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Und so also wird aus Morgen und Abend der erste Tag und so also wird aus Morgen und Abend der zweite Tag. Denn es müsse hier Ordnung herrschen wie in der Schöpfungsgeschichte, sagt Ruth. Man verliert bei sowas so leicht die Zeitrechnung. Sonst wäre plötzlich die Woche rum. Und am Sonnabend mittag um zwei erklärt sie, daß das Essen ihr gut geschmeckt hätte, soviel Freude hätte sie lange nicht daran gehabt. Wenn es so weiter ginge, würde sie demnächst platzen. Und daß sie jetzt aufstände. Vorher müsse sie aber noch die Zeitungen durchsehen, und sie würde Jorry als ein vortragender Rat im Ministerium des Äußern und Innern dann aus den Zeitungen zusammenfassend berichten, was für ihn notwendig zu wissen sei. Das müsse man in Deutschland jetzt tun. Sie käme sich vor, wie der Diener in der »Bohème«, der Chaunard und Rudolphe jeden Morgen um zwölf Uhr wecken und ihnen sagen mußte, wie das Wetter ist und unter welcher Regierungsform sie heute leben. Also Deutschland wäre immer noch Republik. In der Fürstengruft von Weimar sind sie eingebrochen. Haben Metall gestohlen. Tabakshändel Köhl ist mächtig gestiegen. Kein Wunder. In der Eisenbahn betäubt und beraubt. Und hier sind die Namen der Studenten, die zu der Sache Mühlheim gesucht werden: Riegner, von Berstel, Klaus Peter Werner. –
Fritz Eisner pfeift durch die Zähne: »Sag mal, Nuck, was soll man da tun? Denn die Vornamen kann es doch nicht ein zweitesmal geben? Deshalb hat mich auch dieser Lulu Mittwoch so plötzlich danach gefragt!«
»Nichts, Jorry, sollst du tun. Fränze wird sich schon selbst damit zurechtfinden. Alles was du machst, kann die Sache nur verschlimmern und verwirren. Sie kommt übernächsten Sonntag, ich hab sie eingeladen, uns hier besuchen. Und da wird man hören, was ist.«
»Und sieh doch mal hier in der Mittagszeitung. Gott, der arme Teufel. Schrecklich. Du hast ihn doch noch vor vier Tagen getroffen. Den haben sie doch in seiner Wohnung tot aufgefunden ... Seit drei Tagen nicht mehr gesehen. Nachbarleute schöpften Verdacht. Aufgebrochen. Der Arzt: Tod durch Verhungern. Infolge chronischer Unterernährung. Hier ist sein Bild! Hier ist sogar ein Gedicht von ihm. Na – so gut ist es auch nicht gerade, daß er deshalb in Deutschland hätte zu verhungern brauchen. Siehst du, hier ist noch ein Bild von ihm und da noch eins, und da hat er sogar einen ganz langen Artikel. Er hat eine vorzügliche Presse. Als ob er ein General wäre und gar kein Literat. Na ja, ein Dichter, der regelrecht verhungert ist! ... sonst tut er es doch bloß in der Redensart ... das ist mal was.«
»Weißt du, ich habe ein böses Gewissen. Ich wollte noch halten lassen, wie wir da mit Doktor Spanier in der Nähe vorbeifuhren. Aber ich wußte doch nicht, was mit dir los sein würde. Wir mußten doch auch nach Hause. Und – das eine ist mir klar – ich hätte ihm doch nicht helfen können. Ich hätte ihm für neunzig Millionen im freien Handel ein Brot kaufen können, und dann wäre er eben vierundzwanzig Stunden später an Hunger und Entkräftung eingegangen. Wie alt ist er eigentlich geworden? Über siebzig. Dafür hat er sich recht gut gehalten. Hier steht«, liest Ruth, »das Café, in das er kam die Zeitungen durchsehen, drückte gern ein Auge zu (hast du schon mal ein Café ein Auge zudrücken sehen? O heiliger Karlchen Miesnick!) Auch wenn er dort nichts mehr verzehrte. Am Dienstag abend ist er dort das letztemal gesehen worden. Seitdem hat ihn kein menschliches Auge ...«
