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Kapitel II

Maudi, Emi und Frau Zehrer

Wie still es den ganzen Nachmittag hier gewesen ist. Drüben in der ruhigen Septembersonne steht das grüne Auto vom Kaufmann. Es ist das einzige hier draußen. Und deshalb ist er von je in allem um ein Drittel teurer und um die Hälfte schlechter als in der Stadt drin. Und auf diese Weise ist er zu einem Auto, wenn auch nur einem bescheidenen und keineswegs neuen Auto innerhalb von drei Jahren gekommen. Zu Fuß und mit Schulden ist er hier anmarschiert und mit einem Mercedes-Benz wird er, so Gott will, dereinst hier fortfahren. Eine Woche gehandelt ist besser als ein Jahr geschafft, sagen die Frauen von ihm hier. Aber sie kaufen doch immer wieder bei ihm. Erstens sind sie oft in der Kreide. Und dann sagen sie, sie können nicht immer so in die Stadt fahren der Kinder wegen. Aber in Wahrheit kümmern sie sich nicht um die Kinder, haben es auch hier nicht nötig, und sind zu bequem dazu. Und so schimpfen sie nur und verschwören es, je wieder auch nur ein Pfund Salz bei diesem Halsabschneider zu holen. Und morgen rennen sie wieder zu ihm, lassen ihr Geld bei ihm und tun freundlich mit ihm.

Merkwürdig, für die Kinder da unten ist das Auto immer noch die Attraktion. Sie stehen wieder in Reihen hintereinander drum herum und glotzen es an. Nicht etwa, daß sie noch keines gesehen hätten. Unten, auf der Uferstraße, sausen sie Tag und Nacht vorüber. Damals, als man neue Besetzungen der Franzosen fürchtete, kamen hunderte und hunderte aller Arten in langen Ketten hier entlang geschossen, als wäre der Teufel mit seinen Krallen hinter ihnen her und wollte sie greifen. Und nach acht Tagen fuhren sie dann immer wieder gemächlich zurück. Bis ein neues Gerücht sie von neuem in wilde Flucht jagte und hier vorübertrieb. Nein, Autos kennen die Kinder schon. Aber von dem Auto hier haben sie das Gefühl, daß es ihr Auto wäre. Und in Wahrheit haben sie es ja auch mitbezahlt. Und damit seine Existenz hier erst ermöglicht. Eigentlich gehört es ihnen.

Nebenbei sind es mit der Zeit etwas viel Kinder hier geworden. Vor vier Jahren waren es wenige. Kaum, daß eine Familie eins oder zwei hatte. Die meisten hatten gar keine. Das waren die, die noch keine eigene Wohnung gehabt hatten.

Man begreift das nicht. Vorher haben doch alle Menschen ein Dach über dem Kopf gehabt. Mehr sind es nicht geworden, eher weniger. Und plötzlich geht das Exempel nicht mehr auf. Und wird immer schwieriger. Es ist von Tag zu Tag aussichtsloser für einen jungen Mann, zu einer Wohnung zu kommen. Viel aussichtsloser als zu einer Frau. Höchst absonderlich! – Aber selbst die ohne Kinder haben doch erst hier eine Wohnung zugeschrieben erhalten, wenn sie den Nachweis erbringen konnten, daß dieser von staatswegen unwürdige Zustand der Kinderlosigkeit demnächst bei ihnen behoben sein würde. Und zwar in allerkürzester Zeit. So war's! Aber dann haben die neuen Mieter sich doch dessen würdig und dankbar erzeigen wollen, daß man so viel Vertrauen in sie gesetzt hat. Vor hunderten von anderen Anwärtern auf die gleichen drei oder vier Zimmer. Und deshalb stellten sie dann sehr bald da und dort wieder ein Körbchen mit weißem Mull und rosa Schleifen in die Sonne. Und nachdem sie erst einmal damit begonnen hatten, hörten sie überhaupt nicht mehr damit auf.

Wirklich, ich komme schon gar nicht mehr durch, denkt Fritz Eisner. Immer wieder passiert das, wenn ich mir auf meine Personalkenntnis etwas zugute halten will und einen Blondkopf mit Augen wie Gaiberger Kirschen, so groß und blank und schwarz, oder ein Bräunchen mit Guckern so blau wie blühender Flachs – hier merkt man es den Kindern immer noch an, daß vor 2000 Jahren einmal der Norden und der Süden in diesen Tälern zärtlich zusammengestoßen sind – wenn ich da so einer freundlich über den kleinen Rattenschwanz von Zopf streiche, weil ich Mitleid mit ihr habe, wie sie mühselig den ganzen Nachmittag das dicke Brüderchen herumschleppt, und sage: Na Bärbelchen, wie geht's? Dann meint sie sicher, wie gestern wieder: »Dös Bärbele is mei groß Schwester, Herr Eisner.« Alle sind nämlich sehr nett und ehrerbietig zu mir, weil die Sage geht, daß ich sehr reich bin und in Berlin ein Kino besitze.

Wie still, als ob diese milde und unbewegte Oktoberluft auf sie abgefärbt hätte, eigentlich heute die Kinder sind. Nur ab und zu klettert einer von den Jungen auf das Trittbrett vom Auto und hupt lange und laut. Und dann streckt der Kaufmann seinen roten Kopf aus der Ladentür, ruft: »Wart', ich komm euch, ihr Lauser.« Mehr kann er nicht sagen, weil er es doch nicht mit seinen Kunden verderben will. Und die Kinder springen fort, nur um sich nach ein, zwei Minuten wieder um den grünen Kasten zu sammeln und ihn anzustarren. Ruhig ist es.

