Georg Herwegh
Gedichte eines Lebendigen (Band 1)
Georg Herwegh

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Der Gang um Mitternacht

1840

          Ich schreite mit dem Geist der Mitternacht
Die weiten stillen Straßen auf und nieder
Wie hastig ward geweint hier und gelacht
Vor einer Stunde noch! ... Nun träumt man wieder.
Die Lust ist, einer Blume gleich, verdorrt,
Die tollsten Becher hörten auf zu schäumen,
Es zog der Kummer mit der Sonne fort,
Die Welt ist müde – laßt sie, laßt sie träumen!

Wie all mein Haß und Groll in Scherben bricht,
Wenn ausgerungen eines Tages Wetter,
Der Mond ergießet sein versöhnend Licht,
Und wär's auch über welke Rosenblätter!
Leicht wie ein Ton, unhörbar wie ein Stern,
Fliegt meine Seele um in diesen Räumen;
Wie in sich selbst, versenkte sie sich gern
In aller Menschen tiefgeheimstes Träumen!

Mein Schatten schleicht mir nach wie ein Spion,
Ich stehe still vor eines Kerkers Gitter.
O Vaterland, dein zu getreuer Sohn,
Er büßte seine Liebe bitter, bitter!
Er schläft – und fühlt er, was man ihm geraubt?
Träumt er vielleicht von seinen Eichenbäumen?
Träumt er sich einen Siegerkranz ums Haupt? –
O Gott der Freiheit, laß ihn weiter träumen!

Gigantisch türmt sich vor mir ein Palast,
Ich schaue durch die purpurnen Gardinen,
Wie man im Schlaf nach einem Schwerte faßt
Mit sündigen, mit angstverwirrten Mienen.
Gelb wie die Krone ist sein Angesicht,
Er läßt zur Flucht sich tausend Rosse zäumen,
Er stürzt zur Erde, und die Erde bricht –
O Gott der Rache, laß ihn weiter träumen!

Das Häuschen dort am Bach – ein schmaler Raum!
Unschuld und Hunger teilen drin das Bette.
Doch gab der Herr dem Landmann seinen Traum,
Daß ihn der Traum aus wachen Ängsten rette;
Mit jedem Korn, das Morpheus' Hand entfällt,
Sicht er ein Saatenland sich golden säumen,
Die enge Hütte weitet sich zur Welt –
O Gott der Armut, laß die Armen träumen!

Beim letzten Hause, auf der Bank von Stein,
Will segenfllehend ich noch kurz verweilen;
Treu lieb ich dich, mein Kind, doch nicht allein,
Du wirst mich ewig mit der Freiheit teilen.
Dich wiegt in goldner Luft ein Taubenpaar,
Ich sehe wilde Rosse nur sich bäumen;
Du träumst von Schmetterlingen, ich vom Aar
O Gott der Liebe, laß mein Mädchen träumen!

Du Stern, der, wie das Glück, aus Wolken bricht!
Du Nacht mit deinen tiefen stillen Blauen,
Laßt der erwachten Welt zu frühe nicht
Mich in das gramentstellte Antlitz schauen!
Auf Tränen fällt der erste Sonnenstrahl,
Die Freiheit muß das Feld dem Tage räumen,
Die Tyrannei schleift wieder dann den Stahl –
O Gott der Träume, laß uns alle träumen!

 


 


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