»Das stimmt auch wieder nicht. Zweiunddreißig Jahr kenn ich ihn eigentlich. Er hatte seine Fehler, aber er war ein unterhaltsamer Mensch. Man hat sich nie bei ihm gelangweilt und gerade dann nicht, wenn er renomierte, und seine Wutanfälle auf Dehmel bekam. Hundert Leute haben gern mit ihm geplaudert und sind dann in ihr Leben, in ihren Alltag, in ihren Beruf zurückgegangen. Für ihn aber war das das ganze Leben. – Nur eines tut mir an der Sache wirklich leid. Er hätte es noch erleben sollen. Seit zwanzig und mehr Jahren hat er täglich alle Blätter nach seinem Namen abgesucht. Nach Beiträgen von sich, nach Artikeln und Lobpreisungen über sich, nach Bildern von sich. Immer wieder vergeblich hat er seine schwarzen Augen wie rasche Mäuse die Spalten herauf- und herunterhuschen lassen. Er hat einen Menschen hassen können, der eine Zeitung genommen hatte, die er noch nicht gelesen hatte. Alles ist umsonst gewesen! Er hat es sich zwar nie anmerken lassen, in den zwanzig oder bald dreißig Jahren, da ich ihn kenne. Aber er ist gewiß enttäuscht, tausendfach enttäuscht oft zu Herrn Adumeit ... warum hat er sich auch leichtfertig von ihm getrennt?! ... in seine Dichterklause gestiegen, hinauf in den vierten Stock. War es nicht in der Ziethenstraße? Ich bin mal da gewesen. Eine große Fotografie von ihm mit wallenden Künstlerlocken – später waren die gefallen, war umrahmt von kleinen Stichen von Goethe und Schiller, von Möricke und Unland und Heine und Heyse. Und darunter war ein Kranz welker Lorbeeren mit Schleife: ›Die Literatur – Apolda 1891‹. Das hätte der Alte mit der Sammetjacke noch erleben sollen! Alle Blätter bis in das letzte Käseblättchen, und das sind bald zweitausend oder mehr in Deutschland, werden von ihm sprechen.
Also komm, Nuckelino. Gehen wir. Der arme Teufel tut mir ja doch leid. Auch wenn ich so rede. Es ist nur ein Selbstschutz. Komm Nuck, also trinken wir ein nettes, gutes Kaffeechen. Und dann bummeln wir langsam zu deinem Doktor Spanier. Damit er dich innerlich wieder beguckt. Ich wünsch keine Neuigkeiten mehr zu hören. Das genügt mir. Ist dir aufgefallen, daß am Sonnabend Mittag eigentlich schon der Sonntag anfängt?! Die Leute sind zwar noch nicht sonntäglich angezogen, aber die Wochengesichter entspannen sich doch schon langsam, das heißt, nur bei denen, für die es einen Sonntag gibt. Nicht bei denen, für die alle Tage Sonntag ist. Aber die Verkäuferin, die Mittagszeit gemacht hat und wieder ins Geschäft läuft, auf deren Gesicht steht: von heute Abend um sieben bis Montag früh um acht könnt ihr mich alle im Mondschein besuchen. Der Herr Rayonchef an der Spitze! Ick jeh nach Schlachtensee, schwofen mit Emil.
Deswegen hab ich den Sonnabend Nachmittag gern. Er ist nie so langweilig wie ein Sonntag sein kann. Denn er hat Erwartungen in sich und der doch meist nur Enttäuschungen.