Naja, alle Viertelstunde kommt so einmal durch das Fenster ein wenig Lärm von unten herauf, »Alterle, Alterle, wart nur i kimm«, ruft das eine. »Geh ab, du Messbrocken, i schloch di eeni, du Saukrott«, ruft das andere.

Aber da das jedesmal ein anderes Kind ist, der Stimme nach, und nichts geschieht, was als Schläge gedeutet werden kann, so ist das wohl nur eine hier übliche Form freundlichen gegenseitigen Zuspruchs.

Und außerdem scheint die Maud gar nicht dabei zu sein. Sonst würde Fritz Eisner sie hören. Denn sie ist ehrgeizig und will immer in der Ballprobe und bei Rumkerkerles und Figurenwerfen gewinnen. Und bei der »Schwarzen Köchin« zuerst drankommen. »Zweimal mußt du rummarschieren, das dritte Mal den Kopf verlieren.«

Den ganzen Nachmittag – immer wieder hat er mal runtergesehen – hat sich Maudi da unten nicht vom Fleck gerührt und hat da, erstaunlich ruhig eigentlich, vorn im Garten gesessen bisher. Mitten in den graugrünen Ranken und den bunten Feuerblüten hat sie sich mit dem Hund eine Art von Nest gemacht und sich immer wieder mit ihm herumgezergelt. Also das Tier ist von einer Gutmütigkeit, da kommt man selbst als Vater nicht mit. Fritz Eisner hatte Maud hundertmal gesagt, sie soll ihn nicht immer an den Ohren ziehen und am Schwanz reißen. Wenn er es doch mal falsch versteht und zuschnappt. Er hat, so klein er ist, wie alle solche schwarzen Spitze, verdammt scharfe Zähne, genau wie Teddi, sein Herr Erzeuger. – Reizend, von oben gesehen, wie das Kerlchen da sitzt in den Blumen. Zwischen den hohen Büschen mit den blauen Sternastern. Ein entzückender schwarzer Deibel. »Zergele Eminé nicht so herum, Maudi!! Siehste, da hat er dich richtig umgeworfen!«

Aber jetzt hat sie ihn schon unter.

Wozu schreibt man eigentlich? So etwas müßte man malen. Mit dem schwarzen Flecken von dem Hund und dem Kind in dem Graugrün und dann das Rot und das Gelbrot und das Veilchenfarben von den gespornten Blumen dazu als Hintergrund. Und das wieder mit dem rosa Kleid abstimmen. – – Was winkst du wieder so begönnernd rauf? Recht hast du: warum soll ich dir auch den Glauben nehmen, daß ich etwas anderes vielleicht wäre als ein alter Herr, der in deinem Hause zu deinem Vergnügen angestellt ist. Wenn sie mal zu frech ist, enterb ich sie. Das haben wir vereinbart. Denn das ist schmerzloser als Katzenköpfe und für sie völlig ungefährlich. Wozu soll ich mich für später einmal durch mißglückte Erziehungsversuche bei Maud in unangenehmes Andenken bringen. Eigentlich kommen wir beide ganz gut dafür miteinander aus, daß wir bald 50 Jahre auseinander sind. Eigentlich kommt es selten vor, daß Maud mich schlecht behandelt, und, da ich dem Kind nicht verbiete, ungezogen zu sein, ist es auch nicht ungezogen.

Das habe ich wenigstens damit erreicht, daß sie das Gefühl hat, alle Väter und Mütter hier sind bei ihren Kindern im Dienst und wohnen bei ihnen in Untermiete. Sie kennt sie alle. »Bist du nicht der Mann, der bei Annemarie Beisel wohnt?« ruft sie einen Herrn von weitem an. Und sie hat richtig geraten. Das ist er. Ruth will ihr Kind immer erziehen. Und Ruths Mutter wollte es auch immer. Und sogar waschen. Doch sie hat sie durchschaut, die arme Frau mit ihrem Waschkomplex: »Omi, Omi, immer wasche, wasche.« Da hat sie noch kaum reden können. Das mit dem Selbstmord übrigens – es war ein aufgedeckter Unsinn von der alten Dame. Zumindest hätte sie doch mal mit uns darüber reden können, wie die Sachen eigentlich lagen. Tut mir auch wieder leid. Geld verlieren ist doch heute keine Schande. Das war früher. Und ohne Geld leben müssen, auch nicht. Das tun wir alle. Auch wenn wir uns heute noch einreden, wir täten es nicht. Weil wir mit Milliarden und Trillionen nächstens rechnen.

Aber es ist schwierig, denkt Fritz Eisner, nicht äußerlich, sondern gefühlsmäßig schwierig mit so einem Kind, wenn man fast zwei Generationen älter ist. Es ist auch nicht leicht, wenn man schon andere große Kinder hat. Und selbst wenn die einem durch Ehedilemnen etwas entglitten sind. Aber, ob man geschieden ist oder nicht, das geht doch die Kinder nichts an. Oder dürfte sie nichts angehen. Und einen selbst auch nicht. Nicht leicht ist es ... jedenfalls stellt man es sich viel einfacher vor, sich plötzlich wieder auf solch junges vegetatives, noch geistig kaum erwachtes Stück von sich selbst umzustellen. Wenn man schon eine merkliche Spanne über sein halbes Jahrhundert hinaus ist und wie man es auch drehen und wenden mag, seiner Lebensinstinkte nicht mehr so ganz sicher ist, und sich auch nicht darüber täuschen kann (wenn man es auch noch nicht abmessen kann, wie weit der Weg noch ist), daß man schon dahinten die Ausgangstür sieht, so fehlt einem nun mal die selbstverständliche Verbundenheit eines Dreißigjährigen so einem kleinen Wesen gegenüber. Und dann – meine Generation ist ja doch vor der Zeit etwas angegraut. Man braucht nur in der Schweiz oder in Holland zu sehen, wie Menschen in meinen Jahren noch aussehen können. Und sie sich dann dagegen bei uns in Deutschland anzusehen. Wenn Kriegsjahre doppelt zählen, so zählen Friedensjahre dieser Art dreifach.

