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Der ›Junker‹ war eine von jenen eigenartigen Erscheinungen, denen wir nicht selten gerade unter den alten Landwirten begegnen: – sie bekümmern sich anscheinend nur um das Ganze und allenfalls um seine großen Unterabteilungen, während sie das Einzelne und Kleine ziemlich achtlos und sorglos dem Gehilfen zu überlassen scheinen; allein in Wirklichkeit entgeht ihnen auch das Allergeringste nicht, und wo dergleichen wirklich einmal zur Sprache kommt, überraschen sie die Ihren durch eine Kenntnis, von der man nicht begreift, wie, wo und wann sie die in solcher Genauigkeit sich zu erwerben vermochten; und endlich, es tauchen für ihre Augen auch wohl Züge an diesem und jenem auf, Züge, von denen die Umwelt nichts erblickt, und denen sie nun in aller Stille nachgehen, bis sie volle Klarheit erlangt haben, dann ruht es in ihnen, bis einmal die rechte Gelegenheit zum Aussprechen kommt oder das Wohl aller es erzwingt; denn mitteilsam pflegen solche alten Burschen nicht zu sein, und voreilig sind sie auch nicht. »Alles zu seiner Zeit!« lautet ihr Grundsatz. So ungefähr stand es auch mit dem Fall, wo es – kurz heraus gesagt – sich um die Machenschaften Hildegards gegen Alfred Wehrenberg handelte.
Hildegard hatte Alfred von Jugend auf gekannt und, soweit ihre kühle Natur es erlaubte, auch gern gehabt. Als ihr Gatte das Kommando des Ulanenregiments bekam, fand sie den jungen Mann, nach einem mehrjährigen Auseinandersein, wieder dauernd in ihrer Nähe, und man nahm wahr, daß sie allmählich mit immer lebhafterem Wohlwollen sich zu ihm wandte und ihn an ihrer Seite hielt. Erst nach ihrer Heimkehr vom Liebensteiner Aufenthalt zeigte sich an ihr eine Veränderung, ein ganz ungewöhnlich rascher Wechsel ihrer Launen und Stimmungen, von herzlicher Güte zu verdrießlicher Ungeduld oder gar empfindlicher Kälte. Nach kurzer Zeit schien indessen auch dies wieder vollständig überwunden zu sein, und sie nahm nicht nur Alfred, sondern auch die allmählich mehr und mehr hervortretende Klara Stephani mit aller möglichen Freundlichkeit wieder bei sich auf. Sie war voll Nachsicht und fand stets eine gutmütige Entschuldigung für den Lebenswandel der lustigen, sorglosen Frau; sie lobte Alfreds warme Anteilnahme und billigte seine Versuche, die Unbesonnene bei einem gewissen Maß zu erhalten, sie redete ihm zu, die Frau nicht im Stich zu lassen und mahnte sie, auf ihn zu hören. Mit einem Wort, statt das Paar zu trennen, näherte sie es einander in der angelegentlichsten und dennoch anscheinend unbefangensten Weise. Das währte einige Monate unverändert fort, bis sie plötzlich, ohne irgendeine sichtbare Veranlassung, ohne den leisesten Übergang, auf das schroffste von Klara sich abwandte, mit zur Schau getragener Entrüstung, ja mit voller Feindseligkeit, und ihr ihren eigenen Zirkel hochmütig verschloß. Mit Alfred hielt sie es vorläufig anders, – man hätte glauben können, daß sie vor seiner gleichfalls bevorstehenden völligen Verdammung noch erst gewisse andere Einblicke abwarten wollte, – vor allem vielleicht in sein wirkliches Verhältnis zu Blanka. Sie widmete beiden, wie sich aus einzelnen, jäh auftauchenden Zügen schließen ließ, die peinlichste Aufmerksamkeit, einmal, wo Blanka in der Weihnachtszeit, und dann im nächsten Sommer, da das Mädchen aufs neue bei ihr weilte. Und kurz darauf hatte alle Schonung ein Ende. Alfred war ihr fortan augenscheinlich verhaßt. Aber auch Blanka hatte von da an alles mögliche zu leiden; und alles, was von Menkendorf ausging oder damit im Zusammenhange stand, erfreute sich nun nirgends mehr ihres Beifalls. Von Silbergs zog sie sich herb zurück. Sie wurde hochmütiger und anspruchsvoller von Tag zu Tag, und sie brachte es dahin, daß nicht nur die Tochter, sondern auch der Gatte fortan ganz und gar auf ihrer Seite zu stehen schienen. Daß dies alles gleichfalls nicht ganz unbeachtet blieb, war begreiflich genug. Sie hatte bei dieser Umwandlung und durch diese allzu viele verletzt und verletzte sie noch alle Tage stets von neuem, als daß sie nicht auch zahlreiche und zwar keineswegs immer wohlwollende Beobachter und Beurteiler gefunden hätte. Über die Beweggründe ihres Handelns konnte kaum noch ein Zweifel vorhanden sein. Hildegard hatte es, um es kurz zu machen, schwer empfunden, daß Alfred so gleichgültig gegen den ihm von ihr gewährten Vorzug blieb, und rächte sich dadurch, daß sie ihn auf das kunstvollste und unverfänglichste in eine Verbindung hineintrieb, die ihn, wie sie rechnete, in den Augen der