Also noch bis an die nächste Ecke. Wenn da bis zur Sächsischen kein Bekannter mit einem Auto gekommen ist, machen wir uns selbständig.«
Vier sehr gestriegelte Knaben in hellen vielfach gesteppten Mänteln mit Ledergürteln und nicht mit Hüte, sondern mit Hütchen, gehen zu zwei und zwei und markieren alte Vornehmheit. Ruth hält sie für Söhne edler Geschlechter. Echte Grafen.
»Also entweder sind sie Grafen oder Eintänzer oder beides«, sagt Fritz Eisner.
»Also passen Sie auf«, sagt der eine zum andern, »lassen Sie mich nur machen. Wir werden bei dem Mann schon eine gehörige Gage rauskitzeln.«
»Na habe ich da nicht recht gehabt?«, sagt Fritz Eisner.
»Also es kommt keiner. Sss, Auto!«
Und dann sitzen Ruth und Fritz Eisner im Wagen. »Wenn wir erst länger hier sind, werden wir zu Fuß gehen, mein Kind. Hast du noch Schmerzen beim Gehen gehabt?«
Nein, sie merke gar nichts und wäre gesund wie ein Fisch, und es wäre überhaupt ein nonsens, daß sie zu dem Mann da ginge, und sie täte es nur seiner Schachpartie wegen, daß sie sich dazu herabließe.
»Die Taxis sind nebenbei noch billiger geworden, denn der Dollar feiert heute ein Jubiläum und steht eine Milliarde. Ich hab ihm schon gratuliert. Man muß sich beeilen, sonst kommt man zu spät und er hat sie schon überschritten, und die Chauffeure werden wohl erst morgen oder übermorgen neue Tarife bekommen. Aber durch den Hochbahnstreik haben sie viel mehr zu tun als sonst, und so gleicht sich doch das für sie so ungefähr aus. Jedenfalls soll er das Verdeck aufmachen und etwas langsamer fahren. Er bekäme auch ein gutes Trinkgeld.
Aber es paßt dem Chauffeur nicht sehr. Denn auf Trinkgeld rechnet er ja auch so.
Und die verschiedenen Städte Berlins jagen an ihnen vorbei. Am Belle-Alliance-Platz umlagern Menschenmauern die Hochbahn, trotzdem es da gar nichts zu sehen gibt außer den eisernen Stützen, die sich hoch über den grauen Böschungen des Kanals zwischen den dürftigen Kronen der Ulmen in die Luft heben. Denn Züge verkehren ja heute nicht. Und die leeren Geleise und die kühnen Kurven, auf denen sonst da oben die gelbroten Schlangen angeschossen kommen, liegen ganz tot da. Scheinen nichts mehr vom Dasein zu erwarten. Die Schupos bilden Reihen um die Eingänge und sagen, man solle weitergehen.
Am Zoo hat man den Streik als Belästigung empfunden. Am Nollendorfplatz war es eine Gleichgültigkeit gewesen und hier war man eben die Partei der Streikenden, nahm es als eine Herausforderung.
Also Doktor Spanier erwartet sie schon. Wirklich, sie kommen dieses Mal viel leichteren Herzens zu ihm als das erstemal. Der Teetisch steht schon gedeckt, und für Fritz Eisner sind besondere Zigaretten und echte Zigarren da. Und ein Band der neuen großen Kunstgeschichte: Die Frührenaissance ist ihm vorsorglich in Griffweite vor seinen Platz gepackt worden. Denn so weiß Doktor Spanier (die erste Untersuchung war ihm ja doch zu oberflächlich!), der da wird nicht unruhig werden und er hat mindestens zwanzig Minuten zu tun. Er will Blut- und Urinproben nehmen und Abstriche und nochmal der Sache mit allen Methoden zu Leibe rücken, die diagnostisch überhaupt angewandt werden können. Und er will es nicht nur bei sich machen, sondern es auch an sein Krankenhaus weiter geben und nach Dahlem und an das Serologische Institut. Jedenfalls aber werden die Analysen, die Resultate, die sich decken, zum mindesten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die falschen sein. Ob die richtigen, sei dahingestellt.