O wieviel trübe Jahre ... o wieviel graue Haare!

Gewiß, man freut sich mit ihm. Man staunt so etwas an, so wie man einen Hirschkäfer anstaunt, der einem plötzlich ins Fenster hinein geflogen ist. Aber es ist doch ungefähr so, als ob ein Junge von 15 Jahren ein Schaukelpferd zu Weihnachten geschenkt bekommen hat. Er bedankt sich erfreut, aber er kann doch nicht allzu viel damit mehr anfangen. Wenn er ganz aufrichtig sein soll, eine Dampfmaschine wäre ihm lieber gewesen.

Nur, wenn solch Kind mal krank wird und gefährdet ist, wie in den letzten Wochen wieder, als es fieberte, dann empfindet man plötzlich, wie schmerzhaft und unerträglich es ist, wenn an den Bändern, die es mit uns verknüpfen, gezerrt wird. Und daß man das Leben nicht mehr aushalten könnte, wenn sie je zerrissen, wieder zerrissen würden. Manchmal möchte man ihm sagen: Du kleine Jöhre du. Weißt du auch, was deinetwegen alles geschehen ist? Aber was geht es dich an? Dir genügt, daß du da bist und dich durchsetzest. Wie das alles Leben nun man will.

Ja – man sollte wahrlich runtergehen, denkt Fritz Eisner, und Maud und Eminé zusammen knipsen, wenn sie sich so herumkugeln. Wenn Ruth da wäre, dürften sie das gar nicht.

Ruth meint zwar, man soll keinen Hund halten, wenn man ein kleines Kind hat. Dann ist es gefährlich. Hunde hätten so allerhand scheußliche Krankheiten. Und sie könnten auch mal beißen. Dabei hat sie selbst als solche Art Milchbruder einen Bernhardiner gehabt, dessen Andenken noch heute in ihren Erzählungen nicht verblaßt ist. Und Eminé ist doch ein Floh gegen einen Bernhardiner. Und Flöhe hat er auch nicht mal. Ich bin gewiß nicht für Hunde in der Stadt. Aber draußen kann man doch eigentlich ohne Hund nicht leben. Das Leben ohne Hund ist nur ein Hundeleben. Und Eminé ist wirklich ein liebes Kerlchen. Und rauhhaarig ist er wie eine Stiefelbürste. Ein Teufelchen mit einer langen roten Zunge wie ein Tintenwischer. Verspielt wie ein Dreijähriges. Und Bewegungen wie ein Fürst dabei. Und eine Taille wie ein Gardeleutnant. Man denkt wunder wie scharf er ist. Und bei alledem ist er so lammfromm, daß er keinem Spatzen und keinem Hühnchen was tut. Sieht nur manchmal ein bißchen böse aus. Und Hunde tun Kindern ja auch nichts. Weil doch der Klügere immer nachgibt.

Ich habe doch schon manchen Hund gehabt. Und manches weibliche Wesen hat sich für kurz oder länger an mich angeschmiegt. Aber ich habe noch nie ein Wesen um mich gehabt, daß sich so aufrichtig und selbstlos mit mir gefreut hat. So gar nicht sich lassen kann vor Freude, wenn es mich wiedersieht. Der alte Kerl muß ihm doch schließlich langweilig werden auf die Dauer. Nein jedes Mal tobt er um mich herum, solange, bis er kaum noch japsen kann. Wirklich eine Seele von einem Hund. Ließe sich für mich in Stücke hauen, wenn mich jemand anpackte. Kaum zu glauben, daß in einem so kleinen Wesen soviel gute Eigenschaften Platz haben. Und fromm wie ein Lamm. Sein Vater beißt sich noch viel mehr mit andern Hunden herum.

Er muß richtig merken, daß ich an ihn denke. Denn er guckt schon ganz verstohlen und insgeheim zu mir herauf. Ich könnte nun sagen: was macht denn das Hundchen?! Wo hat er denn sein Wackelschwänzchen? Dann wäre er schon oben. Aber lieber nicht. Denn solange Maud und Eminé zusammen sind, sind sie beide gut aufgehoben. Was sie sonst jeder für sich anstellen würden, ist unbestimmt. Sind beide gradezu beängstigend brav heute. Ich sage immer: Kinder und Hunde soll man nur sich selbst überlassen.

Nächstes Jahr hat sowieso die Herrlichkeit ein Ende. Da kommt die Schule. Da wird man dir die Eigenheit schon austreiben, mein Liebchen.

Also hübsche Liederchen singt das Kind da unten! Und ganz richtig. Haargenau und goldrichtig. Das hat sie nicht von der Frau Zehrer. Die singt wie eine Nachteule, gröhlt den ganzen Tag Psalmen. Das muß sie noch von der Marie haben. War ein reizendes Mädchen, die Marie. Aber man bekam die Läuse so schwer fort bei ihr. Wenn sie mal über Sonntag wieder zu Hause geschlafen hatte, nach zwei Wochen waren sie wieder da. Und dann holte sie eines schönen Tages doch die Fürsorge ab. Aber sie war ein Prachtgeschöpf dabei. Und grundanständig. Nicht ein Pfennig blieb an ihren Fingern hängen. Und weich und schmiegsam wie Saffianleder. Nußbraun und so ein ganz klein wenig von slawischer Melancholie dabei überschattet. Hatte im einen kleinen Finger mehr Musik als manche Opernsängerin im ganzen Körper. Und die hatte sie, weil sie eine Slowakin, eine halbe Zigeunerin zur Mutter hatte, der die Musik im Blut lag.

