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Doktor Buschs Umfrage nach seinem Studienfreund war nicht umsonst.
»Gewiß,« hieß es, »Alfred Wehrenberg ist noch hier und arbeitet als junger Assessor an unserem Gericht. Er wohnt bei seinem Onkel, dem Pastor an der Marienkirche. Wenn Sie beim nächsten Durchgang stadtwärts gehen, führt die Straße Sie gerade auf die Kirche zu, und hinter ihr finden Sie das Pfarrhaus. Fehlen können Sie nicht und daheim werden Sie ihn auch noch treffen.« Der damit Beschiedene fand alles, wie es ihm angegeben war: Die stille Straße zwischen den Reihen ihrer kleinen Häuser, die gewaltige alte Kirche, und hinter ihr, an einem stillen Platz, durch dessen Pflaster das Gras üppig aufwucherte, ein altmodisches Haus, dem auch wieder die tiefste Stille schon sozusagen aus den Fensteraugen blickte. Es war auch drinnen so. Auf dem großen, kühlen und dämmerigen Flur zeigte sich kein lebendes Wesen, und in einem Zimmer, dessen Tür geöffnet war, regte sich gleichfalls nichts. – Endlich, als sich der Eindringling immer verlegener werden fühlte, kam ein ansehnlicher Mann die Treppe herab, zum Ausgehen angekleidet und seiner ganzen Erscheinung nach unzweifelhaft der Pfarrer selber. Er wies den Fremden, der seine Absicht und seinen Namen angab, freundlich die Treppe hinauf. Sein Neffe werde sich sehr freuen, äußerte er. Er habe des Freundes öfters, ja noch kürzlich gedacht und bedauert, so gar nichts mehr von ihm erfahren zu haben.
Und der Empfang war wirklich so herzlich, wie der Freund ihn vom Freunde nach langer Trennung nur erwarten kann. Es dauerte deshalb eine beträchtliche Zeit, bis man zum Sitzen und zum behaglichen Plaudern kam und schließlich auch dazu, daß man einander schärfer ins Auge faßte. An Leopold Busch schienen die Jahre ziemlich spurlos vorübergegangen zu sein. Anders hingegen stand es um Alfred Wehrenberg. Er war auf der Hochschule einer der Fröhlichsten, Frischesten gewesen, in voller Unbefangenheit dem heiteren Leben zugewandt, ohne viel Sorgen um Gegenwart oder Zukunft, ohne trotzdem aber jemals die Grenzen zu überschreiten, die einem gesunden und edlen Menschenkinde gewissermaßen von der Natur selber angewiesen sind. Was man jetzt sah, erinnerte Wohl an das Frühere, doch es glich ihm nicht mehr. »Wie hältst du das aus?« fragte der Freund, der am Fenster stand und auf den großen, stillen Hof und den ganz einsamen, schattigen Garten hinabblickte. »Ich könnt' es nicht! Man muß ja gemütskrank werden in dieser Lautlosigkeit und Enge. Alfred lächelte zerstreut. »Verzeih' Leopold,« versetzte er erst nach einer Weile. »Ich habe gerade sehr ernste Arbeiten vor mir. Du sprachst von drückender Stille und Enge. Nun, mir tun sie gerade wohl. Das Wirre und Bunte ist draußen im Überfluß.« Als Leopold dann von den Seeleiden des vorigen Tages erzählte, hörte er kaum hin, desto mehr Ohr war er aber, als er das Unterkommen des Freundes bei den »St. Jakobsbrüdern« erfuhr.
»Auf deine Aufnahme dort kannst du dir etwas einbilden,« begann er darüber in einer Mischung von Scherz und Ernst seine Meinung zu äußern, »Peter ist zwar im Grund eine kreuzbrave Seele, versteckt das aber am liebsten unter einem furchtbaren Bärenfell, das die Gäste oft mehr erschreckt als anzieht. Doch das er dich auch als Schlafgast aufnahm – hm, sonst gewährt er dies unsereinem, glaub' ich, schwerlich.«
»Wer sind denn die rechten Schlafgänger?« fragte Leopold neugierig. »Christen betonte zwar die Ehrlichkeit und Ehrbarkeit, meinte im übrigen aber, ich solle mich die etwaigen Wunderlichkeiten nicht anfechten lassen.«
»So urteilen er und alle seinesgleichen, sicherlich mit vollem Recht. Peter ist nach landesüblichem Begriff ein durchaus ehrlicher Mann. Daß er für alles, was er dir vorsetzt, regelrechte Zollscheine vorlegen kann, will ich allerdings nicht behaupten, und daß er nicht bei Gelegenheit einem alten Genossen oder einem armen Deckläufer ein stilles Unterkommen gewährte, will ich auch nicht verschwören. Sonst aber –«
»Also höre einmal zu, ich will dir etwas erzählen,« unter brach ihn der Freund wichtig und berichtete klar und kurz von allem, was er während der Nacht in der Schlafkammer erlebt und von den Nachbarn erlauscht hatte. »Was machst du daraus?« fragte er zum Schluß. »Es ist mir verdächtig und unheimlich, und zwar um so mehr, je deutlicher ich mir alles zurückrufe.«