Alle Beteiligten tun natürlich, als ob's gar nichts ist. Ruth ist vergnügt, daß sie wieder aus dem Bett ist. Spanier spielt den alten liebenswürdigen Schwerenöter, und Fritz Eisner sagt, er würde gleich wie Odysseus mit dem Bogen unter die Freier treten. Für Tee ist es noch etwas zu früh, der käme nachher, meint Doktor Spanier. Dann führe er heraus. Jedenfalls würde er sie bei sich zu Hause oder wo sie sonst hin wollen, gut absetzen. »Das gehört zum Kuvert.«
Und dann ist er mit Ruth verschwunden, und Fritz Eisner schlägt, diesesmal ist er nicht mehr so verwirrt und tief verängstigt wie vor drei Tagen, den schweren Band auf und beginnt so langsam Blatt für Blatt an sich vorbeiziehen zu lassen. Das konnte man doch vor dem Krieg nicht. Diese klare und vornehme Schärfe der Reproduktionen! Wie dieser Sankt Georg doch seit fünfhundert Jahren bald in die Ferne träumt, wild und keusch zugleich. Seit der Antike hat es diese Formenstärke und Formeneinheit, diese gebändigste und in edelste Flächen gezwungene Schönheit, die doch so ganz lebensnah ist. Wirklich Renaissance. Wiedergeburt der Kunst und des nackten Menschen. Der Olymp kehrt von neuem auf die Erde zurück.
Vom blauen Grund lächeln und räkeln sich die Innocenti der Robbias, strampeln sich aus Wickelbändern ihrer Windeln.
David der junge Schleuderer hat den alten mürrischen Goliath besiegt. Er hat noch die Muskeln eines Knaben, aber die Zukunft gehört ihm und seinem neuen Schönheitsevangelium.
Die vornehmen Frauen in Seidenbrokaten besuchen in der Wochenstube ihre junge edle Freundin, deren Baby die Dienerinnen eben in duftendem Wasser gebadet haben und es gleich in schneeige Leinentücher einschlagen werden. Ihre Hälse sind wie Säulen so schlank, und ihr Gang ist still und unnahbar zugleich. Aus der Hütte, dem Stall, ist ein Saal geworden, dessen Wände in Zedernholz geschnitzt sind und dessen Truhen ein Masaccio oder ein Filippo Lippi malte.
Die Schönheit selbst steigt wieder aus dem Meer. Nackt und edel von Goldhaar umflattert. Gold umzieht die Blätter der Lorbeerbäume und die Dienerin mit dem rosa Mantel, der mit goldenen Gänseblümchen bestickt ist, steht am Ufer, um ihn ihr, wenn die Muschel sie erst ganz herangetrieben hat, unter dem Hauch des Boreas um die edelschmalen Schultern zu breiten.
Wer ist dieser Jüngling, der singen konnte und Gedichte machen und Häuser bauen und der träumerisch in seinem Garten unter den Zypressen saß? Und der doch wie seine Zeit es wollte, ewig bereit war, den Dolch zu zücken?
Wer war jene Frau, scharf im Profil, deren Hals und Haar und Stirn in lebender Anmut erklingen, deren geschwungene Nase, die aus der Wurzel herauswächst, sich kraust und stolz und spöttisch zugleich erscheint? Wer ist sie – perlenbehangen und leise vor sich hin lächelnd? Wer sind sie, bei denen zum erstenmal, seit den Römern, wieder aus dem Menschen sich das Individuum löst?!
Paläste wie Burgen, denn die Zeit ist wehrhaft und die Geschlechter bekämpfen sich selbst in der Stadt, und doch wie aus schimmernden Kristallen errichtet. So edel in den Linien, wie Octaeder.
Das ist. Die Dinge sind da. Mit ihrem neuen und reinen und stillen und lieblichen und strengen Schönheitswillen, den sie in sich wie eine unverlierbare Seele tragen.
