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Kapitel IX

Der Alte mit der Samtjacke – Paul und Joli

Fritz Eisner ist auf der Straße. Hier draußen ist es eigentlich ziemlich still. Man hat das Gefühl, die Häuser wären hier alle unbewohnt. Ist aber gar nicht wahr. Die Leute lassen sich hier nur nicht sehen jetzt. Früher waren sie zu distinguiert dazu, jetzt wollen sie nicht gern, daß man sich ihrer erinnert. Die von früher sind es auch nicht mehr immer. Hier sind viel neue Namen. Eigentlich ist hier schon eine sterbende Gegend. Eine Gegend, die sich wehrt gegen den Tod. Aber gerade das und dieser Herbstnachmittag, der doch noch nicht so ganz ein Herbsttag ist, mit dem blaugrauen Dunst, in den noch kaum sich entlaubenden Bäumen, mit dem Braun und Mattgelb, das zwischen dem Grün spielt, und der bernsteinfarbigen Sonne über allem, die noch etwas leuchtet, aber gar nicht mehr wärmt, all das paßt so gut zu dem Bild des dahinsiechenden Reichtums von einst, dem sein Gewand zu groß wird und der langsam, ganz langsam schon zu verwahrlosen beginnt ... Ob ich nun hier oder da herumgehe, das macht nicht viel Unterschied. Ich möchte doch mal gern hier vorn wieder die Tiergartenstraße entlanggehen.

Autos sausen jetzt hier an den Häusern vorbei. Sie müssen sie hören, auch wenn sie sich noch so scheu nach hinten in ihre Gärten drücken. Der Asphalt ist löchrig, aber geglättet wie eine Eisfläche. Man sieht viele gute Wagen in langen Ketten, aber aus den breiten Eisentoren hier kommt nicht ein einziger mehr. Früher fuhren hier immer Equipagen ein und aus. Hier war Corso einst. Aber das war schon später. Vorher in meiner Jugend war hier von vier bis sechs und Sonntags von zehn bis elf in der Bismarckzeit der Bummel. Wo sind die alle alle hin? Hier kannte man jedes Haus, wußte von jedem, wer dort wohnte, kannte jede alte Eiche, die mitten im breiten Weg stand, noch aus den Zeiten des großen Kurfürsten her. Es sind immer weniger mit den Jahrzehnten geworden, die Eichen, und die Häuser wechseln die Bewohner und die Besitzer, fangen schon an – eine Seltenheit sonst – leer zu stehen. Große Zettel von Grundstücksmaklern und von Vermietungsbüros sind wie rote Blumen an den Zäunen, oder blühen aus Fenstern. Kunsthandlungen künden an, daß sie demnächst hier ihre Ausstellungen machen wollen. Große Schneiderateliers spielen hier schon diskrete Aufmachung in Parterrewohnungen, wie in den kleinen Villenstraßen um die Champs Elysées. Die Sonne hängt dazu hinten, wo es nach dem Bellevuepark geht und der Hofjägerallee, rot und schwelend. All das ist traurig.

Auf den Holzbänken am Rand, wo ehedem breite Spreewälder Ammen an den spitzenbehangenen Kinderwägen rüttelten (wenn ihre Zöglinge allzu sehr brüllten) und dabei wendisch miteinander sprachen, da sitzen halbeingedrusselt ein paar müde Arbeitslose in Feldgrau noch, oder sie stieren mit bösen Augen den Autos nach.

Was mag Ruth jetzt machen? Jedenfalls hat sie mit Lu schon des Kindes wegen telefoniert, und mich wird sie jetzt doch nicht brauchen können. Berlin ist ja nun doch mal ihr Element. Sicher wird sie hier ganz gesund werden. Weiß der Teufel, ich bin irgendwie doch beunruhigt, warum sie eigentlich heute nicht mitgegangen ist. Das ist sonst nicht ihre Art, so etwas, was ihr von Nutzen sein kann, und wo sie Beziehungen wittert, auszulassen. Aber zuletzt ist diese alte Endmoräne hier, auf der Berlin steht, sicher gesünder, als der Rotsandstein da unten. In dem zweiten Haus von der Ecke, das mit dem Erker und dem zersprungenen Delphinbrunnen in dem Vorgarten, der voll Papierfetzen liegt, ja, das ist es (achtzehn!), da ist Ruth geboren in der Beletage, wie es vornehmen Leuten zukommt, und nach vorn heraus. Hat ein ganzes Album von Fotografien von da und von sich. Erst liegt sie in einem Fauteuil im Kleide der Nacktheit, schräg hingelagert, und der Kopf, den sie noch nicht recht halten kann, sieht aus, als ob er ihr nachgeschmissen ist. Aber mit fünfzehn Jahren ist sie schon eine Dame, in ein Korsett eingeknallt und mit einer Straußenfederwippe, die heute auf jedem Maskenball prämiiert würde. Dazwischen ist sie ein Kind mit Hängelocken und ein kleines Mädchen im gewürfelten Pepitakleid mit schwarzen Sammetschleifen. Und dann ist sie die ernste Frauenrechtlerin mit der Ledermappe unter dem Arm, ganz auf glatt und schmucklos und seriös und unschön zurechtgemacht. Sie will etwas sein und verabscheut es zu gefallen. Männermordend wie Athene. Oder ist es Diana? Eine Weile ist das Gesicht etwas klumpig, aber dann formt es sich. Doch die Augen sind von Anfang an wie zwei große, übergroße dunkle Fragezeichen an das Leben. Besonders da, wo sie krank ist und im Stuhl sitzt und der Neufundländer den Kopf ihr in den Schoß legt, ist sie eigentlich nur Augen und Zöpfe. Es ist so lustig, wenn man einen Menschen doch liebt, ihn sich in den Zeiten vorzustellen, wo man ihn noch nicht kannte.

Aber Nuck wird sich wundern, wo ich bleibe. Gehen wir hier die kleine Straße durch. Wie verwachsen und schmal und öde sie geworden ist und ganz ausgestorben. Der Boden liegt voll welker Blätter. Sicher ist sie seit einem Jahr nicht gekehrt worden. Oder zum mindesten seit acht Tagen. Hier haben Generationen von Malern gehaust. Wer kennt sie noch? Sind noch früher vergessen als die Menschen, die sie hier malten, und die sie nun täglich an ihr altes Selbst gemahnen, das strahlend und selbstbewußt und herrisch, oder schön und damenhaft lächelnd, aus dem Goldrahmen ihnen mit unbeschwerten Augen und Mienen immer noch entgegenblickt, während sie die Inserate in den Zeitungen studieren, um einen Mieter für die fünf Vorderzimmer zu finden. »Am liebsten distinguierten Ausländer oder Generaldirektor irgendeines Alphabets von Konzern.«

Ihre bildverbliebene Rosigkeit von einst ist Zimmerfarbe geworden. – Man ist ja älter. Selbst die Orden haben nur noch Spielzeugwert. Und ihr Frack, der soviel Diners und große Gesellschaften von hundert Personen sah, ist den Motten in den zehn Jahren trotz aller Naphtalinkugeln nicht entgangen. Genau so wie der Pelz der gnädigen Frau. Ihre Augen haben sich von Falten und Fältchen umzogen. Die Iris ist grau umrändert. Und das Rheuma werden sie nicht los, weil man oben doch im Winter nicht alle Zimmer heizen kann. Natürlich sind sie viel zu stolz, um zu klagen. Und Ihr-Sich-Geben und Benehmen hat sich so wenig geändert wie ihre Kleidung, die stets einfach, aber noch aus guten alten Stoffen ist, die man heute nicht mehr kriegt. – Genau so wie ihr Denken und ihre Rede. Das hindert nicht, daß sie ihre alten Dienstboten noch ebenso behandeln, wie vor vierzig Jahren. Und die würden es auch übelnehmen, wenn sich etwa die Distance zwischen ihnen in neumodischer Weise verschieben würde. – Das Gummischweinchen hat doch Unrecht: »det Netteste an Berlin is, daß es da gar keene Landschaft gibt. Da stört se eben auch nicht.« Ist doch nicht wahr! Wie hübsch die Ulmen und Kastanien hier zum Kanal abfallen mit ihren Zweigen bis tief über die Randböschungen herunter. Wie ein wehender gestickter Vorhang sieht das von der Brücke aus. Und der rötliche Sonnenuntergangshimmel verdoppelt ihn nochmal in dem schwarzen Metallspiegel des Kanals. Hier müßte jetzt eine Wildente oben am Himmel hinziehen. Das gehörte doch dazu. Also richtig. Da ist sie schon. In ihrem Spiegelbild scheint sie unten auf dem Grund des Wassers entlang zu ziehen. So war das immer schon, heißt es bei Storm.

Das Gummischweinchen war eigentlich ein fabelhafter Diagnostiker, der erste, dem die Sache mit Nuck nicht ganz geheuer vorkam. Er war ein alter Morphinist. Er war ein schwerer Potator. Aber er war – ein Arzt! Wenn das nicht gewesen wäre, er wäre heute noch sicher eine berühmte Kapazität, denn die Lebersache hat er sich doch nur angesoffen. Das war doch nicht nötig, daß er so vorzeitig und so schnell dann wegging. Das Gummischweinchen war so der Letzte, der den Alten mit der Sammetjacke protegiert hat. Eigentlich konnte er ihn nicht riechen, und uneigentlich hatte er ihn sehr gern. Ich höre den See-Elefanten noch trompeten: »Was macht denn unser lyrischer Freund?« Also ich hab das nur ganz harmlos gefragt, brüllt der los, »un Se fragen noch? Kriegsgedichte!! Die ganze Front hat er runter gedichtet. Nur den Reim auf Przemysl hat er nicht gefunden.«

Gott, ob der Alte mit der Sammetjacke eigentlich noch im rosigen Licht wandelt? Da ich nichts Gegenteiliges gelesen habe, ist es immerhin möglich, denn von Leuten, von denen man im Leben nichts mehr liest und hört, pflegt man gemeiniglich doch zu lesen und zu hören, wenn sie sterben. Vielleicht sieht man im Vorbeigehen in sein Café mal rein. Und vom Nollendorfplatz oder vom Wittenbergplatz kann ich dann gut nach Hause fahren. Es ist nicht anzunehmen, daß der Alte mit der Sammetjacke dort ... sofern er überhaupt noch ein Bein vor das andere setzt ... nicht mehr sein sollte, genau wie vor zwanzig oder dreißig Jahren. Das würde man ja doch gar nicht dulden.

Wie schnell es doch hier dunkel wird. Unten ist es fast eine Stunde länger noch hell. Siebenhundert Kilometer südwestlich macht schon etwas aus. Jetzt kommt gleich die kurze Abendlandschaft der Stadt. Wenn jetzt hinten in der hellen Luft die Lichter wie Glühwürmchen aufmarschieren, ganz weiß und grünlich und gelb, die in der noch in sich glimmenden Helligkeit, die nicht vom Himmel zu kommen scheint, sondern die die Gegenstände selbst auszustrahlen scheinen, wie kleine Flämmchen tanzen, und wenn die Häuserwände dazu phosphorn werden und die Fensterreihen im Reflex des abendlichen Himmels aufglühen! – Gott nochmal, das hier ist doch meine ganze Jugend, mit all ihrer Sehnsucht und all ihrer Liebe, mit dem verschwommenen Traum von Ruhm einstmals, und mit ihrer ganzen Traurigkeit in einem.

Ach, das hatte man aber früher nicht: die ganze Tauentzienstraße herunter all die bunten Linien der Lichtreklame die Häuser entlang, grün und orange und tiefblau und gelb und blutig- und ziegelrot. Diese Buchstaben auf den Dächern, diese Flammenschriften auf den Häuserwänden, diese Aureolen um die Kinoeingänge und dieses aufblinkende und schwindende Lichtnachziehen der Fassaden. Und unten die Augen der Autos dazu, die mit gesenkten Schnauzen hastig den Asphalt beschnüffeln. Das ist schön, das ist neu, das ist sogar aufregend.

Und alles noch unter einem ganz hellen unbewegten Himmel in Weißglut, der nur am Horizont, dort, wo tiefviolett die Romanische Kirche steht, noch einen matten roten Streifen hat! – Was ballt sich denn da? Was ist denn da los? Warum drängen sich da die Menschen zusammen da vorn? Werden zusammengedrängt von Ketten von grünen Schupoleuten, die sich wie Kinder im Spiel an den Händen fassen und so den ganzen Bürgersteig absperren? Und dazu die Lastautos, vier, fünf Stück, die da auf dem Damm halten.

»Was ist denn hier los?« fragt Fritz Eisner ein Mädchen mit einem Fuchs über der Schulter, der linken, und einem Strohhut mit aufgestellten Reiherfedern um den Rand und einem Kleidchen zum Erbarmen.