Was singt denn das Kind da wieder Nettes? Das kenn' ich doch noch gar nicht.

»In Hamburg, da bin ich gewesen ...«

Also sie war in München, in Berlin bei der Großmutter, als die noch lebte, in Holland ein paarmal, in der Schweiz mit uns, aber in Hamburg war sie wirklich nie.

»In Hamburg, da bin ich gewesen,
In Sammet und Seide gestellt ...«

Also das ist auch wieder reichlich übertrieben. So putzt selbst Ruth das Kind nicht raus. Das kann man hier nicht. Das fällt unangenehm auf.

»Meinen Namen, den darf ich nicht nennen ...«

Warum denn nicht?

»Denn ich bin ja ein Mädchen für Geld.«

Ach so! Aber das kommt mir wieder höchst ungewiß vor, denkt Fritz Eisner. Ich werde dem Kind nachher sagen, sie darf sowas nie singen, wenn ihre Mutter dabei ist. Nur wenn ich dabei bin. Wozu soll ihre Mutter sexuell aufgeklärt werden? Sie ist so unverdorben. Und dann ist sie, wie Mütter öfter sind, komisch, sie würdigt so etwas nicht.

Und sie könnte es dir verbieten. Und Maries Andenken herabwürdigen bei dir. Und ich versichere dich, die war zehnmal mehr als diese Kriegswitwe von Beruf, diese Frau Zehrer, auf die ihre Mutter so stolz ist.

Ich weiß eigentlich gar nicht, woher sie kommt, diese Frau Zehrer. Aus der Gegend hier ist sie nicht. Dann wäre sie menschlicher. Ich glaube, sie kommt dorther, wo Schlesien und Sachsen zusammenstoßen. Grenzvölker haben immer die üblen Eigenschaften von beiden. Das stimmt hier. Sie ist weißblond wie eine Wassersemmel. Rosig und dick wie ein Ferkelchen. Gesund wie ein Pferd. Und mit dem Gemüt eines Schlächterhundes begabt. Und redet in einem fort, daß sie es mit den Nerven hat. Und glaubt an sich und an ihre Tüchtigkeit wie an das Evangelium. Und das führt sie den ganzen Tag im Munde.

Sie hat sich nebenbei damals im Lazarett auf Abbruch und Pension trauen lassen. Er war aus ihrer Heimat. Sie hat's mir haarklein erzählt. Was erzählt sie nicht? Vier Jahre jünger war er. Zwei Jahre lang hat sie sich schon mit ihm geschrieben, als er im Feld war. »Aber warum haben Sie sich denn nicht eher geheiratet, es ist doch schade gewesen?« »Ach Gott, Herr Eisner«, meint dieses Vieh, und schlägt die Wassersuppenaugen wie eine reuige Magdalena gen Himmel. »Es ist doch nicht gut, wenn solch junger Mensch schon alles kriegt, was er haben will.« Und solchem Wesen darf man nicht ungestraft stundenlang in die Fresse hauen. Das will eine Justiz in Deutschland sein.

»Frau Zehrer. Wo ist denn die Zeitung?! Muß doch mal sehen, wer noch gestorben ist.«

Ach richtig, Frau Zehrer ist ja wieder mal nicht da. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die so viel Brüder hat. Immer ist ein neuer Bruder aufgetaucht. Sie scheint die einzige Schwester zu sein. Oder eine Witwe aus sehr zahlreicher Familie. Vorhin bin ich langsam dahinter gekommen, was das damit auf sich hat. Daß nämlich die Brüder gar keine Brüder sind. »Könnte ich vielleicht mit meinem Bruder Sebastian«, sagt sie, »ein Stündchen hier im Walde spazieren gehen? Wir haben eine ernste Angelegenheit zu besprechen.«

»Gewiß, Frau Zehrer«, sagte ich, »wenn es sein muß.« Das heißt doch, für jeden der hören kann: »Zum Donnerwetter rennen Sie doch nicht, wenn meine Frau nicht da ist, von dem Kind fort! Ich habe zu tun, das wissen Sie doch.«

Aber sie versteht nicht, hat ein dickes Fell. »Entschuldigen Sie«, sage ich unsicher (vielleicht hält sie das von ihrem Vorhaben ab), »Sie werden doch ihren Bruder Sebastian nicht etwa heiraten wollen?«

Frau Zehrer sieht mich mit ihren Wassersuppenaugen groß und strafend an. Frivole Gespräche liebt sie nicht. »Der Bruder Max ist rückfällig geworden«, sagt sie in bitterem Ernst.

»Der Bruder Max ist ein Logenbruder von mir. Wir nennen uns alle Brüder und Schwestern in unserer Loge«, sagt Frau Zehrer.

»Ach«, rufe ich, »Sie sind Freimaurer?«

Frau Zehrer erschrickt, als wäre der Teufel selbst vor ihr erschienen, vor dem Wort »Freimaurer«.

»O nein, Herr Eisner, Freimaurer sind wir nicht. Wir Brüder und Schwestern sind von einer Blaukreuzloge. Und da der Bruder Sebastian meinen wohltätigen Einfluß auf einen gefallenen Bruder schon des öfteren (also wenn der Pöbel geschraubt wird ...) erprobt hat, so will er mich eben bitten, dahin zu wirken, dem armen Bruder Max beizustehen, daß er seinen inneren Halt wiederfindet.«

»Ach so, jetzt verstehe ich. Der Bruder Max hat also in Wein, Weib und Gesang exediert. Um Himmelswillen, warum wollen Sie denn das einzige, was ihm Spaß macht, dem armen Bruder Max auch noch austreiben?«

Also, Frau Zehrer hat mich schwer gekränkt verlassen. Und sie bestraft mich nun wohl dadurch, daß sie aus der einen Stunde nun schon drei gemacht hat. Gebe Gott, daß Maud und Eminé da unten noch eine Weile gut miteinander auskommen. So lange wenigstens, bis Frau Zehrer mit dem Bruder Sebastian aus dem Wald zurückkommt. Das mit dem Bruder Max scheint ja ein ungewöhnlich schwerer Fall zu sein.