Das ist ein herrliches Buch, denkt Fritz Eisner. Daß so etwas in Deutschland doch immer wieder gemacht wird. Trotz allem. Das erfüllt einen ja doch mit Zuversicht.
Ach da sind sie ja wieder. Ruth ist sehr vergnügt und Doktor Spanier scheint auch sehr froh.
»Na«, sagt er, »nun haben wir uns den Tee verdient. Also das ist ja über Erwarten gut zurückgegangen. Das letztemal hab ich einen Schrecken bekommen. Mindestens auf die Hälfte ist es zurückgegangen. Kaum noch anderthalb der Normalgröße, die natürlich auch individuell etwas verschieden sein kann. Also ich hab Ihrer Frau schon gesagt, sie soll tun, als ob sie ganz gesund ist, sich möglichst wenig drum kümmern. Vielleicht hol ich nochmal einen Internisten hinzu, wenn die Sache ganz abgeklungen ist. Aber im Moment ist es unnötig. Ich habe schon mit ihr ausgemacht, wenn sie irgendwelche, auch nur die geringsten Beschwerden hat oder die Appetitlosigkeit wieder einsetzt, ich komme sofort nach Empfang einer Postkarte und zahle die höchsten Preise.«
Der Mann ist doch etwas krampfhaft, denkt Fritz Eisner, aber vielleicht ist das jetzt so seine Art. Also froh bin ich ja doch, froh bin ich, froh bin ich! Denn man hat doch wieder die letzten zweiundsiebenzig Stunden unter einem verdammten Druck gelebt. Wenn sie auch noch so harmonisch waren, und das waren sie. Schon Frau Zehrer hätte dafür gesorgt, daß eine solche Stimmung zwischen uns nicht mehr aufkommt. Käte ist leiser und diskreter und besser erzogen.
»Ich werde nun genau aufpassen, daß Sie auch alles nehmen. Essen Sie, greifen Sie zu, junge Frau! Genötigt wird hier nicht! Gab's früher nicht in unserer Jugend, Meister – daran kann sich solch ein Kiekindiewelt gar nicht mehr erinnern – Herolde aus Zinkguß mit einer Fahne, auf der eingraviert war: Genötigt wird nicht! Also es war schon manchmal hahnebüchen geschmacklos in der guten alten Zeit, da wir noch beide jung waren. Also nun soll sich die junge Frau die Frührenaissance ansehen. Wir werden eine nette Partie Schach zusammen spielen.«
»Ich würde gleich an Ihrer Stelle die fünfte spielen«, sagt Ruth, »dann haben Sie es bis zur achten nicht mehr so weit«.
»Gewiß, Nuck, du hast ja recht.«
»Heißt das, du hast ja recht, oder ganz recht hast du, mein Nuckchen? Dann hab ich nämlich eine große Dummheit gesagt, Doktor.«
»Nein, du hast ja recht! Schach ist ein verblödendes geistiges Gift. Aber es hat mir schon über manches hinweggeholfen im Leben.«
Doktor Spanier nickt.