»Schatz, verdrück dir, mach dir dünne«, sagt die, »det is 'ne Razzia, Mensch! Hast de des denn nich mal mitjemacht? Aba des jeht nich auf uns. Det jeht auf die Devisenschieba hier. Un in 'ner halben Stunde sind se doch wieder da. Hier machense immer mal Razzia. Vor eenen Goldfranken sind wir bis morgen früh zusammen. Komm mit, Schatz.«

Wirklich, da steigt nun schon zwischen den Ketten von großen Schupoleuten, manch einer muß wenig freundlich zwar geschubst werden, hier hat Sich-Sträuben keinen Sinn, einer nach dem andern von solchen armen Hunden in die Lastautos empor. Welche in schäbiger Eleganz, welche klein, schmierig und gedrückt. Welche mit Stolz, welche mit lächelnder Gelassenheit. Junge Burschen mit Kricketmützen. Ein paar Damen in Pelzen sogar und mit Brillantohrringen, falsch wie ihr Herz. Ein paar Nutten in Matrosenkleidchen. Alles wird da oben eng an eng zusammengedrängt bis zur äußersten Tuchfühlung.

»Devisenschieber«, johlts von drüben, und die Leute stürzen sich in die sausende Autokette hinein, um ja über den Damm zu kommen, und um wenigstens noch zu sehen, wie sie abfahren. Drei solche Heringstonnen haben sie voll von Menschenware gezwängt. Morgen wird man in der Zeitung wieder lesen: »Man beschlagnahmte bei der Razzia fünfzehn Dollars, acht Pfund und sechsundachtzig Zlotys und andere Geldsorten«, denkt Fritz Eisner (das war das Resultat der Letzten). »Gegen Wucher und Schiebertum«, schreit ein Plakat quer über von der Litfaßsäule. Glaubt man denn wirklich, ja – glaubt man denn das wirklich, daß diese paar armseligen kleinen Gauner, die man da zum Schnellrichter schleppt, während der Großhandel, die Industrie und die Banken unbehindert Millionen und Millionen, fast das ganze Volksvermögen ins Ausland herübergleiten lassen auf hunderten von Wegen und über hundert verschiedene Kanäle, – glaubt man denn wirklich, daß damit etwas getan ist? Es ist doch nur, damit das Volk ein Schauspiel hat, denkt Fritz Eisner. Das Leben ist überall eine Roheit. Aber in Berlin merkt man es zu sehr.

Muß doch mal sehen, wie's drin im Café jetzt aussieht. Ganz leer fast. Die Kellner zanken sich mit dem Wirt, weil der Geld und sie Trinkgeld dadurch verloren haben. Nur ein Gast, ein einsamer, ist geblieben, steht seelenruhig neben dem Zeitungsstand und liest. Herrgott, das Männchen da am Zeitungsschalter, also das ist doch, siehst du, es hat ihn nicht behalten! Ob er mich überhaupt noch kennt? Ist aber verdammt von Fleische gefallen. Doch die Sammetjacke hat er immer noch. Die Haare aber sind eine graue Bürste geworden, an der die meisten Borsten ausgefallen sind. Und sein oller Kopf hängt klein auf einem abgemagerten Hühnerhals, und außerdem hat er einen dicken Knubbel ganz oben auf der Stirn. Das bekommen so alte Leute oft. Nun ja, er muß doch mindestens fünfzehn Jahre älter sein als ich. Vielleicht sogar an siebenzig. Muß noch die alte Sammetjacke sein, und das Lavallier mit den weißen Punkten in Marineblau kenne ich nun, solange ich ihn kenne. Nur das letztemal trug er einen kleinen gelben gesteppten Sommermantel, einen quittenfarbenen, und ein grünes Hütchen mit einem Rasierpinsel, wie aus der Agrarierwoche, auf dem Hinterkopf. Da waren noch die Kriegsgedichte en vogue. Also das Hütchen hängt da am Ständer drüben. Aber der Mantel? Na, es wird ihm wohl heute zu warm noch dazu sein. Damals war der neunte November. Wenn nicht die Razzia eben gewesen wäre, hätte ich ihn zwischen all den Menschen sicher gar nicht herausgefunden. Vier Zeitungsrollen hat er unter dem Arm, drei hat er in der Hand und in einer liest er. Wie er so etwas auf einmal kann? – Das ist nur durch jahrelanges Training zu erreichen gewesen. Und seine schwarzen blanken Augen unter den buschig gewordenen Brauen – sie haben mich doch immer an die blanken Emailleaugen einer japanischen Puppe erinnert, der Alte hat überhaupt einen mongoloiden Typ –, huschen wie Mäuse nicht die Zeilen, sondern die Spalten herunter, während seine hastigen kleinen mageren Finger die Seiten (auch dazu gehört ein Training von Jahrzehnten) rastlos drehen und blättern.

Er hat wohl noch immer die fixe Idee, daß er sucht, was er geschrieben hat; und was über ihn geschrieben ist, da sein muß, eines Tages auch sicher da sein wird. Denn zum Schluß ist er doch, das weiß er (aber nur er allein), der Dichter, der Lyriker der Epoche, zu dem einmal ganze Generationen noch aufschauen werden. Aber seit Jahren und Jahren ist doch Fritz Eisner nie seinem Namen mehr begegnet. Woher sollte das auch sein? Man lebt doch in einer Welt schon, für die er fossiler wie ein Archäopteryx geworden ist. Aber wer kann das ahnen? – Vielleicht lebt er und seine himbeerfarbene Welt da ganz draußen in der letzten Provinz immer noch fort. In den Blättern, die hier ausliegen, ist sie jedenfalls seit zwanzig und mehr Jahren schon ganz verklungen.

Fritz Eisner beobachtet ihn eine ganze Weile so durch die Scheibe. Soll er ihn begrüßen? Vielleicht erkennt er ihn gar nicht mehr. Langsam hören die Kellner auf, sich mit dem Wirt zu zanken. Auch das Fräulein an der Theke mit blonden Wasserwellen und abrasierten nachgemalten Augenbrauen ... (das ist ganz etwas Neues, denkt Fritz Eisner), die dem Gesicht nicht das Aussehen einer Puppe, sondern eines Harlekins geben, auch die gleichmäßige weiße Puderschicht über Kinn, Stirn und Wangen, in denen nur der rote klein geschminkte Mund wie eine Herzkirsche brennt, erhöhen das mehr Spuk- als Lasterhafte noch ... auch das Fräulein ist wieder auf ihren Ehrensitz, den erhöhten, zurückgekehrt, und strahlt gleichgültig in den Raum hinein.

Fritz Eisner will schon gehen. Aber da nimmt der Alte mit der Sammetjacke sein grünes Filzhütchen vom Haken, und während er noch einen letzten Blick in eine Zeitung wirft, die er dabei in der linken Hand gehalten hat, wendet er sich zur Tür. Kein Kellner kümmert sich um ihn. Man sieht auch nirgends auf den Marmortischchen irgendeine Tasse oder sonst etwas, was etwa darauf schließen ließe, daß er dort gesessen und etwas verzehrt hat.

Man kann nicht mal sagen, daß sein altes, sehr klein gewordenes Gesicht – so als ob es von oben nach unten zusammengedrückt worden wäre, sieht es aus, mit dem zerfransten grauen Kinnbärtchen –, besonders enttäuscht ist. Fritz Eisner zieht den Hut. Vielleicht erkennt er mich doch. Ansprechen werd' ich ihn sonst nicht.

»Oh«, sagt der, mit dem etwas gesalbten Ton von ehedem, der aber doch ganz anders ist wieder als der des Pfarrer Moser. »Oh, da sind Sie ja wieder mal, mein junger Freund, aber es ist eine ganze Weile, wohl an die sechs Jahre bald, daß wir uns in diesem absonderlichen Weltgetriebe nicht mehr zwischen die Füße gelaufen sind. Ich glaube, es war an jenem Tage, da mir eine Welt zusammenstürzte und ich nur noch ... sagte ich das Ihnen nicht damals?! ... nur noch eine einzige Träne war. Richtig, am neunten November war es.«

»Aber ich bin erst seit heute früh wieder in Berlin. War die ganzen Jahre kaum nochmal acht Tage hier. Desto netter, daß ich Sie gleich treffe. Wie geht's Ihnen so?« Welche Unverschämtheit von mir, denkt Fritz Eisner, einen Menschen wie den da ausgerechnet heute noch danach zu fragen. Das sieht man doch. Saumiserabel geht's ihm!

»Mir?« sagt der Alte, »mir? Wenn ich von gewissen kleinen Mißhelligkeiten, die das zunehmende Alter und die Ungunst der Zeiten mit sich bringen, absehe, so darf ich nicht klagen; denn es sprechen alle Anzeichen dafür, daß sich allgemach für mich eine Renaissance vorbereitet, während meine Gegner, die das Komplott gegen mich geschmiedet, bald zerschmettert am Boden liegen werden. Sie waren damals auch unter den Vorkämpfern für Dehmel.«

»Das ist lange her, teurer Meister, dreißig Jahre bald.« Jetzt kann ich doch auch mal jemand Meister schimpfen, endlich! Man muß sich rächen, denkt Fritz Eisner.

»Wo ist Richard Dehmel heute?«

»Er ist gestorben, teurer Meister.«

»Nein«, sagt das kleine Kerlchen, und sein Gesicht flammt dabei apostelhaft auf, wie es heißt, »er ist mehr als gestorben, er ist tooot!«

Das letzte Wort schreit er derart, daß sich Fritz Eisner schon überlegt, wie kann ich mich an der nächsten Ecke verabschieden. Wirklich, das kleine sonst so scharmante Männchen ist ziemlich leicht erregbar jetzt. Scheint sich, wie man in Berlin sagt, in einer Art von Jum zu befinden, mit einer übermäßig gesteigerten Nervenschwingungszahl, muß Heroin oder so etwas genommen haben. Man sollte einfach wie mit einem Menschen mit ihm reden, wie mit einem kranken Schimmel: Na wat hatte denn, mein altes Jungchen? Das wäre vielleicht das Richtige in diesem Augenblick. Aber so haben wir beide doch nie gestanden. Sind eben unter sehr anderen Planeten geboren. Er liebt die Dichtung als Dichtung; und ich sie nur als Leben. Eigentlich ist er doch amusisch, denn er glaubt, Leben und Poesie sind zu trennen, befeinden sich statt eins aus dem andern herauszureißen, wie das zum Beispiel Dehmel tat oder auch Liliencron. Aber das sieht er nie ein, der Alte da mit dem Hühnerhals und dem Gummipuppengesicht. Nebenbei ist er erschreckend blaß (oder macht das die Beleuchtung), wie ein Wachsheiliger unter Glas, dem das Licht längst jede Farbe ausgezogen hat. Gott ja, das ist noch immer so. Wenn man ihn hört, hat er erst Goethe auf die Anwendung von Ottaverimen aufmerksam gemacht, und Gerhart Hauptmann belehrt, daß man Manuskripte nur einseitig beschreibt. Seit vierzig Jahren tut er nichts, wie Genies entdecken, und wenn sie es nicht bleiben, nun, so ist es doch nicht seine Schuld.

Herrgott, da war doch mal solch Schuster, solch lyrischer Schuhmacher, dem der Alte volkhafte Dichtung eingeredet hatte. – Adumeit oder wie hieß er, – bei dem wohnte er dann auch. Na hoffentlich kümmert der sich noch um ihn etwas, denn seine Sammetjacke ist ganz abgewetzt und seine Schuhe, wenigstens der linke ... nein, sicher mit solch einem klaffenden Schuh ließ der seinen Meister nicht herumlaufen.

»Sagen Sie mal, teurer Meister, was macht denn eigentlich Ihr Protektionsknabe, der ... hieß er nicht Adumeit?«

Also, das scheint ein Stichwort zu sein, auf das er tobsüchtig wird.

»Sprechen Sie mir nicht von diesem Verbrecher, Freund!« schreit er, daß die Leute sich umsehen. Aber da nur das Wort »Verbrecher« fällt, scheint es sich doch um eine alltägliche Angelegenheit zu handeln – meinen sie – und gehen weiter. »Er ist abtrünnig geworden!«

»Aber was wollen Sie von solch einem Menschen denn verlangen?« meint Fritz Eisner beschwichtigend.