Bisher ging's ja wunderbar mit denen da unten. Aber Ruth muß doch eigentlich auch bald wiederkommen. Ist doch schon gleich nach dem Essen hineingefahren. Weil sie nachmittags nochmal auf die Bank wollte. Und Geld wechseln. Und zum Finanzamt. Das macht Ruth besser als ich. Woraufhin sie das alles nachfordern, versteht kein Mensch. Und dann ist auch schon der neue Kurs heraus. Hoffentlich vergißt sie nicht die Briefe noch einzuwerfen. Denn von morgen ab kostet der Brief 75 000 statt 20 000 Mark. Und die alten Marken kann man wieder fortwerfen. Also mitgenommen hat sie sie wenigstens. 43 000 000 war gestern der Kurs, heute 160 000 000. Wenn das so weiter geht, muß jeder sich seinen Privatastronomen engagieren. Die können mit solchen Zahlengrößen umgehen. Ich habe mir immer was darauf zugute getan, daß ich, wie Halbidioten öfter, so ein bißchen absoluten Zahlensinn habe. Aber nun komme auch ich bald nicht mehr mit durch.

Also die Zeitung hat wenigstens Frau Zehrer noch auf den Schreibtisch gelegt. Was gibt's? Man soll wieder – und das ist ihr Steckenpferd – Bienen auf Regenflug und längere Zunge züchten. Ob Regenflug für die Bienen ein Vergnügen ist? Längere Zunge! Gewiß, aber warum nur Bienen? In Lichterfelde sind zwei Frauen, die ehedem den besseren Gesellschaftsschichten angehörten (warum ehedem?), verhungert. Tut mir auch wieder leid. Wie roh man geworden ist. »Waren zu stolz, sich andern zu offenbaren.« Falsch. Waren zu klug, sich zu offenbaren. Sind anständig im Dunklen verhungert.

O sieh an, Renoir ist auch tot! War die Reinkarnation Watteaus und Fragonards unter den Impressionisten. War das ewige Frankreich. Jedes Jahr, wenn an der Seine die roten Kastanien blühen, werden sie rufen: Renoir soll kommen, uns malen.

Hier zeigt einer Bielefelder Spitzengeld und Pirmasenser Ledergeld und Meißner Porzellan-Notgeld an. So etwas sollte man sich für Ruths Sammlung kommen lassen. Macht ihr sicher Freude. Sonst ist wirklich nichts los. Wie herrlich-weit hier draußen doch alle Dinge einem sind. Krieg war, den Kanonendonner hat man hier Tag und Nacht gehabt. Friede und Separatistenputsch und Ruhrbesetzung, und die Buchen sind jedes Jahr ebenso schön grün geworden um den zwanzigsten April wie vorher. Und jedes Jahr sind dann die Tauspinner, die braunroten Tauspinner, in ihrem wilden Zickzackflug von den Buchenwäldern heruntergekommen und sind ohne Ruh und Rast, trotz allem, über das ganze Flußtal fortgetaumelt. Nach den Buchenwäldern drüben hinübergetaumelt, wie mit der trunkenen Sehnsucht eines Matrosen nach jahrelanger Fahrt. Um ihr einziges Lebensziel, das Weibchen, über Meilen und Meilen zu suchen, das irgendwo ganz verborgen unten an einem Stamm sitzt oder im Gebüsch auf ein Zweigchen gekrochen ist. Das Geld ging in Rauch auf, der Besitz zerstob, die Menschen schossen aufeinander und wüteten. Und der Tauspinner flog unbekümmert wie jedes Jahr von den Buchenwäldern hier auf meiner Seite zu denen am andern Ufer.

Eminé und Maud sind nebenbei beängstigend artig da unten. Ich glaube, sie haben zusammen etwas ausgefressen. Die sind zu sehr ein Herz und eine Seele heute. Ruth könnte nun auch mal wieder da sein. Ich liebe es nicht, jemanden zu fragen, wo er hingeht. Ich wünsche, nicht belogen zu werden. Wenn sie wenigstens zum Arzt ginge. Sie ißt doch überhaupt kaum noch etwas. Und wenn sie an einem Stuhlbein auch nur vorbeigeht, kriegt sie schon einen blauen Fleck jetzt davon. Eine Weile nach der Entbindung war das viel besser. Und das Nasenbluten kommt auch wieder alle paar Tage. Ich kriege jedesmal einen Todesschreck, und zum Schluß kommt es ihr auch aus dem Mund. Verdammt, wenn ich nur wüßte, wo das bei ihr eigentlich herkommt. (Die Kinder sollten nun da unten endlich aufhören, an dem Auto zu hupen.) Sie hat das eben so schubweise, meint sie. Mal ein paar Jahre nicht und dann hat sie es wieder. Solange sie so frisch ist, wird es ja nichts bedeuten. Sie ist ja doch fabelhaft vital. Lebt nach zwanzig Seiten zugleich. Tippt mir so nebenher alles noch. Nimmt mir die ganze Korrespondenz ab. Liest die Hälfte der Bücher. Mehr als ich eigentlich. Nächstens wird sie noch meine Romane schreiben, dann brauch ich gar nichts mehr zu tun. Und bei all dem ist sie doch immer noch so schön mit diesem Feuerkopf, daß ich manchmal wirklich einen Schreck bekomme, wenn sie so neben mir ist. Und hat dabei für sich noch hundert Dinge vor. Nach überall muß sie die Fühler strecken: Frauenvereine, Vorträge, Versammlungen, Bildungsschulen. Und weiß mit dem neuesten Hut und Crêpe Georgette und Ecru-Farbe von Übermorgen Bescheid. »Also jetzt kommt die Regenbogenmode«, sagt sie.