»Als mein erstes Kind damals starb und als junger Mensch, wenn ich nicht ein noch aus manchmal wußte und in jeder Beziehung bankrott war und überhaupt keinen Weg vor mir sah ... ich glaube, an dem Tag, an dem Maud zur Welt gekommen ist, hab ich zum letztenmal einen Schachstein angefaßt.«
»Also schwarz oder weiß?«
»Aber das ist doch egal, Doktor! Warten Sie, Ihr König steht falsch. Wollen wir was Lustiges spielen? Ein Muzzio, ein Kieseritzki oder ein Allgayer? Spielt kein Schwein mehr, aber man kann böse bei reinschliddern, wenn der Schwarze richtig antwortet. Na, Sie werden es ja nicht so genau kennen. Ich kann's auch nur als Weißer.«
»Ja, wenn ich Ihnen nun den F-Bauern nehme, Meister?«
»Dann werden Sie nicht mehr viele frohe Stunden haben, wenigstens nicht in dieser Partie.«
»Diese Verteidigung ist ganz nett, aber wenn ich nicht irre, gibt es da eine alte Variante. Ich bin nämlich Theoretiker. Das liegt mir mehr meinem ganzen Wesen nach.«
»Also sagen Sie mal ehrlich, wie sind Sie zufrieden gewesen?«
»Zufrieden?« meint Doktor Spanier leise. »Da werde ich mal eben noch den Springer heranholen müssen«, sagt er laut. »Furcht kenne ich nicht. Da habe ich schon ganz andere Partien verloren. Sehr zufrieden war ich«, beginnt er wieder leise, »also wider Erwarten gut zurückgegangen. Aber nun nehmen Sie mal da eine Zigarre, Meister.«
»Ihre Königin lasse ich ruhig einstehen. Die brauche ich nicht mehr. Die hole ich mir eventuell dann nachher. Schachazzio benevolentia.« Doktor Spanier beugt sich über das Brett und sieht zu Fritz Eisner herüber. Wo kenne ich nur die Augen her? Richtig! Das ist ja der Blick auf der Radierung von Ephraim Bonus an der Treppe da.
»Es ist über Erwarten gut zurückgegangen, nicht wahr, – aber aber –« jetzt wird seine Stimme ganz leise, »aber Meister, können Sie mir sagen, was wir machen sollen – das wird ja eine Weile vorhalten – was wir machen sollen, wenn es das nächstemal nicht mehr drauf reagiert?! Ich wär Ihnen furchtbar dankbar. Ich weiß nichts. Gar nichts. Absolut nichts. Und ich kenne auch keinen Arzt, der so etwas weiß ... Den Bauern nehme ich einfach en Maupassant, Meister«, sagt er wieder laut und fast lachend, »also den Zug können Sie zurücknehmen. Sie decken ja damit das Schach auf. Machen Sie da oben je vier dafür.« Und dann wird er wieder ganz leise. Und sehr weich und freundlich. »Leben Sie gut mit Ihrer Frau? Schön. Dann leben Sie noch besser. Tun Sie alles, was sie will. Wenn Sie ihr eine Freude machen können, die in Ihrer Macht steht, machen Sie es. Sie soll tun und lassen, was sie will. Aber sie soll es nicht merken. Sie ist verdammt gescheit. Und sie ist schon in den Händen von einer ganzen Anzahl von Kollegen gewesen, nicht wahr? Ich habe direkt Mühe gehabt mit ihr, daß sie mir nichts anmerkte. Es ist doch unendlich traurig – immer gerade die schönsten und wertvollsten Menschen!« Dann wird er wieder laut. »Also wenn Sie nicht mit dem Turm auf die H-Linie gehen, wird eben der E-Bauer doch in ein paar Zügen in die Dame einrücken.« Und dann senkt er die Stimme wieder: »Ich fürchte, ich fürchte, mein alter Freund, das Gummischweinchen hat damals recht gehabt. Ich sehe es für aussichtslos an. Das mag roh sein, daß ich Ihnen das sage, aber ich kann Sie nicht darüber im Unklaren lassen. Glauben Sie auch nicht nachher, der alte Esel, der Spanier, hat sie verpfuscht und versteht nichts. Aber sie wird nicht mehr kränker werden, nein. Das schöne Bild, das sie jetzt von ihr haben, wird sich nie verwischen. Aber es kann in einem Monat ... es kann in einem halben Jahr, mehr gebe ich ihr nach dem Blutdruck nicht mehr, armer Kerl, ich muß Ihnen immer – Schach dem König« – ruft er, »da dürfen Sie nicht