»Er ist unter die Georgianer gegangen!« schreit der Alte. »Ich weiß nichts mehr von ihm und will nichts mehr von ihm wissen. Ich habe ihn wie einen Sohn geliebt. Er sollte mal mein Erbe antreten und verwalten. Wie ein Sohn. Gestern hab ich geweint über ihn. Denn er war ein Talent. Wenn auch nicht ein Genie.«

Der Alte tritt einige Schritte vorwärts gegen das Schaufenster einer Delikatessenhandlung hin, und seine Blicke huschen, ebenso wie sie über die Spalten der Zeitungen zu huschen gewohnt sind, über die Cervelatwürste in Silberpapier, die Rollschinken, die dänischen Eier, die holländische Butter, das Knäckebrot, die Berge von Sardinen, die Rebhühner, die grünen Artischockenberge, die Briekäse und den alten Chester, die Ingwertöpfe ... denn für den Reichen ist ja alles schon wieder da, über die Kugeln von Grapefruit, die gebackenen Schinken in Brotteig, die fetten Kapaune, und über die großen Blattwedel des römischen Salats und über die violetten Eierfrüchte.

»Meine Augen verlassen mich schon«, sagt er, »was steht da dran?« Und er zeigt auf diese dunkel violetten Gurken da.

»Aubergines«, sagt Fritz Eisner, »zweihundert Millionen«.

»So«, sagt er, »richtig, Aubergines. Ich hatte den Namen vergessen. Hier kaufe ich in der letzten Zeit öfter. Aber heute brauch ich nichts mehr. Ich wohne nämlich da drüben gleich an der Ecke. Wenn Sie mal zu mir kommen, zeig ich Ihnen Briefe von Kollegen, die mir voll Dank und Ehrfurcht genaht sind. Briefe, wie Sie sie noch nicht gesehen haben und auch nie mehr sehen werden.«

Richtig, der Alte feuerte doch ewig Briefe in die Welt hinaus an jeden, der irgendwie einen Namen hatte oder bekam. Fritz Eisner will ihm die Hand reichen, aber der Alte übersieht sie. »Ich gehöre nicht zur Gruppe der Händeschüttler«, schreit er, während er sich in Positur wirft. Also was bedeutet das eigentlich wieder? »Wer mich berühren will, der muß schon durch viele Prüfungen und Fegefeuer hindurchgegangen sein, bis er sich dessen würdig erwiesen hat.«

Und dabei lacht der Alte mit dem Wachsgesicht so blinzelnd und drollig, daß Fritz Eisner wirklich nichts ahnen kann. Spielt er nun den Irrsinnigen oder ist er einer? Dann aber dreht er sich kurz um, duckt sich zusammen und rennt, – das ist ganz absonderlich zu sehen, mit angezogenen Ellenbogen schnell in den dunklen Hausgang... Licht brennt da noch nicht drin, und der Türflügel ist weit offen und eingehängt ... hinein. Sehr lustig, solchen alten Mann so sportlich laufen zu sehen.

›Herrgott‹, schießt es Fritz Eisner durch den Kopf, ›man müßte ihm doch jetzt nachrennen und etwas Geld geben. Vielleicht hat er einfach Hunger. Ganz wilden Hunger. Der Mann delirierte doch. Na ja, es wird sich schon jemand seiner annehmen. Das haben doch immer Leute getan. Jedenfalls will ich mal nachgehen. Wenn wenigstens das Haus einen Portier hätte, dann könnte man mal fragen. Der Hof ist stichdunkel, und von oben kommt nur aus der Buntheit der Giebelreklamen etwas Licht herein. Es riecht nach Öl und Benzin und Pissoir, und die Deichsel eines Handwagens stößt Fritz Eisner vor die Schienbeine. Auf vier Seiten gehen Hintertreppen hoch, und dann gibt es überhaupt noch einen Durchgang und wieder ein Hinterhaus. Aber sie sind alle dunkel. Ebenso gut könnte man hier herausbekommen, in welches Loch eine vergiftete Ratte sich geflüchtet hat. Wirklich, ich muß nach Hause. Nuck denkt schon, ich bin unter ein Auto gekommen. Sie hat doch immer so blöde Vorstellungen. Also morgen. Ich werde das schon rauskriegen, wo er hier haust. Außerdem gibt es ja ein Einwohnermeldeamt.

Ach das beste ist, ich nehme ein Taxi, dann bin ich am schnellsten wieder bei Nuck. Ich bin weg. Das Kind ist weg. Und die Wohnung wird ihr heute am ersten Tage, wenn sie an alles denkt, was da passiert ist, auch nicht gerade himmelblau sympathisch sein.

»Taxi! Ps! Autooo, Autooo!« Also hier kann man mehr kriegen, als man bezahlen kann. Da kommen gleich drei angefahren.

Ruth hat es wirklich sehr nett gemacht. Auf Behaglichkeit von 1890. Ja, sie hat sogar den Diplomatenschreibtisch, so hieß es doch stolz, ihres Vaters abgeräumt, und eine zweite neue Birne in die Schreibtischlampe für mich geschraubt, stellt Fritz Eisner fest. Bücher und Manuskripte, soweit sie mitgenommen sind, hat sie sauber hingelegt, und daneben auf einem Tischchen die Schreibmaschine, die hoch wie ein Schiffskran ist, aufgebaut. Jedenfalls heißt das, dieser Mann soll hier nicht sagen, daß er hier nicht arbeiten könnte, und daß ihm irgendetwas fehlt. Sonst pflegt er sich immer auf neue Schreibtische zu stürzen. Ich kenne das von München her. »Im Gegenteil, da unten war doch die Aussicht viel zu schön, um irgendetwas zu tun, und außerdem sagst du doch immer, Jorry, daß der ideale Arbeitsraum eine Gefängniszelle wäre, und daß man deshalb begabte Schriftsteller ab und zu auf ein Jahr wegen irgendwelcher Verbrechen einsperren müßte. Hältst du nicht immer solche Vorträge, Jorry?«

Also Ruth hat es wirklich sehr nett gemacht. So etwas versteht sie. Sie hat sich selbst in ihren roten Kimono gesteckt. Sie hat Stehlampen eingeschaltet mit roten Seidenschirmen. Sie hat den Teetisch gedeckt in einem kleinen Eckchen an der Chaiselongue und zwischen den Polstermöbeln. Hat den Abendbrottisch mit allem Silber decken lassen, das gerade da war.

Ruth weiß natürlich schon, ob und wie Maud zu Bette gekommen ist. Was sie noch gesagt hat. Daß sie Cornflakes mit Sahne gegessen hat und daß sie Lu von selbst Tante tituliert hat. Wann Fritz Eisner weggegangen ist? Sie wollte eben anfangen sich zu ängstigen, wollte es dann aber doch nicht vor dreiviertelacht tun. Sicher hätte er noch jemand von früher getroffen, und jetzt wäre er ja jedenfalls da. Außerdem wären die Lebensmittel, – sie hätte sich das sagen lassen von Käthe, hier durchaus nicht teurer als bei ihnen, und sie hätte eine Quelle schon herausbekommen, wo man Butter im freien Handel pfundweise bekäme. Es wäre natürlich dänische, hieß es. Mit dem Vorsteher vom Wohnungsamt drei hätte sie auch schon telefoniert. Morgen hätte sie eine Privataudienz bei ihm. Und außerdem hätte ihr Lu gesagt, was sie gesprochen hätten. Und sie hätte es geschickt so gemacht, daß vielleicht Paul Gumpert heute abend nochmal anrufen würde. Die Zwangsmieter hätten etwas Miete gebracht. Sie würde morgen davon die Knüppelchen zum Frühstück dann kaufen lassen. Die markenfreie Schrippe kostet zwanzig Millionen, das Brot achtzig Millionen, aber für drei Schrippen wird's langen. Das heißt, wenn morgen früh der Preis nicht wieder höher ist. Von Fränze ist eine Karte an sie gekommen (sie sollte noch sehen, ob sie die Kinderschürzen eingepackt hätte. Sie hat es nebenbei getan, sie sind hier), daß sie schon in diesen Tagen nach Halle ginge, noch vor Semesterbeginn, um ja ein gutes Zimmer zu bekommen. Später bekommt man das so schlecht, schreibt sie. (Was lachst du denn, Jorry?) Und daß sie dann uns sehr bald mal besuchen würde.

Und dann kommt Käthe mit einem Tablett, auf dem ein weißes Spitzendeckchen liegt, und bringt Rührei mit Tomaten und Sardinen und Räuchersachen.

Käthe hat eine Tändelschürze um und sogar ein Häubchen auf und sieht sehr würdig und sittsam aus. Aber sie ist ein Racker und hat es faustdick hinter den Ohren. Doch das sind immer die besten Dienstmädchen.

»Gnädige Frau«, sagt sie im Heraustrendeln, »soll ich nachher wieder ins Kino gehen?«

Ruth lacht. Frauen haben doch eben unter sich mehr Gemeinsames als Männer.

»Nein, Käthe, das würde auf die Dauer doch zu teuer kommen. Aber heute abend können Sie noch gehen, oder gehen Sie nicht lieber ins Theater?«

»Ach Jott, jnädiges Fräulein, Frau Eisner, so war das ja auch wieder nicht gemeint«, denn wie allen einfachen Leuten ist es ihr peinlich, der andere könnte vielleicht glauben, sie ginge krumme Wege, um sich einen Vorteil zu schaffen. Endlich hat man ja auch, selbst wenn man sonst nichts hat, seinen Stolz.

Und dann entwickelt Ruth ihre Zukunftspläne, wie sie sich Berlin erobern will. Vielleicht geht sie auch zur Zeitung noch auf ein paar Jahre zurück. Denn es wäre doch endlos viel zu machen, was verabsäumt wäre. Vielleicht wäre es wirklich richtiger, man triebe in Deutschland nur noch Kulturpolitik.

»Also nu iß mal«, sagt Fritz Eisner. »Du rührst doch überhaupt heute nichts an«.

»Aber ich habe schon vorhin solche Mengen von ...«

»Dein Wort in Gottes Ohr, aber das lügst du in deinen Hals hinein, mein Liebchen. Iß lieber, statt zu lügen. Käthe, hat die gnädige Frau was gegessen?«

»Ich habe nichts gesehen«, meint Käthe, die gerade wieder mit Teewasser kommt, trotzdem Ruth ihr sehr deutlich zublinkt.

Das Telefon, sagt sich Fritz Eisner, ist eine manchmal sympathische Einrichtung. Es klingelt – des öfteren ist das wenigstens beobachtet worden – gerade dann, wenn Gespräche die Tendenz haben, sich unangenehm zuzuspitzen. Und das macht es vielleicht damit wieder wett, daß es sonst zu sehr ungelegenen Zeiten und in die ungelegensten Situationen hineinklingelt. Man kann baden, zu welcher Stunde man will. Immer klingelt, sowie man in der Wanne sitzt, das Telefon. Und es kann sich ein trauliches tête à tête grade anspinnen, schon schrillt das Telefon dazwischen. Und wenn man fertig ist, hat sich die Dame von neuem gepudert und gibt zu erkennen, daß sie sich diese Arbeit nicht gern ein zweitesmal machen möchte.

Aber das war wirklich zur rechten Zeit. Schließlich ißt Ruth gewiß nicht darum so wenig, um mich zu kränken oder aus Narretei, wie das heute Mode ist bei den Damen, die für ihre schlanke Linie leben, – nein, ihr Körper wird es wohl nicht wollen, und braucht fast nichts.

»Ho, Meister Gumpert, ich seh gar nicht ein, warum ich mich nur immer beschimpfen lassen soll, ich schimpf jetzt wieder. Retourkutschen gelten nicht. Also es ist nett, daß Sie mich anrufen ... Wirklich, es hat sich schon herumgesprochen: der Heini von Speyer ist wieder im Land ... Also, Paul Gumpert, alter Knabe, wie geht's? ... Trotz Nackenschlägen ...

Jaja, das Leben ist mau,
Jrüßen Sie Ihre liebe Frau!

Wir müssen uns doch wirklich wieder mal ein bißchen beschnüffeln ... Was macht Joli? Soll so hervorragende Kritiken in Pygmalion gehabt haben ... Das Kind ist sehr niedlich ... Ich bin gar kein verblendeter Vater. Lu wird Ihnen die Geschichte mit dem Liegewagen erzählen. Hat sie schon? Ruth kann Ihnen selber sagen, daß sie immer noch eine strahlende Schönheit ist. Ich sehe gar nicht ein, wozu ich sie noch eitler machen soll.«

(Um Himmelswillen, ich kann doch nicht durchs Telefon nach den geschäftlichen Dingen fragen, und ich kann doch auch wieder gar nicht tun, als ob ich gar nichts davon weiß.)