Ja, ich lese eigentlich gern. Man schiebt Mattplatten vor sein Dasein damit. Natürlich alles ex officio lesen müssen, wie ich das nun schon seit über vier Jahren oder sogar noch länger – also mir kommt's 'ne Ewigkeit vor – tun muß! Aber hier, wo der Tag achtundvierzig Stunden hat (– in Berlin hat er selten mehr als sechs – in der Großstadt kommt man nie zum Lesen) und hier kommt man vor lauter Lesen nicht zum Schreiben. Seit drei Monaten habe ich nicht eine Zeile an dem neuen Roman mehr gemacht. Nicht, daß ich es nicht mehr könnte! Natürlich, wie es wird, das hat man nicht in der Hand. Das ist Schicksal. Und auch nicht etwa, daß es mich nicht dazu drängt. Daß ich nicht blute dadrin mehr, denn das muß man dazu. Man muß nun mal innerlich wund sein, um zu schreiben, und es soll einem weh tun, sonst soll man sich lieber die Hände abhacken lassen. – Nein, das ist es gewiß nicht. Aber es ist so sinnlos in sich geworden. Früher, noch vor zehn Jahren, schrieb man, sagte das, was es einen zu sagen zwang. Die Leute lasen es. Das Simpel-menschliche packte sie. Man bekam irgendeine Stelle in ihrem Dasein. Und man gehörte zu ihnen. Heute ist das alles nicht mehr. Vielleicht, wenn man den Mut zum Kitsch hätte, zum seelischen Kientopp, käme man an sie heran. Heute sind sie verbissen, verrannt, unglücklich. Die Alten sind fort. Merkwürdig, wieviele doch gegangen sind. Oder sie sind, was schlimmer und enttäuschender, wie räudige Hunde vom Futternapf weggebissen und weggeprügelt worden. Früher lebte alles von Jahr zu Jahr. Heute kaum noch von Tag zu Tag. Meist nur von Stunde zu Stunde. Die Alten sind daran, sich müde wegzuschleichen. Und die, die nach ihnen gekommen sind, die Jungen, die noch kein Leben kannten, und sich einfach in das brodelnde Elend des Nachkrieges hineingestoßen sahen, ... oder die Portokassenjünglinge vielleicht, ... die den Beruf wie die Schlipse wechseln, weil sie von keinem etwas verstehen und nichts können, und die sich Generaldirektoren schimpfen und heute Kaviar mit Löffeln und morgen wieder Käsestullen fressen, die melancholisch frechen Gigolos und die nur-frechen Schieber, die die Bar mit dem Kittchen tauschten und das Kittchen mit der Bar, die Kriegsgewinnler und die Revolutionsleoparden, die mit ihren Raubtierzähnen wahllos alles in sich hineinschlangen, ob das Kunst, Bibliotheken nach Raummetern oder Villen mit altdeutschen Trinkstuben waren, – die sagen, sie haben andere Dinge zu tun, die wichtiger sind. Volkswirtschaftlich – wichtiger! Sie haben keine Ruhe mehr hinzuhören. Die Zeit erlaubt es nicht. Und wenn wir mit Engelszungen sprächen ...

Und sie haben recht. Man kann es auch nicht fordern von ihnen. Man kann ihnen vielleicht sagen: begreift ihr denn nicht: die Frage bleibt. Bleibt immer. Die Seele bleibt. Not bleibt. Und Tod bleibt. Selbst die Liebe und die Frau. Heute trägt eure Seele Regenbogen. Und morgen römische Streifen. Heute geht der Rock bis über die Knie. Und vor zehn Jahren noch bis zu den Knöcheln. Aber wenn das, was drunter ist, in euren Armen liegt, wird es genau so sein, wie es vor hundert Jahren war und in hundert Jahren sein wird. Wir werden in hundert Jahren immer noch dran herumrätseln und genau so wenig davon wissen, wie wir heute wissen. Und das ist nur eines von vielen. Versteht doch, Kinder. So wird das mit allem sein.

Das ist nun mal so. Bei jeder Beschäftigung, die man im Dasein hat, muß man sich zum mindesten doch noch einreden können, daß es einen Sinn hätte.

Was singt Maud da unten? Jetzt fängt sie gar an »Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht« und kugelt dabei Eminé wie eine Walze durch das Gras. Solch einen Schund soll sie nicht singen. Das hat sie auch nicht von ihrer Slowakin da. Dann schon tausendmal lieber »In Hamburg, da bin ich gewesen ...« oder »Warum weinst du, schöne Gärtnersfrau«, sowas habe ich sehr gern. Und was die Kinder hier singen. Das ist wenigstens Musik. Aber das »Wer wird denn weinen« ist doch nur ein Schlager. Das ist doch nur dazu da, daß Kitty und Gerti und Erni und Elsi, solche Wasserstoffsuperoxydflittchen, das über die Tanzplatte quietschen. Ich glaube, es wird überhaupt bald etwas kühl. Man soll das Kind raufholen. Frau Zehrer könnte nun auch wiederkommen. Und Ruth gleichfalls. Ich muß den Artikel für Kopenhagen zum mindesten heute noch anfangen.