hin, da steht mein schwarzer Läufer – immer so furchtbare Dinge sagen. Einmal schon, wie lange ist das jetzt her, über zwanzig Jahre! Seien Sie nett zu ihr. Sie soll nett zu Ihnen sein, Meister, solange Sie sie noch haben. Sie wird sich nicht lange quälen, wenn es so weit ist. Und sie wird mal ganz still hinüberschlummern und ganz lautlos sich von Ihnen wegschleichen. Sie sollen nicht traurig sein deswegen. Wie lange leben Sie schon zusammen? Bald sieben Jahre schon. Nun, Meister, die ersten drei davon waren ein Geschenk. Und die nächsten drei ein Geschenk Gottes für Sie. Wie lange sind denn die Blutungen aus dem Mund und dem Darm und der Nase schon? Wieder in Pausen bald vier Jahre?! – Naja, ich biete Ihnen remis an«, sagt er laut, »angenommen. Verstehen Sie, alter Freund«, sagt Doktor Spanier wieder leise, »nun lassen Sie sich nichts merken. Aber auch gar nichts. Tun Sie der jungen Frau an, was Sie können. Ich weiß, was Sie fragen wollen. Nein, Sie brauchen keine Rücksicht darauf zu nehmen. Das hat gar nichts damit zu tun. (Und dann redet er wieder in den Raum rein.) Na, wollen wir noch eine spielen, oder wird's zu spät?«
Ruth hat sich indessen den Kunstgeschichtsband, den neuen, genau angesehen und hatte sich dann langsam nach dem Salon herübergeschlichen, um sich da in Ruhe einmal die Franzosen zu betrachten. Das letzte, von der neuen Partie, hat sie aber mobil gemacht und zurückgeholt.
»Na, wer hat gewonnen?« ruft sie, wie sie hereintritt, »Gott, Jorry, was ist denn mit dir? Du bist ja auf einmal ganz käsig?«
»Wirklich, ich glaube, die Zigarre ist mir zu schwer gewesen. Dieser Spanier raucht immer noch solche schwarzen Giftnudeln.«
»Ich sage immer«, sagt Doktor Spanier lachend, »Kindern soll man keine Zigarren geben. Also nehmen Sie noch einen Kognak, Meister. Nein, junge Frau, für Sie ist das nichts. Soll ich die Kaffeemühle anheizen? Dreiviertelfünf?! Ich glaube überhaupt, sie ist schon vorm Haus angeschwirrt.«
Aber dieses Mal will Ruth vorn neben dem Doktor sitzen. Das tut sie gern. Und sie will auch bald mal chauffieren lernen. Und sie plaudert, lacht und ist witzig. Und Fritz Eisner wirft vom Rücksitz aus hin und wieder – es soll doch nicht auffallen, daß er nicht mittut – ein Wort dazwischen. Und draußen huschen Bäume und Häuser und andere Wagen und Menschenschwärme vorbei. Er sieht alles und er sieht nichts. Es sind wesenlose Kulissen und Gespenster. Er wußte es doch eigentlich seit Jahren. Er hätte auch Zeit gehabt, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß das nur ein Wechsel auf Sicht war, und daß das keine Ewigkeit sein könnte. Und nun hatte ihn das doch ganz überrumpelt. Es war das wie ein Schlag mit einer Latte über den Kopf.
In seiner Jugend hatte Fritz Eisner mal so etwas gesehen. Ein alter Lumpenhändler hatte mit seinen Lumpen ein Bleirohr mitgehen lassen und das unter seinen Lumpen auf seinem Karren versteckt. Und da kam der robuste Mann, dem das gehörte, hielt den Wagen an, und zog das Stück Bleirohr heraus. Na ja, es war ein alter armer Mann, und es war auch vielleicht nicht recht von ihm, daß er das Stück Bleirohr gestohlen hatte. Es hatte doch Wert, immerhin Materialwert, wenn es auch löchrig und verbogen war. Aber der andere riß es heraus und schlug den Greis damit einfach, ohne lange zu reden und zu parlamentieren, über den Kopf, und der Alte lallte und taumelte einen Augenblick, hatte eine rote Stelle da oben, aber dann nahm er seinen Karren, er hatte nicht mal einen Hund, und zog ihn, ohne sich umzudrehen, hastig weiter. Merkwürdig, daß solche Jugendeindrücke so eisern haften. Sich einem wie mit glühenden Stempeln ins Hirn einbrennen. So wie dieser alte Lumpenmann komm ich mir jetzt vor.