Alfred hatte mit steigender Aufmerksamkeit zugehört. »Das ist allerdings eine seltsame und fast unheimliche Geschichte, zumal da der ›Herr‹ mich an jemand ausdrücklich erinnert, – Unsinn,« brach er ab, indem sich seine Stirne flüchtig zusammenzog, »der, den ich meine, ist schon seit Jahr und Tag nicht mehr hier, augenblicklich sogar, so viel ich weiß, auf einer größeren Reise und weit von uns. Wäre er aber zurück und hier, so hätte er am Ende auch wieder, so viel ich weiß, keinen Grund, sich zu Verstecken. – Und dennoch!« fuhr er nach einer Pause fort. »Ich denke eben an ihn, und besonders der ›Junker‹, dessen erwähnt wurde, stimmt auffällig zu ihm. Denn der ›Junker‹ ist eine greifbare Persönlichkeit – ein alter Herr von Gunsleben nämlich, einer unserer größten Grundbesitzer, ein Mann, den das ganze Land kennt und nennt –«
»Gunsleben?« fiel da Leopold, plötzlich von einer Erinnerung berührt, ein, »hm, so hieß ja, denk' ich, die schöne Frau mit den schönen Töchtern oder Nichten, die ich vor einem Jahr in Liebenstein fand. Artige Leute, aber verzweifelt eingezogen, so daß man ihnen kaum nahe kam! . – Der Mann, eine Soldatenerscheinung, holte sie hernach ab.«
»Richtig –« nickte Alfred, »unser Oberstleutnant! Ich entsinne mich, sie waren vor einem Jahre dort. So findest du hier mehr Bekannte, als du dachtest. Willst du, so führe ich dich hin.«
»Danke – danke!« wurde dem abgewehrt – »ich wiederhol's, sie erschienen mir sehr unnahbar.«
»Davon –« ereiferte sich Alfred, »wenigstens soweit darin ein Vorwurf liegen könnte, wissen wir hier nichts. Wir gehören freilich gewissermaßen zu einander,« meinte er dann mit leichtem Lächeln, »denn der Oberstleutnant ist ein Sohn unseres ›Junkers‹, und mein Onkel hier ist ein Sohn seines ältesten Freundes, des Pastors zu Menkendorf, der mein Großvater ist. Die Hof- und die Pfarrkinder sind schon in zwei Nachkommenschaften fast wie Geschwister miteinander aufgewachsen und vertraut geblieben, wie die Eltern vor ihnen gleichfalls. – Aber genug davon! Die Erwähnung des ›Junkers‹ in deiner Geschichte ist ein Anhaltspunkt, und zwar ein ernster und möglicherweise äußerst nützlicher, für den Fall, daß die Verhandlung in Peter Jansens Kammer zu irgendwelchem tatsächlichen Folgen führte. Ich lasse dies nicht aus den Augen.«
Die beiden Freunde setzten ihre Unterhaltung in anderen und angenehmeren Bahnen noch eine gute Weile fort, bis der Arzt endlich aufbrechen zu müssen erklärte. Er wolle den Mittagzug benutzen und zuvor noch bei den »St. Jakobsbrüdern« ein vorhaltendes Frühstück einnehmen. »Wobei es nicht nötig ist,« bemerkte Alfred, »daß Peter von deiner Bekanntschaft mit mir etwas erfährt; er ist ein alter Fuchs. Übrigens, ein paar Straßen begleite ich dich, muß noch einen Augenblick auf die Kanzlei.«
Unterwegs begegneten sie einem hochgewachsenen Offizier, der schon im Herankommen Alfred einen Gruß zuwinkte, und als man zusammentraf, nach einer artigen Entschuldigung bei dem Begleiter mit einem freundlich zürnenden »Nun, Wehrenberg, mein Junge, was ist's eigentlich mit dir, daß du dich gar nicht mehr sehen läßt?« den Gescholtenen etwas beiseite zog und darnach leiser fortfuhr, »Blanka hätte dir gern Ade gesagt. Wir mußten sie nach Drakenhof schicken – das ist auch eine tolle Geschichte. Komm und lasse dir davon erzählen. – Noch einmal,« fügte er mit einem forschenden Blick auf den ihm Unbekannten hinzu, »noch einmal Entschuldigung für die Störung, mein Herr!« und erhob indem die Hand zum Abschiedsgruß.
»Ah, richtig – einen Augenblick noch, Herr Oberstleutnant!« bat Alfred nun, und nachdem er seinen Freund kurz vorgestellt hatte, fragte er: »Wissen Sie etwas von Eugen? Ist er hier?« Der Offizier sah verwundert auf. »Eugen? Hier? Teufel auch! Der steckt noch tief in der Schweiz. Wie kommst du auf ihn?« – »Ei, ich sah gestern abend kurz vor dem letzten Gewitter, einen Herrn, der mich an ihn lebhaft erinnerte,« sagte Alfred leichthin. »Wirst dich getäuscht haben,« versicherte der Oberstleutnant kurz.
»Es ist also nichts mit meinem Verdacht auf den ›Herrn‹ von heut nacht,« erklärte Alfred später seinem Freunde, »denn bei dem Oberstleutnant – er ist dessen Neffe! – wäre er nicht vorübergegangen, wäre es auch nur einer kleinen Anleihe wegen gewesen.«