Wie steht denn der Dollar? Muß doch noch mal sehen. Hoffentlich hat Ruth nicht mehr als einen, höchstens zwei eingewechselt. Denn, wenn er heute hundertsechzig Millionen stand, dann kann er morgen schon, das geht jetzt verflucht schnell, dreihundertzwanzig Millionen stehen und man hat also an zwei Dollars einen verloren.

Nun ja, die Preise gehen ja nicht gleich so ganz mit. Will doch mal sehen, wie ihn Frankfurt notiert hat. Was ist da los? Ach Gott! Um Himmelswillen: Paul Gumpert! Das ist er doch? Tut mir auch wieder leid! – Selbstverständlich! Also ist der bedruckte Kattun nicht mehr der Angelpunkt der Welt. Ein so anständiger Junge. Wie hat er sich damals in München benommen! Gumpert & Mühsam in Zahlungsschwierigkeiten. Das muß schon lange gehen. Aber ich muß es übersehen haben. Die Gläubiger strebten einen Akkord an. Seit wann bemühen sich die Gläubiger um einen Akkord? Große englische Engagements. Eine der größten Textilfirmen hat sich seit gestern ... gezwungen Zahlungen einzustellen ... Pfunddeckung in den letzten Jahren ... die allgemeine Umstellung nicht mitgemacht ... Glanzstoffkonkurrenz unterlegen ... die Passiva zwar nur um ein geringeres größer als die Aktiva, doch sind diese eben in den Zeiten einer schwierigen Beschaffung von Auslandskrediten ... Tochtergesellschaften ... Dachgesellschaft ... Kapitalverwässerung ... der die Firma kontrollierende Bankkonzern ... Nachlassen des Marktes ... Verlust des russischen Absatzgebietes ... vor dem Krieg mit das größte Exporthaus nach dem Osten ... nach wie vor dem alten Kunden kreditiert. Na, hoffentlich wird er sich nochmal durchbeißen. Paul Gumpert scheinen sie ja nett das Fell über die Ohren gezogen zu haben. Gott sei dank, daß ich von diesen Dingen nicht viel verstehe.

Also, das mit der Kunstseide habe ich ihm doch schon vor sechs Jahren bald gesagt, am siebenten November 19.., ich weiß es zufällig genau –.Und da hat er gelacht. Wie ich meinte, daß das mal 'ne ganz große Sache wird. Nicht weil sie gut ist, sondern weil man zu jedem Preis das Zeug machen kann. Und weil sie unabhängig von außen ist. Holz wächst überall. Baumwolle, Wolle und Seide nicht.

Fusion, über die wir seinerzeit berichteten, scheint dem altrenommierten Hause doch nicht die nötige Liquidität ... um den Zusammenbruch der Dachgesellschaft aufzuhalten ... wieviel davon auf die Tochtergesellschaften ... Also wenn ich schon Dach- und Tochtergesellschaften lese, weiß ich, woran ich bin: hier soll geschoben werden, hier sollen Leute oder der Staat ... (aber wo ist er?) beschwindelt werden.

Na, so schlimm ist es ja noch nicht, Gottlob. Er wird doch auch Privatvermögen haben. Wird was von seinen Bildern, den großen Tiepolo und den Breughel und den Ghirlandajo, den schönen Dyck eben nach Amerika verkümmeln. Und vielleicht braucht er das nicht mal. Ich habe wenigstens in meinem Leben immer noch die Erfahrung gemacht, daß, wenn reiche Leute ihr Vermögen verlieren, sie stets noch mehr Geld haben, als wir, wenn wir uns einreden, Geld zu haben. Schwerer als 700 Dollars ist Paul Gumpert immer noch. Und Ruth glaubt schon, daß ich mit meinen 800 gesparten Greenbacks da draußen, heute Vanderbilt und Rockefeller in einer Person wäre. Ruth ist sogar dafür, ich soll mir am Kurfürstendamm ein Haus dafür kaufen. Seit einer Woche liegt sie mir damit in den Ohren. Äpfel legt man auf Stroh, aber keine Menschen. Sie hat doch nun wirklich genug damit gehabt. In allernächster Nähe.

Ach, ein richtiger Kaufmann kriegt immer den Hals noch aus der Schlinge. Das wird sich mit Paul Gumpert schon wieder machen. Die Gläubiger werden schon in einen Akkord willigen. Endlich hat er doch einen Syndikus und gewiß noch X Burschen für sowas zur Hand. Die dreimal gehängt und fünfmal ausgekocht sind. Und die Bank, der Konzern, der ihn kontrolliert – der duldet ja einfach nicht, daß solche Millionenfirma zusammenknackt. Da verdient er nämlich nicht genug dran. Bei der Sanierung mehr. Aber die kann dann auch ohne Paul Gumpert gemacht werden. Nichtwahr? Oder irre ich mich etwa?!

Und was wird M'chen, seine Legitime, dazu sagen? Ich finde, der Reichtum ist ihr schlecht bekommen. War auf hunderttausend erzogen. Nicht auf 12 Millionen oder 20 oder noch mehr. Nicht mal, daß ihr Junge noch gefallen ist am letzten Tag, hat sie gelöst und menschlich reifer oder größer gemacht. Sie ist eben mit 14 Jahren stehengeblieben. Genau so wie ... also Schluß damit.