»Na, mein alter Freund, wie ich höre, soll es da geschäftliche Veränderungen bei Ihnen geben. Hoffentlich doch nur vorübergehend. Das wird sich später wieder regeln. Der Herr verläßt die Seinen nicht.«

(Schade, das neutrale Gebiet, in dem wir uns immer trafen, war Kunst, waren seine Sammlungen. Aber davon kann ich doch jetzt auch nicht reden, wo sie in vierzehn Tagen versteigert werden sollen. Merkwürdig, unsere Gesprächsthemen sind im Augenblick doch ziemlich beschränkt geworden.)

»Wissen Sie was, Paul Gumpert, wir haben eben einen echten garantiert eigenhändig geschmuggelten Holländer Tee zum drittenmal nachgebrüht. Wenn Sie bald kommen, kriegen Sie noch eine Tasse voll. Was mitbringen? Unsinn! Sich und Joli. Sonst nichts. Naja, zu rauchen hab ich nichts Rechtes da. Wagen Sie nicht etwa ohne Joli zu erscheinen ... Also kommen Sie. Nee, kein Lokal. Ich bin die ganze Nacht durch Liegewage ... Sie wissen ja, gekarrt, während Sie selig in Morpheus Armen? ...

Also, Paul Gumpert, ich freu mich doch furchtbar mit Ihnen. Ruth schreit neben mir, daß Sie sich noch umziehen muß, aber sie hat einen so reizenden ochsenblutfarbenen Kimono an mit roten Chrysanthemen, besser kann sie sich gar nicht umziehen. Sie werden keinen Anstoß daran nehmen. Also, Nuck, hörst du, er sagt, daß er sich sogar geehrt fühlt, wenn ihn die Dame des Hauses als Geisha empfängt. So in zwanzig Minuten etwa. Sonst hupen Sie unten. Ich schicke jedenfalls das Mädchen mit den Schlüsseln runter. Also, Paul Gumpert, stellen Sie sich vor, in unserer Jugend- und Sünden-Maienblüte hätte in Berlin ein Portier um acht, oder sogar schon um sieben, das Haus zuzumachen die Frechheit gehabt. Den Kerl hätten wir gelyncht. Ich verstehe die Welt nicht mehr. (Nun ist er schon weg, Ruth.)«

Ruth ist etwas aufgeregt. Sie wäre nicht vorbereitet. Es wäre nicht Staub gewischt. Es wäre nicht ordentlich. Gleich am ersten Abend. Und Käte hätte den ganzen Tag wie ein Pferd gearbeitet. Und sie hätten nichts Rechtes vorzusetzen. Und ihr Kleid, das sie hätte anziehen müssen, wäre noch nicht gebügelt. Und vielleicht wäre es doch richtiger gewesen, wenn ... Jedenfalls ist die Frage nicht ganz gelöst, ob man das Teegeschirr stehen lassen solle, oder ob man es herausnehmen und dann wieder hereinbringen soll. Das wäre doch gesellschaftlich richtiger. Und außerdem wirkungsvoller, wenn ein Mädchen mit weißer Schürze und Haube feierlichen Schrittes ...

Fritz Eisner will noch sagen, daß überall, wo auf Formen gehalten wird, nie ein Mädchen den Tee bringt, sondern immer die Dame des Hauses nach überlieferten Riten und Rezepten auf Holzkohlenfeuer den Tee vor Augen der Gäste selbst bereite, als es schon unten laut Signal gibt, aber diesesmal nur ein langgezogenes Röhren wie ein Septemberhirsch und Fritz Eisner herunterlaufen muß, um aufzumachen, denn Käte ist natürlich beim Umziehen und außerdem in einer so schwierigen Lage durchaus unabkömmlich.

Wirklich, Paul Gumpert hat noch einen sehr schönen Cadillac. Aber jetzt chauffiert er wieder. Hoffentlich landet er nicht mit Joli im Chausseegraben, wie im Weltkrieg mit dem Major und einem gebrochenen Knöchel. Den guten alten Chauffeur hat er vielleicht nicht mehr. Vielleicht hat er ihn gerade heute entlassen. Oder er fährt wohl gerade jetzt M'chen, die in »Rosmersholm« heute ist. Rosmersholm ist ein ernstes Stück hat sie gesagt, und da könnte sie ruhig hingehen. Man kann nicht immer zuhause sitzen. Und ein bißchen Ablenkung könnte sie gut brauchen. Oder etwa nicht?

Ja, Lu hat es schon angedeutet, daß sie geistig der Situation nicht so ganz gewachsen ist, und aus einer Bemerkung von Paul Gumpert vorhin ging etwas Ähnliches hervor. Also was an einem Menschen dran ist, sieht man doch erst, wenn eine Sache schief geht. Da kann man oft nach oben wie nach unten die erstaunlichsten Überraschungen und Enttäuschungen erleben.

Ja, das ist Paul Gumpert. Eigentlich sieht er gar nicht schlecht aus. Nicht gedrückt, nicht versorgt. Aber auch nicht, als ob er sich verstellt und den Heiteren spielt. Früher war er schwarz mit grau, jetzt ist er grau mit schwarz. Wie wir alle jetzt so in den Jahren, denkt Fritz Eisner. Aber da er mehr Glatze hat als Haar, während es bei mir umgekehrt ist, so fällt das nicht so sonderlich auf. Und man merkt es nicht so. Außerdem ist der Sommer gerade vorbei, und er war wohl oft mit seinem Motorboot auf dem Wasser. Da hat er nicht ganz seine städtische Käsefarbe, mit der ihn Fritz Eisner eigentlich in Erinnerung hat. Selbst nicht in der grünlichen Beleuchtung der Straßenlaternen hat er sie.

Wie immer hat er den Kopf schräg und das scheue wie abwartende und sich stets ein wenig entschuldigende Lächeln. Seine Augen sind wirklich gut und freundlich, vielleicht noch mehr, weil sie kurzsichtig sind, und wie er auf Joli, die noch im Wagen Dinge abschließt und Schlüssel abzieht und den Anlasser totstellt, hinübersieht, die stolz und groß in ihrem Fehmantel am Wagen hantiert, da sind diese Augen sogar fast warm und ganz und gar unsentimental. Sagen deutlich: Das andere ist mir ja alles ziemlich wurst, solange du noch bei mir bist und ich dich habe. Vielleicht hätte er ja auch den Wagen selbst geschlossen, aber er hat keine Hand frei. Denn erstens hat er seinen Stock mit dem Silbergriff und der Gummizwinge (doch das stellt Fritz Eisner gleich fest: der von Rosenemil ist pompöser!) und zweitens hat er zwei dickbauchige, eingewickelte Bouteillen wie Wickelkinder im Arm. Und außerdem eine große und breite Düte.

»Sie sollten doch nichts mitbringen!«

»Habe ich auch nicht. Aber ich liebe es, Tee mit Burgunder zu trinken. Und da es nicht sicher ist, ob ich den bei Ihnen bekomme, habe ich mir meinen Burgunder für mich mitgebracht. In so etwas bin ich gern Selbstversorger, edler Meister. Sie werden sich aber noch mit mir nachher verhalten, denn ich kenne doch Ihre Vorliebe für einen reifen Volnay.«

Und auch Joli – Fritz Eisner hat sie eigentlich über zwei, bald drei Jahre nicht gesehen – sieht prachtvoll aus. Blauschwarz und glatt unter einer Silberkappe das Haar. Und dazu die schweren Mandelaugen, die noch größer erscheinen als sonst und ähnlich wie bei Ruth bläulich im Weiß sind. Üppig und brünett und gesund und gepflegt sieht sie aus, und viel frauenhafter doch als damals in München, als Maud geboren wurde. Damals wünschte sie etwas vorzustellen, heute hat sie eben gespielt, hat schon große Rollen bekommen, und das gibt ihr eine ganz andere noch viel selbstverständlichere Haltung als ehedem. Wirklich, ein ungewöhnlicher Mensch an Schönheit der großen und stolzen Formen. Stolz und groß, ohne dabei übergroß zu sein. Aber vor zweitausendvierhundert Jahren hätte sie sicher einem Phidias Modell gestanden, denkt Fritz Eisner. Ja, so etwas kann man schon verstehen! Und klug ist sie ja, sehr differenziert-klug dabei, und doch keine harte Judith. Eher weich und von einer Weichheit ... Halt, jetzt hab ich es. Sie hat etwas von einer ganz großen dunkelvioletten Iris, keine Lilie, die glatt und schön ihre Blütenblätter öffnet, aber simpel dabei und offen wie ein Stern ist, sondern von einer Schwertlilie hat sie etwas, die immer halbverschlossen Blüte und Knospe scheinbar zugleich ist, und exotisch tief und absonderlich in der Farbe ist, und die immer etwas vom Tier hat, genau wie eine Orchidee. Sie kann das große Glück für einen Mann sein, den sie liebt, und eine tiefe Qual für den, den sie nicht liebt, aber der sie liebt.

»Oh Meister«, sagt Paul Gumpert und zeigt auf das Blümchen, das ihm Lu wieder angesteckt hat, »ich sehe, der Klub der violetten Aster besteht immer noch. Sie haben mich mal feierlich zum Ehrenmitglied ...«

»Simples Mitglied«, ruft Fritz Eisner.

»Gemacht, und ich hab es damals nicht ganz begriffen, was dieser Herbst- und Alte Herrenorden eigentlich soll. Heute verstehe ich es schon eher.«

»Haben Sie schon einen Fahrstuhl gesehen, der jetzt in einem Mietshaus fährt, oder eine Treppenbeleuchtung, die nicht, wenn man auf der ersten Etage ist, wieder ausgeht.«

Aber schon hat Ruth, die an der Tür wartet, wieder den Knopf, den die drei sicher nie gefunden hätten, eingedrückt, und das Treppenhaus verbirgt im strahlenden Licht nicht eine seiner Scheußlichkeiten. Das heißt, das ist übertrieben. Die Glasfenster, Bismarck als Schmied und ein Teich mit Seerosen und die Wartburg sieht man so nicht. Die sieht man dann jetzt nur von draußen, Gottlob!

Joli und Ruth stürzen sich fast in die Arme. Frauen sind gleich viel vertrauter und außerdem spielen die hier gern die Schwestern und mögen sich wirklich, duzen sich und nennen sich bei Vornamen. Eisner kennt Gumpert über zehnmal so lange, aber sie siezen sich noch wie beim ersten Tag. Männer sind immer reservierter. Joli ist neidisch auf Ruths roten Kimono, denn solch einen kriegt man hier nicht; und Ruth auf Jolis Fehmantel, denn er liegt über ihren Grenzen. Und, wenn sie sich hier doch mal die Haare abschneiden läßt (in Berlin ist das nötig!), da braucht man das, so nur in dieser Art. Denn da es Joli steht, muß es ihr doch auch stehen.

Ja, und dann sitzen sie in der Ecke um den niedrigen runden Teetisch. Ruth ist wieder in ihrer Lieblingsstellung, halb sitzend, halb liegend wie auf einer etruskischen Grabkiste. Und Joli hat sich vor der Chaiselongue ein paar bunte Kissen übereinandergerollt, sich mit weit von sich gestreckten Beinen in mattgrauen Seidenstrümpfen und schwarzgetupften Schlangenhautschuhen darauf gesetzt, lehnt den Rücken gegen den herabwallenden Kelim und lehnt das Haupt, den Blick halb nach oben gerichtet, gegen Ruths Schoß. Sie hat ein graublaues Seidenkleid mit einem geflochtenen Silbergürtel zu dem russischen Silberschmuck angezogen. Sie weiß sich abzustimmen. Wirklich, das weiß sie.

Joli ist so verträumt, denkt Fritz Eisner, und hat so ein merkwürdiges Anschmiegungsbedürfnis und ist sehr weich. Das war sie ehedem nicht. Eher doch ein schwarzer stolzer Panther aus dem gleichen Wurf wie Ruth, der sehr leicht und gern auch mal mit der Pranke zuschlug, ehe man es ahnte.

Er und Paul Gumpert haben sich – vielleicht als ob sie solche Prankenhiebe fürchteten – in respektvoller Entfernung, je in eines der niedrigen Fauteuils hingeflezt, sitzen ganz tief darin, die Arme auf den Lehnen und strecken die Beine von sich und rauchen Zigarren – von Paul Gumperts Importen. So etwas läßt das Herz jedes Mannes höher schlagen und ist sehr dazu angetan, ihn mit dem Weltganzen, wenigstens solange er dem blauen Rauch nachsieht, und den grauen Rauch langsam und behaglich ausstößt ... auszusöhnen.

Überhaupt hat Ruth alles auf Stimmung gestellt. Paul Gumpert soll sich erst mal wohlfühlen hier, sehen, daß das Leben sehr nett ist, ehe man dann über ernstere Dinge redet. Oben an der Prismenkrone ist das Licht ausgeschaltet, und nur die Lampen auf der Marmorkonsole dämmern vor sich hin.

