – um es höflich auszudrücken – ins Hemde. Die oberstmögliche Grenze der Kniefreiheit muß doch nun nächstens erreicht sein. Aber nun, wo man bis zum Nullpunkt so ungefähr gekommen ist, kann man doch nur so langsam die nächsten fünf Jahre lang wieder die Stücke ansetzen.«

»Es ist merkwürdig«, meint Ruth, »Leute, die nichts wissen, wollen einen immer belehren. Sprechen wir etwa von Romanen? Aber vergiß deine Rede nicht.«

»Ich finde es ein wenig übertrieben, wenn die Großmutter als ihr eigener Enkel spazieren geht und neuerdings noch Strümpfe trägt, die mehr die platonische Idee von Strümpfen, als solche selbst sind. Ganz gleich, ob fünfundzwanzig Grad über oder fünfundzwanzig Grad unter Null sind.«

»Ach Gott, wir modernen Frauen machen doch solchen extremen Unsinn nicht mit.«

»Aber du bist ja gar keine moderne Frau, Ruth, die moderne Frau, habe ich heute in der ›Modernen Frau‹ gelesen, stellt als ›aparte Note‹ Buddhas in ihre Kakteenfenster. Das tut eine moderne Frau! Wo tust du das etwa?«

Ruth ist versöhnt und Fränze ist lachend aufgesprungen. »Kann ich nebenbei nochmal bei dir telefonieren, Papap? Du, weißt du, ich freue mich furchtbar auf Halle. Ich danke dir nebenbei, alter Seehund.«

»Neulich, Fränze, habe ich unsern Amerikaner – Mauds Onkele Jim –, den ›Tabakshändel Kehl‹, auf dem Bahnhof getroffen, wie er nach Mannheim fuhr, da macht er solch bißchen an der Börse. – Und, wie der Zug loszog, rief ich ihm nach: ›Viel Vergnügen in Mannheim!‹ Weißt du, was er mir da zurückgerufen hat? ›OOOh ... Sie können wohl dissem Platz nicht?‹ Hab ich dir das noch nicht erzählt, Nuck? Also viel Vergnügen in Halle, Fränze!«

Fränze lacht noch mehr. »Ach paß auf, es kann überall sehr hübsch sein!«

»Wo man etwas lernt ... nicht wahr, Fränze?«

»Ach ... du willst nach Halle!« meint Ruth erstaunt, »da werden wir uns ja doch sehen im Winter«.

»Naja ... sie wird sicher in den Weihnachtsferien kommen.«

»Vielleicht auch, daß ich dich mal in Berlin sehe«, meint Ruth wieder, »wir kommen schon hin«.

Was ist denn das? Das ganze Gespräch sieht doch so nach bestellter Arbeit aus.

»Ach, weißt du was, Jorry, wir bringen Fränze noch nachher ein Stückchen. Du bist wieder den ganzen Tag nicht aus dem Stall gekommen. Arbeiten kannste nachher noch .. ich mach dir auch .. also ich tippe es, damit du dir nicht über mein Tapetenmuster von Handschrift den Kopf zu zerbrechen brauchst. Mach dir noch die Inhaltsangaben von den beiden Romanen.«

Fränze telefoniert sehr leise draußen. Plötzlich hebt sie ostentativ die Stimme: »Also schön, Käthe«, sagt sie, »ich komme dann noch herein« und nach einer kleinen Weile »auf Wiedersehen, Klaus-Peter!«

Ich sehe Ruth an .. mit einem Blick, den man doch erst bekommt, wenn man einige Jahre verheiratet ist: »Was diese Bengels heute für blödsinnige Vornamen haben! Wir hießen Fritz. Und damit gut!«

Eminé hat sich die ganze Zeit unter dem Sofa, wohin er sich mit seinem Spritzgebackenen zurückgezogen hatte, sehr still verhalten. Jetzt, da aufgestanden und aufgebrochen wird, ist er wieder da und schwänzelt um alle herum. Er unterscheidet genau, ob man nur von Tisch aufsteht oder noch vor die Tür gehen will. Er merkt das immer. Woran weiß man nicht. Das heißt, wenn ich vom Schreibtisch nur aufstehe – er liegt als Fußbank vor meinen Füßen – kümmert er sich nicht darum. Sowie ich aber das Schubfach abschließe, springt er an mir hoch, und ist nicht zu halten. Denn er liebt es sehr, spazieren zu gehen und sich auszutollen.

»Na kommt ihr?« schallt es von der Diele rein .. »Ich kann Käthe Marx nicht solange warten lassen .. Du brauchst durchaus keinen Mantel. Es ist ganz warm draußen, heißgeliebter Vater .. Und prachtvoller Mondschein schon .. wirklich für Anfang Oktober köstlich noch ... ›Und stechen mich die Doooornen ... wird es mir draus zu kahl‹«, singt sie, »›geb' ich dem Roß die Spornen und reit' ins Neckarthal‹«.

Wozu ist man denn endlich in Heidelberg Studentin?!


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