Ich muß mich sehr zusammenreißen, um die einfachsten Worte zu finden, und Ruth und Doktor Spanier lachen zusammen über mich, daß ich nicht mal eine Zigarre mehr vertrage.
»Also nächstens spielen wir wieder mal eine Partie«, sagt Doktor Spanier. »Kommen Sie mal ran, vielleicht Sonnabend wieder. Sie muß ich ja auch nochmal sehen, junge Frau. So schnell kommen Sie doch nicht von mir los.«
Und dann steigen sie aus.
»Hat er dir was über mich gesagt? Schwör mir, Jorry.«
»Nee, er hat mir nur das gesagt, was er dir gesagt hat. Du sollst dich nur etwas in acht nehmen. Sonst war es ja sehr gut geworden. Besser als er gehofft hätte.«
»Aber ihr habt doch beim Schach, das heißt, er hat dir doch da so leise was erzählt. Nebenbei muß er mal sehr schön gewesen sein. Und sehr elegant. Das ist er ja heute noch.«
»Leise erzählt? Wir haben die Stellung zusammen analysiert und dabei die Köpfe zusammengesteckt. Aber sonst erinnere ich mich wirklich nicht. Er ist nebenbei ein ganz starker Spieler. Wenn er mir nicht remis angeboten hätte, hätt ich die nebenbei bestimmt verloren, die Partie. Aber ich hab doch ein bißchen Kopfschmerzen nach der Zigarre bekommen. Ich möchte mich ein bißchen früher hinlegen heute. Oder wollen wir noch nach dem Abendessen in ein Café oder vielleicht in ein Kino gehen? Ich geh sogar auch mal ins Kino mit dir. So bin ich!«
»Na Ehrensache«, sagt Ruth, »alter Jorry. Denkst du etwa, ich will in Sack und Asche zuhause sitzen, wenn ich drei Tage Stubenarrest gehabt habe? Wenn du nicht mitkommst, dann geh ich allein oder telefonier meiner Freundin Edith. Dann bummeln wir beide mal ein bißchen. Du, paß auf, den Winter werden wir eine Menge mitmachen. Deine Bekannten und meine von früher her. Und wir müssen dann auch ein paarmal Leute bei uns sehen. Das kostet gar nicht so viel. Es zahlt sich ja doch zum Schluß schon immer wieder aus. Die Menschen sollen mal hier merken, daß du noch vorhanden bist, alter Freund. Und daß ich noch da bin, sollen sie erst recht merken. Dafür will ich sorgen. Aber du siehst doch immer noch wie Braunbier mit Spucke aus. Komm, ich mach dir gleich einen guten Tee, und leg dich dann ein bißchen. Ich bin wieder ganz obenauf. Er hat ja doch die Sache los, dein alter Freund da.«
Und des Abends gehen sie noch in ein neues Café. Es ist ganz nett aufgezogen, wie so neue Cafés sind. Die Hauptsache anders als die Vorgänger. Und in vier Wochen ist dann wieder ein anderes Café neu. Und sie gehen in eine Likörstube mit Lausejungen, Nutten und schummrigen Ecken, und sie treffen da die Freundin Edith, die sehr mondän geworden ist in den Jahren. Zweimal geschieden ist – aber solche Freundinnen stehen einem gut – und einen Berliner Jargon mit knorke und knif und Gert und Hannes und Fredy spricht und die einzelnen Jazzbanden auseinander halten kann. Vielleicht nach der Menge des Geräusches. Und sich mit jedem Stehgeiger zwei Kilometer im Umkreis duzt.