»Ich halte es mit der Göttin Hammonia«, sagt Paul Gumpert und zitiert einen halben Gesang aus »Deutschland ein Wintermärchen«. (Also – in Heine ist er ja nicht zu schlagen, was das Auswendigkönnen betrifft) bis er damit schließt. »Sie selber aber hat den Rum ganz ohne Tee genossen (jeder andere hätte sich mit diesem Zitat allein begnügt), aber ich ziehe Burgunder dem Rum vor«, meint er dann.

»Ja«, sagt Fritz Eisner, »ich habe es immer bedauert, nicht genug von der Sprache des Erbfeindes gelernt zu haben, um Gedichte auf Volnay, Macon, Nuits und Beaune und wie sie alle heißen, machen zu können.«

»Ja, wenn ich erst meinen Spardiktator habe, ist das aus«, sagt Paul Gumpert und lacht. »A propos, ich habe doch mal, als Hannchen damals wegen der Lunge in die Schweiz mußte, Ihrer verflossenen Frau Schwiegermutter eine kleine Hypothek auf ihr Haus gegeben, um es zu ermöglichen. Auf Zinsen hatt ich dann verzichtet. Ich habe auch nie damit gerechnet, daß ich davon etwas wiedersehen würde. Aber die Dame ist großzügig. Sie hat sich gesagt, ich muß den armen Paul Gumpert jetzt unterstützen und hat mir vor kurzem die ganze Hypothek sogar ausgezahlt. Den nächsten Tag hat es Semmelklöße davon bei uns gegeben.«

Also dieser Volnay ist doch, als ob man Sonne trinkt, und er macht einen so behaglich. Alles sieht so weit weg und so freundlich aus. Dieser Paul Gumpert ist eine Seele. Und diese Joli da ist doch ein entzückendes Geschöpf.

»Sagen Sie mal, was ist mit Lu eigentlich, Paul Gumpert?« fragt Fritz Eisner.

Paul Gumpert zuckt die Achseln und hebt langsam das Glas. »Sie soll hochleben«, sagt er. Wirklich, es ist schwer, ein vernünftiges Wort aus ihm herauszubekommen. »Ich hab es mir abgewöhnt, über Menschen nach ihrem Sexualleben ein Urteil zu fällen.«

Also, sagt sich Fritz Eisner, bisher ist es noch zu früh, um darüber zu sprechen. »Also, was macht denn unser reicher Münchner Freund Landshoff? Er muß doch richtig mit dem Herzen links sein, denn dem Portemonnaie nach braucht er's wirklich nicht zu sein.«

»Die Hand ist natürlich steif geblieben. Im Gelenk sind da zuviel Knöchelchen. Es war ein ganz böser Gelenkschuß, den sie ihm damals in München doch reingeballert hatten. Rausgekommen ist natürlich nie was.«

»Und haben Sie eigentlich etwas von Johannes Hansen wieder gehört? Den hab ich auch das letztemal am 9. November gesehen. Da spielte er auf einem Lastauto den Mirabeau in Feldgrau. Dabei war er doch den ganzen Krieg über in der Klappskiste gewesen. Merkwürdig ... daß solche Revolution sofort soviele Psychopathen nach oben treibt. Das war in Rußland doch nicht so. Da waren das sehr zielbewußte Leute und bei uns war es ein Rendez-vous der Fantasten.«

»Ja, das kann ich Ihnen sogar genau sagen. Johannes Hansen hatte einen sehr guten Posten als Prokurist bei der Konkurrenz, denn er war doch immer solch eine industrialisierte Minderbegabung (eine böse Schnauze, denkt Fritz Eisner, hat dieser Gumpert bekommen) und da hat er ein Verhältnis mit der Frau seines Chefs angefangen und da hat der ihn rausgeworfen. Ich kenne die Frau. Ich finde, er hätte eine Zulage verdient.«

Solche Bemerkung liegt doch sonst nicht auf der Linie von Paul Gumpert. Bei Gott nicht, denkt Fritz Eisner.

»Vielleicht schreib ich mal etwas über die Frau als Schriftstellerin«, kommt es halblaut von der Chaiselongue. »Ich finde, Joli, darüber gibt es noch nichts, und sie sind doch eben anders. Nicht die Nullen. Die tun so, als ob sie Männer wären. Aber gerade die Großen, wie Ricarda Huch, die Lagerlöf, sind doch eben ganz Frauen. Hast du nebenbei ›Die treue Nymphe‹ mal gelesen, Joli? Ganz neu. Solltest du.«

»Aber jetzt«, sagt Paul Gumpert, »hat er eine reiche Witwe geheiratet und ist bei ihr zu Mann, wie man in einem guten Haus zu Gast ist. Das also ist Johannes Hansen.«

Die beiden auf dem Sofa haben herausgefunden, daß sie überhaupt als Kinder auf einem Spielplatz am Goldfischteich gespielt haben und bei der Flora. Joli erinnert sich ganz deutlich an Ruth (und sie muß sich ja auch an das schwarze Kind mit der Mademoiselle erinnern). Vor allem an ihren Bernhardiner, der gut war, aber man fürchtete sich doch vor ihm. Und sie erinnert sich auch, wie sie damals krank wurde, und es hieß, sie wäre tot. Und Ruth weiß wieder Dinge von Joli zu erzählen, die nicht sehr fein sind. Aber das machen so Kinder. – Und so haben sie noch einen Grund mehr, sich zu duzen.

»Ach Gott«, sagt Fritz Eisner, »ehe ich es vergesse. Erinnern Sie sich, Gumpert, an den Alten mit der Sammetjacke. Also 'ne Sammetweste hat er auch immer gehabt. Damals bei dem Budikenfest bei mir präsidierte er sogar die Literatur.«

»Ach ja, nun weiß ich. Der andere Volnay ist nebenbei noch besser. Eben nicht der gleiche Jahrgang. Das schmeckt man sofort.«

»Dem geht's nebenbei hundsjämmerlich. Da muß irgendwas geschehen. Also, wenn die Damen gar nicht trinken, werden wir uns noch einen ankümmeln, Paulemann!«

»Ach ja, der ... Dichter! Nun weiß ich.«

»Aber was wollen Sie denn, Gumpert? Dichter ist doch 'ne Verbalinjurie. In Deutschland besteht doch das Gros der Dichter aus unglücklichen Menschen, die sich nicht ernähren können. Und die meisten alten Dichter nun erst! Vielleicht ist der Alte auch gar kein Dichter. Aber er war es doch mal vor Urzeiten. Er galt wenigstens dafür. Ich kenne kaum noch was von ihm. Wir sind heute alle das, was wir nicht mehr sind.«

»Na ja«, meint Paul Gumpert, »er müßte also dann, wie ich, saniert werden. Aber so etwas dauert, wie Doktor Groß sagt, Monate ... Mo – na – te!«

»Also, Sie machen ihn wirklich vorzüglich nach«, sagt Fritz Eisner.

»Sie ist wie das Sofa war in der guten Stube ihrer Eltern«, sagt Joli, »und das war mit rotem Plüsch, sprich: Peluche, bezogen (jetzt sind sie wieder etwas lauter. Bisher haben sie leiser gesprochen). Ihre Seele ist auch immer noch mit rotem Plüsch überzogen, aber der ist schon sehr abgewetzt. Bei uns gabs keine roten Plüschsofas!« Jetzt sprechen sie von M'chen, denkt Fritz Eisner. »Und sie redet so laut, daß man Ohren- und so dumm, daß man davon Gehirnschmerzen kriegt. Wir sehen uns ja manchmal sogar.«

»Haben Sie eigentlich schon eine neue Wohnung oder werden Sie in der Rauchstraße bleiben?« Endlich müssen wir doch mal auf das Thema kommen, denkt Fritz Eisner.

»Wir sind nicht mal mehr Erben«, sagt Ruth drüben. »Vielleicht ist das ganz gut, da kann man wenigstens von neuem anfangen.«

»Ach ich finde schon was. Ich glaube sogar, M'chen hat eine sehr nette Fünfzimmerwohnung schon in Aussicht«, sagt Paul Gumpert so leichthin, streckt sich noch mehr und bläst den Rauch seiner Zigarre in die Luft. »Diese Importen hier sind doch kräftig und leicht zugleich. Ich mach gewiß keine Ansprüche. Mir ist das egal. Ich kann auch heute wie ein Chambregarnist leben, wenn es sein müßte, aber es muß ja wohl nicht sein.« (Halt, der Ton stimmt nicht, denkt Fritz Eisner, und der Blick von Joli war auch nicht für ihn bestimmt. Was ist das?)

Plötzlich beginnt Paul Gumpert herzlich zu lachen. Also kindisch vergnügt ist er. »Meine Zwangsmieter sind die unglücklichsten bei der Sache. Sie wissen nicht, ob sie nochmal eine Wohnung, und zwar gleich eine möblierte (es waren die alten Fremdenzimmer im zweiten Stock) zu den gleichen Bedingungen bekommen werden. Seit dreiundeinhalb Jahren haben sie nämlich nicht einen Groschen Miete bezahlt.«

Joli winkt heimlich Fritz Eisner zu. »Nur schnell Thema wechseln«, heißt das.

»Ich finde also die zweite Flasche ganz hervorragend. Ich trinke gern mit Frauen Wein. Die trinken meist so wenig. Mit Männern tu ich's schon weniger gern, Paul Gumpert. Die trinken so viel. Haben Sie was Nettes gelesen? Ich bekomme alles Neue jetzt. Sie können sich bei mir dann nachabonnieren.«

»C'est une idee«, sagt Paul Gumpert, »ich habe bald 'ne Menge freie Zeit. Die Leute sagen immer, Zeit ist Geld. Im Gegenteil, je mehr Geld ich hatte, desto weniger Zeit hatte ich. Und jetzt, wo ich bald keins mehr haben werde, habe ich soviel Zeit wie ich will.«

»Sagen Sie mal« (man muß doch nun langsam auf den besagten Hammel kommen) »sagen Sie, Gumpert, ob die Mark immer noch weiter fällt? Wo soll das hingehen? Was wird denn sein, wenn wir jetzt 'ne feste Währung kriegen? Da redet man doch von.«

»Das will ich Ihnen sagen. Wir werden sofort 'ne große Arbeitslosigkeit kriegen, denn wir leben doch nur davon, daß wir unterbieten können und den Arbeiter mit wertlosen Papierstücken bezahlen.«

Ruth mischt sich vom Sofa aus rein. Sonst sind die Männer und Frauen bisher ganz unter sich geblieben. Ja, wenn es Champagner gegeben hätte, ja, selbst nur einen guten Weißwein, so wäre das Gespräch nicht getrennt geblieben, aber so ein alter Volnay ist nun mal 'ne Männersache und löst auch mehr die Zunge für Männerreden als für Flirten. Er macht weder verliebt, noch lustig, er macht nur behaglich und beschwingt.

»Wir leben immer noch in der Ritterzeit. Das Raubrittertum blüht herrlicher denn je, wenigstens auf kaltem Wege. Kriege werden einmal ganz unmodern werden. Man kann einen Menschen auf tausend andere Weisen totschlagen: durch Arbeitslosigkeit, durch Inflation, man kann, wie unsere Industrie das tut, mit ihren Aktien immer wieder von neuem so alle zwei Jahre oder zehn Monate den Karpfenteich abfischen.«

Paul Gumpert bekommt wieder einen roten Kopf. »Ja, liebes Fräulein«, sagt er, »und man kann einen honorigen Kaufmann sogar bis aufs Hemd ausplündern.«

Aber Joli liebt es nicht, daß ihr Paul in Rage kommt. Er soll es nett haben. Jetzt hat er sowieso seinen Kopf so voll.

»Denk mal, Ruth«, sagt sie sehr laut, »da ist er doch vierundfünfzig geworden. Vierundfünfzig Lichte waren mir zu teuer und da hab ich ihm 'ne Sandtorte gebacken und hab sechs Lichte reingesteckt und auf ein Pappschildchen ›Multiplikator neun‹ geschrieben und das vorgelegt. Hat sich aber mein Paulemann da amüsiert!«

»Rosmersholm, das war doch 'ne schöne Rolle für Sie, die Rebekka West, Joli.«

Kann man denn das Gespräch gar nicht in eine andere Richtung bringen?