Aber vielleicht sind die meisten Frauen, die so um 1900 heirateten, nicht anders. War eine unglückselige Zeit. Hatten nicht mehr die menschliche Gradheit und Tüchtigkeit ihrer Mütter und noch nicht die Freiheit und Bildung und Kameradschaftlichkeit ihrer Töchter. Und vor allem konnten sie nicht umlernen. Ich brauche doch wirklich nicht weit zu gehen. Das Hemd ist mir näher als der Rock. Brauche doch nur an Annchen zu denken. (Hannchen, ihre Schwester, ist schon mehr ein Übergangstyp.) Nichtwahr, so verschieden sie sind. M'chen ist nicht so krankhaft von Hause her. Zum Schluß aber ist doch meine geschiedene Frau und Paul Gumperts M'chen genau aus der gleichen Kiste. Wie meine Ruth jetzt und Paul Gumperts Joli aus der gleichen Kiste sind. Und zu zwei und zwei haben sie immer wieder eigentlich das gleiche Schicksal. Und vielleicht bin ich und Paul Gumpert auch aus der gleichen Kiste genommen. Wenn ich Kaufmann geblieben wäre und nicht zu schreiben fortgefahren hätte und wenn Paul Gumpert ... er hat ganz hübsche Verse immer gemacht ... ich hab' ihn doch immer den Heinrich Heine redivivus genannt ... wenn der, statt sich des bedruckten Kattuns anzunehmen, dafür weiter geschrieben hätte, statt es durch zwanzig Jahre in sich zurückzudrängen, so wäre er vielleicht ich und ich vielleicht er geworden. Und zum Schluß haben wir uns ja doch nicht ausweichen können, und haben beide das gleiche Schicksal gehabt: .. unser altes Herz an die neue Jugend einer anderen Zeit zu hängen, die doch nicht mehr die unsere ist, und damit über die Generation von uns hinauszuwachsen. Ohne doch ganz in die andere hineingreifen zu können.

Wird Ruth auch nicht freuen. Hat ihn doch eigentlich sehr gern jetzt. Sie hat noch gestern zu mir gesagt: »Paul Gumpert, Jorry, ist der einzige deiner neuen und alten Freunde, auf den du dich verlassen kannst, wenn du dich nicht auf mich verlassen könntest. Aber das ist vielleicht auch Jolis wegen, verstehst du. Er weiß, was es heißt, wenn ein Mann mit einer Frau zusammenlebt, die 25 Jahre jünger ist als er.«

Gott ja, wie wird Joli das tragen? Gewiß, sie ist ein Prachtkerl. Und sie hat eine so reizende Art, einen Fehmantel zu halten. Ich sehe sie vor mir. Sie ist vielleicht noch schöner, wenn auch nicht klüger als Nukelino. Aber sie ist gepflegter und trägt ihre Schönheit bewußter. Denn sie braucht sie auf der Bühne. Sie ist Anlagekapital, das sich verzinsen soll und nicht kleiner werden darf. Aber zum Schluß sind sie doch beide eigentlich ebenfalls aus der gleichen Kiste genommen. Ruth und Joli. So etwas gibt's doch nur in Berlin. Oder das gab's nur in Berlin. Da muß der Großvater schon zwei Füchse, einen Landauer und eine Equipage gehabt haben und einmal bei Bismarck zum Tee gewesen sein. Gewiß, sie hat wieder gute Erfolge in der letzten Zeit an der Bühne. Man liest Jolis Namen oft. Ich verstehe ja nichts davon. Aber endlich mal hat sie doch Lebensansprüche, die zu ihr und ihrer Position gehören. Ich fürchte, ich fürchte, kleiner Paul Gumpert, das wird dich deine Joli kosten. Und das wird wohl das schwerste dabei für ihn sein. Ist doch ein famoser Bursche eigentlich. Zu meinem fünfzigsten ist er eigens mit Joli hier herunter gekommen. Niemand sonst von den alten Freunden. Tun meist so, als ob sie sich mit meiner zweiten Ehe nicht abfinden könnten. Die Welt ist sehr komisch. Wenn man sich anständig benimmt, sagen sie, man benimmt sich unanständig, und rücken von einem ab. Und wenn man sich unanständig benimmt, drücken sie beide Augen zu und sagen: das ist Privatsache.

Ist doch ein Mensch von einer unaufdringlichen Anständigkeit, der Paul Gumpert. Als das mit Ruths Mutter war, im April, hatte er Ruth die ganzen Tage seinen Buick zur Verfügung gestellt, damit sie möglichst wenig mit der Umwelt in Berührung kam. Ich war gerade oben in Kopenhagen. Habe es überhaupt erst vier Tage später erfahren, als alles vorbei war. Eigenartig harte und fast heroische Menschen. Ruth genau so wie die Mutter. Hatte bestimmt, daß es erst später bekannt gegeben werden und daß niemand bei ihrer Verbrennung sein sollte außer ihrer Tochter. Und daran hat Ruth sich strikte gehalten. Nicht mal mir es geschrieben. Wie sagt sie immer: Armer Jorry, du bist das Kind, das hinaus geschickt wird, wenn die Großen unter sich sein wollen. Ein verdammtes Stück Arbeit, sowas als Frau ganz allein durchzubeißen. Ich habe sie bewundert. Ich hätte es nicht gekonnt. Die Alte war überhaupt im Kern ein vernünftiger Mensch. Hat auch bestimmt: »habe nie Leute in Trauer leiden können und bitte deshalb, daß meine Tochter keine schwarzen Kleider um mich anlegt.« Sollte Nachahmung finden. Die ganzen Tage stand Grumke mit dem Wagen vor der Tür. Und Paul Gumpert hat nicht einmal sich blicken lassen. Nur ein Kärtchen geschickt: ›Da er annehme, daß sie den Wagen jetzt nötiger brauchen könne als er, so bitte er über den Wagen und Grumke zu verfügen.‹ Ich finde, das ist mindestens so kultiviert wie die Bilder, die er gesammelt hat. Ein anständiger Junge.


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