»Nee nee, liegt mir nicht, Meister, zu hart und zu spröde, aber in einer Art ...« Warum wird sie eigentlich so nachdenklich, aber so reden doch Schauspielerinnen oft. »In einer Art könnt' sie mir doch liegen. Aber die Hedda Gabler möcht ich spielen, so mit Weinlaub im Haar.«

»Die stell ich mir gerade rot vor eigentlich, eine richtige Löwin.«

»Nein, man kann sie auch schwarz spielen. Wild, aber unhysterisch. Das liegt mir besser. Meister, Sie müssen mich mal sehen. Warum soll ich immer nur Ihre Bücher lesen? – Da hält Paul drauf. Aber augenblicklich hab ich doch mal wieder nichts zu spielen. Ich bin nicht leicht zu beschäftigen.«

»Wir sind alle Schauspieler unser Lebelang«, sagt Paul Gumpert, »aber zumeist doch ohne Engagement.« (Donnerwetter, sagt sich Fritz Eisner, da schwirrt doch wieder der gleiche Ton wie vorhin auf.)

Aber die beiden auf dem Sofa sind schon wieder bei ihren Dingen.

»So lange Zeit seid Ihr also schon auf Raten verheiratet, Joli?«

»Ja, am fünfzehnten haben wir doch Hubertusburger Frieden.«

Joli gähnt auffallend, aber verstohlen. Das heißt, sie spielt das sehr geschickt. Eigentlich ist sie gar nicht müde. ›Ich möchte gehen‹, heißt das, ›was tun wir eigentlich hier noch? Komm, wir wollen wieder allein sein‹.

»Ich bin der Kapitän eines untergehenden Schiffes«, sagt Paul Gumpert.

»Ach Unsinn!« ruft Fritz Eisner, »das kann jeder sagen. Man wird es doch, so weit ich hörte, erst mal ein bißchen ins Trockendock ziehen und dann wieder flott machen.«

»Mo – na – te!« sagt Paul Gumpert, »also gießen Sie sich ein. Noch eine Stunde, dann ist es Nacht, trink, bis die Seele überläuft!«

(Dehmel lebt doch noch, denkt Fritz Eisner.)

»Die Zeit geht auch vorbei«, sagt er, »nachher werden Sie wieder Kapitän sein«.

»Aber nicht mehr auf meinem Schiff, Fritz Eisner.«

»Denken Sie, wir hätten sozialisiert, und Sie wären jetzt Direktor in Ihrem Geschäft.«

»Dann wäre es etwas anderes, Fritz Eisner. Schenken Sie sich doch den Rest ruhig noch ein.«

»Aber ich begreife Sie nicht, alter Junge, wozu haben Sie den Machtfimmel?«

»Ach Gott, ich habe ihn ja nicht.«

»Wozu wollen Sie Ihr Lebtag den Napoleon in bedrucktem Kattun spielen? Mehr als ein Beefsteak konnte Napoleon auch nicht essen. Er hat nie in zwei Betten zugleich geschlafen, war nicht gesünder als andere. Eher weniger gesund. Nur vielleicht mächtiger war er. Ein Mensch wie Sie, der so genau weiß, was gut ist im Leben (das ist ein Kompliment, Joli, und auch ein Kompliment für seine Bilder), sollte an solchen Dingen nicht hängen, Paul Gumpert.«

»Ach Gott, Meister, denken Sie, daran liegt mir was? Ich würde es morgen aufgeben, auch wenn ich es nicht müßte. Und ich könnte ja jetzt ruhig bei meiner Frau weiterleben« (die Gruppe von Ruth und Joli, sie sind nebenbei sehr im Erzählen, sie hören gar nicht auf uns, was wir da sagen, sieht doch in den Farben sehr gut' aus mit dem Rot und dem Silbergrau und famos im Aufbau). »M'chen hat alles behalten, und wir sind ja immer für andere Leute klüger als für uns selbst. Und sie hat es sogar wertbeständig behalten. Gott sei dank, daß damals schon, als wir heirateten, weil sie mir mit Recht mißtrauten, meine lieben und seligen Herren Schwiegereltern darauf bestanden haben ... Sie haben wohl weiter gesehen, als wir alle schon. Aber ich heiße doch nicht Johannes Hansen, der bei einer Frau zu Mann lebt!!!«

»Aber das ist doch Unsinn

»Ich lebe nicht gern als Alterspensionär, nicht wahr, Sie etwa, Meister?«

»Erstens, wenn es so wäre, wieviel Jahre hat M'chen aus Ihrer Tasche gelebt, ohne auch nur ihr Vermögen anzutasten? Aber weiter, aber weiter, Sie sollen doch, wie ich hörte, wieder rangiert werden, und der Doktor Groß ist doch immer noch sehr kapitalkräftig.« (Also wie schön ich das kaufmännisch sage. Wirklich, ich muß mich selbst loben, denkt Fritz Eisner.)

» Reich?! – Einfach gar nicht zum Ausdenken. Blödsinnig. Bejütert! So etwas gabs zu unseren Zeiten kaum. Man nennt so etwas horizontale Gliederung. Wundervoll!! Aber natürlich wird es mal genau so zusammenbrechen wie ich. Eben, weil alle diese Seifenblasen mal platzen müssen. Aber dran kommt er auch, der Doktor Groß. Wie wir alle. Nicht, weil er schlechter ist, oder ungeschickter. Er ist nicht mal unsolide mehr. Er spielt jetzt sogar den Königlichen Kaufmann, – es ist nur unser Fehler, daß wir ihn von seinen Anfängen her kennen, – sondern er wird dran kommen, weil einfach alles dran kommen muß und wird. Unsere Banken so gut wie unsere Textilindustrie, Leder, Schwerindustrie, Schiffahrt, einfach alles, und der Staat erst recht.

Wir bilden uns nämlich immer noch in Europa ein, und die drüben in Amerika erst recht, irgend jemand in der Welt hätte diesen Krieg gewonnen, und wir wären alle dadurch reicher geworden, daß wir dreihundert Milliarden Reichsmark und noch mehr in die Luft gepufft haben, und vor allem: wir hätten dadurch mehr Käufer bekommen für unsere Lebensmittel und für unsere Waren, daß neunundneunzig Prozent aller Menschen auf der Welt eigentlich nicht wissen, wovon sie morgen ihr Mittagessen bezahlen sollen. Lieber Meister, dagegen hilft keine horizontale Gliederung und keine noch so raffinierte Organisation. Solange die heutigen Staaten die Abteilungen eines Warenhauses sind, die gegeneinander arbeiten, müssen wir zwangsläufig bankrott gehen. Nicht nur Gumpert & Mühsam. Das ist der Grund, weswegen ich auch nicht mehr gern Kapitän eines im Trockendock auf neu lackierten Schiffes werden möchte.«

»Aber irgendetwas werden Sie doch wieder finden, Paul Gumpert.« (Eigentlich hat der Junge doch verdammt recht.)

»Gewiß, ich denke schon«, meint Paul Gumpert. »Kommen Sie, nehmen Sie noch eine Zigarre. Nicht die dunkle. Nehmen Sie lieber die helle. In unsern Jahren müssen wir schon auf unser Herz, es ist ja sowieso genug strapaziert – Joliviehchen, mein geliebter Leonberger, mein schwarzer, also ich rede ja nicht mehr. Ganz still bin ich schon, Joli – doch etwas achtgeben. Ach Gott, Liebling, ich jammere ja gar nicht. Wirklich nicht. Ich lese jetzt nur manchmal wieder in Nietzsche. Das hab ich getan, als ich dreiundachtzig Mark damals im Monat hatte. Seitdem nicht mehr. Und eines der Lieblingsworte von Nietzsche ist: Was ist daran gelegen?! – Was ist heute noch an uns gelegen?! Wir sind eine absterbende Generation in einer sterbenden Zeit. Aber wir haben doch mal gelebt. Auch wenn die in zehn Jahren es kaum noch wissen werden. Aber die Jungen, so die Menschen in Eurem Alter da drüben, die tun mir leid. Und die dann kommen werden, tun mir noch mehr leid. Auch wenn sie es nie wissen sollten, daß das Leben auch anders sein kann. Früher war man faul oder fleißig zum mindesten. Man hatte Glück oder Unglück. Zum mindesten aber hinderte einen nicht der Staat daran, etwas zu werden, und etwas zu schaffen und sich aufzubauen. Mich hat er nicht behindert.

Jedenfalls, Meister, seien Sie froh, daß Sie mir die Madonna di casa Eisnerio damals nicht verkümmelt haben. Das Geld wäre längst in die Luft gegangen und die Madonna würde in vierzehn Tagen, fünfhundert Dollar zum Ersten! mitversteigert werden und endgültig wegschwimmen. Die Amerikaner haben schon große Gebote gemacht: Havemeyer kommt selbst. Oder so'n großer Knabe. Und so werden noch Ihre Enkel daran Freude haben, und darauf kommt es doch zum Schluß an, Meister.«

»Aber müssen Sie sich denn eigentlich von Ihren Sammlungen trennen?«

»Das kommt auf die Auffassung an, die man von der kaufmännischen Ehre hat.«

»Und hat es einen Sinn, eine andere Auffassung zu haben als seine Zeit?«

»Also, Meister«, ruft Paul Gumpert und klopft von seinem Fauteuil zum andern herüber Fritz Eisner auf die Schulter, »ich habe ein langes Leben ohne Tiepolo gelebt und ohne meine Primitiven und kann es auch weiter tun. Wie sagten Sie immer: Die Hauptsache an der Kunst ist nicht ihr Besitz, und noch weniger ihr Besitzer, sondern ganz dumm und simpel ihr Vorhandensein. Immerhin, wie meint Heine? (Er hat doch immer noch den Heinefimmel, denkt Fritz Eisner) ›Der Dichter gewöhnt sich nun mal an sein Publikum, als wär es ein vernünftig Wesen ... und im Jenseits finden wir eben doch unsere Seehunde wieder‹.«

»Aber ich möchte sehr gern die Bilder nochmal zusammen sehen. Wollen wir uns – kann ich mit Ruth kommen, sie kennt sie doch kaum, die meisten doch nur in Fotos – wollen wir uns morgen bei Ihnen ...?«

»Nein«, unterbricht Paul Gumpert und schüttelt den Kopf, »wissen Sie, ich hab mich von den Herrschaften schon feierlich verabschiedet. Aber gehen Sie hin, Meister, ich geb Ihnen meine Karte. Da führt Sie der Diener. Oder M'chen freut sich sicher mit Ihnen.«

Unangenehm, denkt Fritz Eisner, wollte doch nur mal rauskriegen, woran er besonders hängt. Vielleicht könnte ihm Lu oder Groß oder Landshoff ein paar kleinere Stücke doch wieder zurückkaufen. Sollen sie ihm lassen (das scheint es doch zu sein!) und sie sich später mal nach seinem Tod wiedernehmen. Das Besitzrecht können sie sich ja daran sichern. Schade – ich hätte ihn zu gern dahin gelotst.

»Ach kommen Sie doch hin. Brauchen ja nicht mit nach oben in die Galerie zu gehen, Meister. Aber es ist doch unhöflich für einen Mann mit guten Manieren wie Sie, wenn man ihn besuchen will, daß er nicht da ist.« (Paul Gumpert zögert.) Also das scheint mir schon der Haken zu sein, denkt Fritz Eisner. Das andere ist nicht ernst zu nehmen. Da ist er auch zu klug dazu. Aber bei seinen Bildern, da ist irgendwas, was ihn ins Herz trifft.

»Na schön, Meister, wenn ich es einrichten kann, bin ich morgen um drei da. Aber nun rauchen Sie mal zur Abwechslung hier 'ne Queen. Die hab ich für Joli und die Damen immer bei mir. Und wer jetzt noch ein ernstes Wort redet, dem haue ich also eine hinter die – Joli, komm her, Negersklavin, kraule mich – ich spiele jetzt immer Nickelmann und Rautendelein mit ihr ...« und Paul Gumpert quäkt genau wie der arme Müller bei der Première in der »Versunkenen Glocke« damals noch unter Brahm. »Ob ich morgen kann, weiß ich doch nicht sicher. Aber zusammen sein mit Ihnen, Meister, muß ich nächstdem. Ich lade Sie nebenbei feierlichst ein. Sie und Nuck, verzeihen Sie die plumpe Vertraulichkeit. Wo wollen wir uns treffen? Die Woche kann ich schlecht, aber Anfang nächster Woche. Pelzer, Hiller, Esplanade oder Horcher? Horcher ist nett. Und da sind immer so allerhand Diplomaten und Attachés. Und bei Horcher haben Joli und ich sogar Protektion durch Herrn Horcher höchstselbst. Aber das hat verdammt lange gedauert, bis wir die gekriegt haben. Da haben wir eine Menge Filets mit Ananasscheiben essen müssen, bis das überhaupt so weit war. – Kinder, kennt ihr nicht Horcher? Also, das ist das Richtige für euch. Man sitzt wie zuhause und ißt wie in Paris.«

»Lieber Freund, das ist eigentlich gegen meinen Wahlspruch; ich wünsche nicht, gelabt zu werden. Aber dieser Horcher, ich kenne ihn zwar nicht, Paulemann, – verzeihen Sie, das ist Jolis Vorrecht – aber dieser Horcher, wie Sie ihn mir da schildern – er wird jedenfalls nie an der Wand seine eigene Schande hören.«

»Wegen dieses Witzes, Jorry, (Paul Gumpert hat doch eine sehr nette Art, sich für sowas zu rächen) bin ich bei Horcher schon fünfmal herausgeworfen worden. Ich hätte schon von Ihnen erwartet, daß Sie sich geistig etwas mehr in Unkosten stürzen.«

»Ach bleib doch noch, Joli«, sagt Ruth, »es kommt gleich ein Bohnenkaffee«.

»Gibts auch andern? Ach richtig (schon ist Paul Gumpert wieder bei Heine) wirklich, schöne Frau – richtig, ›er hat als echter Patriot nur Eichelkaffee getrunken, Franzosen fraß er und Limburger Käs ...‹«

»Paulemann, wir wollen uns die Fortsetzung schenken«, ruft Joli, und legt ihm die lange beringte Hand quer über den Mund, aber doch vielleicht mehr, damit er sie küßt.

Aber dann stellt sich heraus, daß Joli eine siamesische Katze hat, die Styx heißt, die muß Ruth sehen. Ein Fell, beigefarben wie eine Zwergantilope und grünliche Augen wie Malachitkugeln, ganz groß.

Fritz Eisner aber langweilt Paul Gumpert mit Geschichten von Eminé. Dabei hat der doch gar keine Rasse, nur Herz, sehr viel Herz.

»Also«, ruft Ruth dazwischen, »wir haben ihn ganz klein bekommen. Ich mach das nie wieder. Ich habe gedacht, ich wohne in Finnland.«

»Finnland?« meint Paul Gumpert, »warum Finnland?« Plötzlich lacht er auf. »Ach soo, das Land der tausend Seen!«

Paul Gumpert beginnt, die Mokkatasse in der Hand, zu philosophieren. »Wie seltsam«, sagt er und streichelt Jolis Arm, die ihre Kissen jetzt herumgerückt hat, so daß sie mehr zu ihm gewandt ist. Sie sagt, sie ist so dem Tischchen näher. Aber vorher war es genau so weit. »Wie seltsam, daß man eigentlich gerade in diese kurze Bewußtseinsspanne dieser Erde gekommen ist. Das Leben ist sehr alt auf der Erde.«

»Dreihundert Millionen Jahre«, ruft Fritz Eisner, »in so etwas verlaß ich mich auf Fränze, die hat's nachgerechnet. Es kann schlimmstenfalls um drei Wochen nicht stimmen.«

»Aber das Bewußtsein der Erde ist doch sehr jung. Erst mit dem Menschen, vielleicht seit zehn- oder siebentausend Jahren da taucht es auf. Ich meine das Bewußtsein der Erde, sein Hirn, das nachdenkt über sie und ihr Vorhandensein: Das Wissen und die Deutung davon. Der Feuerländer und der Botokude hat's noch nicht, wenn er auch vielleicht für seinen Lebenskampf zwanzigmal so gut ausgerüstet ist wie wir. Dieses Bewußtsein, dieses Hirn ist doch höchstens siebentausend Jahre alt. Und gerade in diese kurze Spanne der Selbsterkenntnis dieser Erde ist man nun gekommen. Einmalig. Von den dreihundert Millionen Jahren hat man sich diese ausgesucht, und zwar als Hirn dieser Erde. Ist das nicht sehr seltsam, Joli? – Wie ich jung war, habe ich nie an mir gezweifelt. Aber jetzt, da ich älter werde, habe ich oft mich des eigentümlichen Gefühls, – ich sprach dir doch davon, Joli – und gerade in letzter Zeit, nicht erwehren können, als lebte ich vielleicht in diesem Augenblick zehn Leben an zehn verschiedenen Stellen der Erde zugleich.«

Ruth hört sehr aufmerksam zu.

»Rudere zugleich braun und salzbekrustet vor einem Korallenriff der Südsee ... hocke in einen braunen Burnus gewickelt, von Lepra zerfressen, wimmernd als Bettler an einer Straßenecke in Zeuta, bin ein flutender Tang in den Fischgründen bei Island und zugleich wieder eine Eidechse an einer besonnten Mauer eines Weinbergs in Bozen. Früher war ich nur ich. Das genügte mir. Ich habe auch nie darüber nachgedacht, wie mein Leben anders hätte verlaufen können, und wie ich es mir aussuchen würde, wenn ich noch einmal wiederkäme. Heute denke ich oft daran. – Also man soll nicht zuviel trinken. Man kommt ins Quatschen.« (›Dabei hat er doch sicher einen ganz klaren Kopf‹, denkt Fritz Eisner. ›Er will sich nur nicht in die Karten sehen lassen. Und ich bin ja auch wieder ganz wach. Überwach. Vielleicht sogar etwas überdreht. Solch Gläschen Burgunder wirft einen doch nicht um.‹)

»Nein, Paul Gumpert, wir werden nie mehr vor die Möglichkeit gestellt sein, ein zweites Leben uns nochmal auszusuchen. Wir müssen uns mit dem unsern und mit dem einen Mal abfinden. Weil Leben mit Seele verbunden ist. Und weil jedes Leben, das seinen Weg bewußt in die Welt findet, aber auch jede Seele, eben dreihundert Millionen Jahre alt ist, und nicht einen Tag jünger, und nicht eine Sekunde in der ganzen Zeit unbeseelt und kein Leben war. Darüber haben wir oft gesprochen, – nicht, Nuckelino? Sie spaltet sich, die Seele, sie vermehrt sich wie die Körper. Sie wandelt sich. Aber sie entsteht ... selbst wenn sie vom Urtier zu Kant sich wandelte ... nie neu. Und deshalb fände unsere Seele, und wir mit ihr, wenn wir je wiederkämen, keinen Körper, weder eine Cholerabazille, noch einen Ibis, noch einen Elefanten, noch gar etwa einen Menschen, in den sie hineinschlüpfen könnte, weil alles lebendige Sein, seit Ewigkeiten beinahe, schon okkupiert ist ... Aber Paul Gumpert, ich fürchte, es ist etwas spät, um dieses Problem noch zu lösen, und wir haben es ja auch nicht so eilig damit, nicht wahr? Ich meine, keiner von uns Vieren hier hat es besonders eilig damit. Oder ist etwa einer von uns gegenteiliger Ansicht? Der erhebe seine Stimme. Wir werden uns das alle in Ruhe noch eine Weile überlegen können. – – –«

›Warum reden denn die nicht?‹ denkt Fritz Eisner.

»Eilig haben wir's wohl nicht«, sagt endlich Paul Gumpert. »Immerhin, (schon wieder hat er Heine beim Wickel) doch ein Narr wartet auf Antwort.«

»Ach Gott, mein alter Freund, mein lieber Paul Gumpert, nun seien wir doch mal ehrlich. Solange es Wolken gibt, die über einen Abendhimmel ziehen, solange es die ersten Akkorde der fünften Sinfonie gibt, solange es Wesen gibt wie Ihre Joli da unten und meine Ruth hier drüben, die, wie die Oceaniden im ›gefesselten Prometheus‹, zu uns ewigen Promethiden sagen: ›Wir bleiben bei dir, komme, was mag!‹, solange es einen ersten Frühlingswind in den rotbraunen Erlenbrüchen gibt, und einen ersten gelben Falter da, auch wenn keine Blume weit und breit noch ist, solange Kinder auf der Straße spielen und lachen, solange ein junger Pudel noch über seine eigenen Pfoten stolpert, solange sich plötzlich ein Arm uns um den Nacken legt, solange die geheime Melodie eines Verses wie eine unterirdische Quelle rieselt, solange siebzehn Jahre mit großen unenttäuschbaren Augen in die Zukunft hineinträumen, und selbst, solange das unterdrückte Schluchzen eines Saul vor der Leinewand eines Rembrandt auch uns die Kehle zusammenpreßt, solange auch nur eine einzige goldviolette Chrysantheme wie in der weißen Vase da drüben noch steht ... solange haben wir immer noch Grund genug, dem Leben, und wenn wir es noch so sehr hassen wegen seiner Erkenntnislosigkeit, seiner Enge, seiner wüsten und unrechten Gewalt, und seiner nutzlosen Grausamkeit wegen, seiner Unergründlichkeit wegen und seines hunderttausendfachen Todes wegen ... (Nun, Paul Gumpert? Nicht wahr, Joli, – oder irr ich mich da, Nuck? Ich denke, dieser Satz ist lang genug.) – solange haben wir also immer noch das Recht, ja mehr als das Recht eigentlich, den Zwang, das Leben tausendfach zu bejahen. Bin ich da deutlich genug gewesen, mein alter Junge? – Aber nehmen Sie noch einen Kaffee. Ich glaube, ich habe zuviel getrunken (nie bin ich nüchterner gewesen), aber Sie verstehen doch, was ich damit sagen wollte, und Sie auch, Joli? Und Nuck, wir haben doch schon oft davon gesprochen. Und als Kaufmann müssen Sie das verstehen, Paul Gumpert. Ganz gleich was kommt. Es bleibt eben immer noch ein Saldo.«

»Soweit ich höre, wäre also«, meint Paul Gumpert und stellt die Tasse auf den Tisch zurück mit einer verdammt müden Bewegung, »das Leben entzückend, wenn man nur jede Woche einmal in das Museum, in ein Sinfoniekonzert und in den Zoologischen Garten geht. Nur sind im Krieg die meisten Biester dort verhungert. Warum sollten sie's auch besser haben als die Menschen, Meister? – Joli, mach dein Dienerchen und laß dir von den Herren die Hand küssen. Wann sollen wir nach Hause kommen? Und wann soll Ihre Frau ins Bett kommen? – Also morgen um drei, Rauchstraße 17. Wenn ich nicht da bin, dann bin ich nicht da. Dann kann ich nicht. Ich weiß nicht, wieviel Besprechungen und Konferenzen ich morgen habe. So etwas dauert Monate. Mo – na – te! Aber Ihr Besuch gilt ja eigentlich nicht mehr mir, und die anderen Herrschaften werden Sie antreffen. Und dann natürlich, vielleicht nächsten Montag, oder sagen wir Sonntag nachmittag, gegen Abend, vorm Theater. Da hat jeder sicher Zeit. Um sechs Uhr. Bei Horcher. Abgemacht. Junge Frau, begleiten Sie uns nicht mit raus. Sie sind müde. Aber das steht Ihnen gut. Das gibt Ihnen so 'ne nette Morbidezza. Dem alten Herrn mit den jungen Beinen da macht es gar nichts, wenn er runterkommt mit uns.«

Und dann winkt Fritz Eisner wieder dem Cadillac nach und bleibt noch eine ganze Weile auf der Straße stehen. Was kann man da nur tun?

Als Fritz Eisner heraufkommt, ist es vorn schon dunkel. Käte, die längst schlafen sollte, tut das natürlich nicht, sondern hantiert noch in der Küche, daß es nur so scheppert, denn sie hat die Ansicht, daß man keinerlei Geschirr die Nacht über unabgewaschen stehen lassen dürfte, weniger aus Reinlichkeitsgründen, noch aus hygienischen, sondern aus irgendeinem Aberglauben heraus, daß das Unglück brächte, und daß einem dann außerdem noch der Schatz untreu würde. Überhaupt hatte ihr die Wahrsagerin schon so etwas Ähnliches gesteckt, von einer falschen Freundin, vor der sie auf der Hut sein sollte, und wenn sie auch nicht so ganz daran glaubte, so glaubte sie es doch wiederum nicht wenig genug, um es nicht zu fürchten. Und so singt sie und spült noch in der Küche.

Und Ruth plätschert in der Badestube, liebt es, so etwas häufig und zugleich ausgiebig zu tun. Vor einer halben Stunde ist dann kaum mit ihr zu rechnen, und Fritz Eisner hätte sie doch noch gern gesprochen. Die Affäre mit Paul Gumpert geht ihm im Kopf herum. Diese Sache ist wie ein Pfingstausflug, sagt er sich. Das Wetter ist um diese Zeit meist sehr unsicher. Es sieht alles zwar nett aus, und es grünt alles, und der Flieder blüht, und die Sonne scheint warm und angenehm. Aber dann zieht sich immer so etwas zusammen. Manchmal verteilt es sich wieder, und ein anderes Mal kriegt man unverhofft einen Guß über den Kopf. Es ist sehr schwer vorher zu sagen, wie das Pfingstwetter sein wird. Sonst ist es immer viel einfacher. So ist das doch eigentlich mit Paul Gumpert jetzt. Ich hoffe schon, es gibt nichts. Wenn dies alles – es ist gewiß nicht angenehm! Kein Monarch unterzeichnet gern seine Abdankung! – dies erst alles mal vorbei ist, und die Zukunftspläne für ihn erst feste Formen angenommen haben werden, dann sieht sich auch diese ganze häßliche Geschichte schon ganz anders für ihn an.

Fritz Eisner lacht vor sich hin. Sieh mal an, wie sauber die da schon alles eingeräumt haben und mit richtigen rosa Wäschebändchen wie den Trousseau einer Prinzessin. War ein bißchen viel heute. In Berlin drängen sich immer die Dinge zusammen. Zuhause hätte das für vierzehn Tage genügt. Aber wo ist man eigentlich zu Hause? Hier, wo ich über fünfundvierzig Jahre meines Lebens verbracht habe und da oder da, wo ich noch kein Jahrzehnt ... Ach, da ist ja der Schreibschrank aus der ungarischen Esche wieder mit den beiden blanken Säulen. Der hat mal zwischen uns 'ne Rolle gespielt. Und da ist auch der alte dicke rote Teppich. Weiter bis zu der Tür bin ich damals nicht gekommen, als wir uns trennen wollten. Vor sechs Jahren. ›Mensch, siehst du denn nicht, daß ich dich nicht fortlassen kann?‹ Das ist der Teppich. Richtig, das ist dieser Teppich. Und das ist die Tür mit der Vergoldung. Damals war hier der Salon. Und jetzt werden wir beide hier ganz offiziell schlafen. Das ist nun umgeordnet. Oha, bin ich müde! – – – Der Mann mit der Sammetjacke! Das sollte man morgen keinesfalls vergessen. Wer erlaubt das eigentlich, daß ein so oller Mann so herunterkommt?! Wozu ist Maud weg? Und warum habe ich Eminé nicht mitgenommen? Ich hätte ihn in einen leeren Koffer sperren sollen. Das hätte bei dem Kerlchen kein Mensch gemerkt. Vielleicht kann ihn mir Fränze mitbringen. Aber hat sie nicht so etwas geschrieben, daß sie schon jetzt reisen will oder abgereist ist? Nuck zeigt mir nie die Karten.

Also das idiotische Berlin ist doch ein Irrenhaus. Wie spät ist es? Dreivierteleins? Und da klingelt noch das Telefon? »Wer ist da? Ach, Lu, ich denke, du hast den amerikanischen Gesandten empfangen, oder er dich? Was ist los? Ist das Kind nicht wohl? Es hat dir sehr schöne Liederchen vorgesungen, noch bevor du weggingst. Das nur? Das ist der anständigste Teil überhaupt ihres Repertoires. Bisher geniert sie sich gewiß noch. Wie ich Paul fand? Na eigentlich sehr vernünftig und ganz gut. Ich habe versucht, ihm den Kopf zurechtzurücken, aber weißt du, wenn man jemand ein Pflaster auf die Wunde legt, deshalb heilt sie doch nicht gleich. Das muß doch erst wirken. Er hat mich und Ruth nebenbei zu Horcher eingeladen. Sonntag nachmittag, um sechs herum. Komm doch auch auf eine Stunde hin, Lu. Sonntag hast du ›Meistersinger‹. Na, das hindert doch nicht, Lu. Das Theater fängt doch nicht um halbsechs an. – Im ganzen bin ich eigentlich ziemlich beruhigt. Ich kann dir das nicht so alles telefonisch auseinandersetzen. Sehr deprimiert ist er natürlich. Aber das ist doch ... du sagst, nicht deprimiert genug? Bei einem äußert es sich wohl so und beim andern so. Du meinst, ich bin gerade nicht übermäßig geistreich. Nein, Lu. Ich bin nur sehr müde. Es ist ein bißchen viel geredet worden heute abend. Vier Stunden lang und nicht den kleinsten Teil von mir. Ich glaube, das Schlimmste sind seine Bilder. Das ist vielleicht das Einzige, was ihn sehr schmerzt und ihm schwerfällt. Man müßte ihm was zurückkaufen, woran er besonders hängt. Braucht gar nicht das Teuerste zu sein. Ich will mich morgen, das heißt, heute nachmittag um drei in seiner Wohnung mit ihm treffen. Dann werde ich – hoffentlich kommt er – schon herauskriegen, was er am meisten vermissen würde. Ich glaube, der kleine Tiepolo wäre zum Beispiel ... komisch, da hatt' ich heute gerade mit dem Bild ein absonderliches Erlebnis. Na, das erzähl ich dir ein anderes Mal, Lu. Wie ich Joli finde? Also ein wunderbares Geschöpf. Ich kenn sie ja schon fünf Jahre lang. War nebenbei eine Spielkameradin von Ruth. Das hat sich heute erst bei der Sektion ergeben. – Kino? Nee! Dazu müssen sie mich erst mit 'nem Lasso fangen. Was ist los? Du weißt es schon, sonst niemand? Fabelhaft, Lu! Das Kabinett Stresemann zurückgetreten? Tut mir auch wieder leid! Du fragst mich? Woher soll ich das ahnen? Bin ich 'ne Pythia? Logiere ich auf 'nem Dreifuß? Weißt du noch, Engels als Crampton, Lu? Haben wir das nicht mal zusammen gesehen? Nein? Na, dann nicht. Ich meine schon, wir kriegen wieder ein Kabinett Stresemann. Was wetten wir, Lu? Für Georg ist das von größter Bedeutung?! ... Das glaube ich!... Wie ich das meine? Na, genau so wie du das auffaßt, Lu. Du, ich bin furchtbar müde und im intimsten Negligée schon. Du auch? Ich werde den Fernseher einschalten. – Gute Nacht, Lu. Ruf mich morgen um fünf an. Oder soll ich dich anrufen? Sehr schöne Sachen. Mit Paul kommt ihr natürlich nicht mit. Na ja, Doktor Groß hat, – nimm mir das nicht übel – gesammelt, wie eben ein reicher Mann sammelt, dem es auf Geld nicht ankommt. Er kriegt schon gute Sachen, und er kriegt auch echte Sachen. Vielleicht sogar große Stücke. Und Paul Gumpert hat eben ganz betont und mit mehr persönlichem Geschmack gesammelt. Immerhin, in der Von der Heydt-Straße läßt es sich auch leben oder meinst du nicht? ... Batsch. Getrennt! Weg! (›Von uns ist das Gespräch nicht unterbrochen worden!‹) Merkwürdig, erst kommt sie nicht los. Ich möchte schon längst schlafen, und auf einmal hängt sie ab. Gott, bin ich müde, wie gerädert geradezu.«

*

Warum nur die Leute in Berlin immer schießen? Das versteht kein Mensch. Da unten ist in fünf Jahren kein Schuß gefallen. In der Nacht vom zehnten auf den elften November hab ich das hier das letztemal gehört. Und heute, nach sechs Jahren fast, schießen sie immer noch. Bum bum hum.

Fritz Eisner reißt sich aus dem Halbschlaf hoch. Er weiß im Augenblick nicht, wo er ist. Ob er zehn Minuten oder zehn Stunden schon geschlafen hat. Das Licht brennt oben in der Ampel und in den beiden kleinen Nachttischlampen. Und vor dem Bett liegt Ruth auf dem alten dicken Smyrna, sich sehr hell und rosig abhebend von den rotblauen großen Mustern des Teppichs. Hat sich ein paar kleine Hanteln unten über die Knöchel gelegt, richtet sich mit dem Oberkörper auf, schwingt die Arme hoch und läßt sich wieder zurückfallen. Bum bum bum. Wer weiß, wie oft sie das schon gemacht hat. Wenn sie Ohrringe trüge, wäre das ihr einziges Bekleidungsstück. Fritz Eisner springt auf. »Ganz recht hast du, mein Nuckchen«, brüllt er, »Käte soll mir meinen Koffer packen. Leute, die ihr Wort nicht halten, interessieren mich nicht. Aber gleich.«

»0 weh«, ruft Ruth und springt ebenfalls auf, »wenn du schon sagst, ganz recht hast du, mein Nuckchen, dann hab ich ganz was Dummes gemacht. Dann bist du sehr böse! Ich turn doch gar nicht, alter Esel. Ich mache nur ein paar Übungen. Weißt du, ich hab solchen Druck hier in der Seite, und in dem Buch ›Die Leibeshygiene für den gesunden und kranken Menschen‹ steht extra, daß gerade diese Übung bei einer leichten Zerrung der oberen Bauchmuskulatur ... Nu komm schon, blöder Hammel, leg dich wieder ruhig hin.«

»Ach, und sieh mal, der Fleck da, der ist doch noch größer geworden, als heute früh.«

»Das wird so etwas immer. Laß nur, der ist übermorgen schon wieder weg. Und so weit ausgeschnitten geh ich doch nur für dich. Ich fühl mich sehr wohl, Jorry. Ich habe nur immer noch ein bißchen Schmerzen. Hier so links oben. Komm, mach mir Platz, es ist doch kühler wie es bei uns war. Dafür wird es auch im Winter wärmer hier sein. Aber im Bett ist es doch ganz mollig. Du, eigentlich möcht ich ja doch wieder Gymnastik nehmen, wenn ich darf. Es ist sicher sehr gesund und sehr nett. Man lernt so seinen ganzen Körper kennen. Und wenn man so über den ersten Muskelkater mal weg ist, – ich hab's dir nicht erzählt, weil ich doch wußte, du wirst böse – ist man doch nach so einer halben Stunde Turnen den ganzen Tag ein ganz anderer Mensch. Gerade wir Frauen neigen doch immer ein bißchen zum Schlappwerden und Bequemwerden und verweichlichen. Ich frage mal wieder einen Arzt, Jorry. Der wird's dir sagen.«

»Solche Dinge pfleg ich mir zu überschlafen, Nuck. Liegst du so mit dem Kopf bequem? Warte, ich will nur den Arm etwas höher tun, sonst schläft er noch eher ein als ich. Wie ist das morgen? Nicht so spät raus. Wo mußt du hin? Wohnungsamt? Und dann willst du mal wieder auf die Zeitung? Und in den Lyzeumklub? Und den Verein Frauenrecht? Und in die Liga? Hetz dich nicht so ab. Das kannst du ja ein andermal noch. Ich will was arbeiten. Ich will doch mal dazu kommen, ein Buch zu lesen. – Wie findest du Paul Gumpert? Du bist nicht erbaut davon? – Ich glaubs nicht. Na ja. Halten kann man natürlich einen Menschen nie. Aber Lu und du, ihr seht Gespenster. Unsinn! Der wird es genau so wie tausend andere ertragen. Und in zehn Jahren, wenn wir beide am Bettelstab daherwanken, dann wird er in einem Studebaker Modell 1934 (die werden immer ein Jahr vordatiert) mit vergoldeten Kotflügeln mit einem Rand von Brillanten dran mit 135 PS und 170 Stundenkilometer an uns vorbei sausen. Ich bin nebenbei der Überzeugung, er hatte ganz recht mit der Kunstseide damals. Er hatte bloß zu früh recht. Das soll man nie. Du sagst, ich bin immer so untreu? Unsinn! Joli ist eben ein wunderschöner Mensch, und so etwas seh ich mir gern an. Genau wie ich ein gutes Bild oder eine gute gotische Figur mir gerne ansehe. Deswegen werde ich meiner Madonna di casa Eisnerio hier noch lange nicht untreu. Nicht mal im Herzen, nicht wahr, Nuckelino. Stoß dich da bloß nicht nochmal an den Schenkel. Morgen will ich mal zu Hannchen noch. Denn das liegt mir ganz gut auf dem Weg. Dann können wir uns nachher um zwei im Romanischen Café treffen, aber pünktlich, Nuck. – Gewiß, ich versteh dich vollkommen. Hannchen ist ein komisches Wesen. Warum ich Solveigs Lied summe? Na ja, das fällt mir eben dabei ein. Krank ist sie, und die Bellezza ist verflogen. Ist nun auch hin. Aber sie schmeißt doch da den ganzen Laden, und sie ist ein Mensch, der auch für andere da ist, wenn es sein muß. Wenn sie an die Himmelstür mal kommt (oha, ich bin wie gerädert), kann sie auch sagen: Laßt mich immer nur hinein, denn ich bin ein Mensch gewesen. Die Leute reden sich immer ein, Mensch ist ein Gattungswort, wie Stuhl und Brot. Es ist eine Zielsetzung ...

Also ich kann noch so müde sein. Sie ist immer vor mir eingeschlafen.«


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