Gesellschaft und vor allem der gesamten Familie unheilbar bloßstellen mußte. Ja, als sie entdeckt zu haben glaubte, wie er in Wirklichkeit zu Blanka stand und wie tief die jungen Menschen einander im Herzen trugen, zog sie auch die Nichte gewissermaßen ins Spiel und wandte sich ganz von Silbergs ab, in denen sie die Begünstiger der – sie hieß es »frechen« – Ansprüche Alfreds argwöhnte. Sie hatte aber den tödlichen Verdruß, zu erleben, daß ihre ganze Quertreiberei fast vollständig fehl, ja in den Hauptpunkten durchaus zum Vorteil der Angefeindeten ausschlug. Sie fand Alfred von der gehaßten Frau alsbald getrennt und bald fast noch freundlicher angesehen als zuvor; sie fand Blanka ihm nicht entfremdet, sondern anscheinend eher noch mehr vertrauensvoller genähert; sie sah Viktoria, gegen die sich gleichfalls, ob auch aus anderen und vielleicht ehrenhafteren Beweggründen, ihr Spiel gewendet hatte, von neuem verzeihend aufgenommen. Diese Demütigung der durch Hochmut und Rachsucht verblendeten und aus aller Haltung gebrachten Frau sollte eine noch tiefere werden, als sie jetzt durch den ›Drakenhöfer‹ von der Verstimmung des Gatten gegen sie vernahm, ohne den Grund mehr als nur ahnen zu können. Er hatte ihre Gegenwart an seinem Krankenbett voll Gereiztheit zurückgewiesen, und daß dies keine bloße krankhafte Laune war, erfuhr sie, als sie auf ihren nachgiebigen Brief einige Wochen später von dem nun schon Genesenden die kurze und kalte Antwort empfing: »Was meine ›Verstimmung‹, wie du dich ausdrückst, angeht, wirst du erfahren, wenn ich wieder daheim bin und mich über alles Vorgefallene näher unterrichtet habe.« – Wieder nach einiger Zeit, um Neujahr, hatte sie ihm von der »Bemühung« des Barons August von Korzin um Rosa zu schreiben. Und der nun schon wieder im Felde stehende Gatte schrieb zurück: »Lasse mich das Urteil der Eltern über den Herrn erfahren. Deine Begünstigung genügt mir nicht!«
Wir wenden uns zu der Anschuldigung wider den Grafen Albert Altheim. Als der ›Junker‹ mit Silberg über die Aussage des Statthalters Drews gesprochen hatte, waren beide zu dem Beschluß gekommen, vor allem nach besseren und gewichtigeren Zeugnissen für die Tat zu forschen. Ein solches gelang rascher herbeizuschaffen, als man gehofft hatte. Einer der besten Freunde und Spielgenossen des Grafen entsann sich, daß dieser in dem betreffenden Jahre Doberan nach einem ungewöhnlich großen Spielverlust verlassen habe und erst acht oder mehr Tage später wieder auf dem Gut des Freundes erschienen sei. Er konnte sogar den Tag der Abreise von dem Badeort angeben, denn der Verlust war so ungewöhnlich groß, daß der Freund ihn als eine Ausnahme mit dem Datum vermerkt hatte. Als Altheim zurückkehrte, erschien er verstimmt und gereizt. Er wollte seinen Schwiegervater um Geld angegangen und einen Abschlag erlitten haben. Mit dem und ihm sei's zuende, hatte er versichert. – Und als der Freund der inzwischen auch hier bekannt gewordenen Ermordung Warnecks gedachte, verfärbte sich der Graf. »Davon hört' ich noch nichts,« sagte er finster, »aber wundern tut es mich kaum. Er hat Feinde genug. Und wäre ich selber nach Menkendorf gekommen und mit dem Schleicher und Aufhetzer zusammengetroffen – ich hätte nicht für ein Unglück eingestanden. Denn ich haßte diesen Menschen.« Eine weitere, noch bedeutungsvollere Auskunft erhielt der ›Junker‹ in seiner nächsten Nähe. Er stand, wie wir wissen, gegenwärtig infolge seiner großmütigen Unterstützung mit dem Müller Clarmann auf besserem Fuß als früher, und als er einmal den bekanntlich in alle Geheimnisse des Küstenstrichs eingeweihten Mann geradezu nach dem Mörder Warnecks fragte, versetzte der Müller mit ungewöhnlicher Offenheit: »Na, Euer Gnaden, darüber ist dazumal hier allerhand geredet worden, aber nichts Rechtes. Matthies will's gesehen und den Rat Wehrenberg erkannt haben. Das ist Torheit, hab' ich ihm neulich ins Gesicht gesagt, denn ich kann's beweisen, daß es nicht wahr ist. Euer Gnaden wissen noch, wir hatten hier damals ein schlechtes Jahr, und ich fuhr gerade in der Zeit nach Belitz und Birken hinüber, um mich nach Korn umzusehen. Da, zu Birken, war aber der Rat Wehrenberg bei dem Herrn Pastor zu Besuch, ich habe selber mit ihm geredet, und er kann daher nicht hier gewesen sein. Und so wird's denn wohl richtig sein, was Drews einmal, wo er ein bissel zuviel hatte, so gegen mich merken ließ –«
»Und das war, Clarmann?« fragte der ›Junker‹.
»Er hat den Herrn Grafen bei der Tat gesehen und erkannt!«
Demnach konnte man wohl auch den allerletzten Zweifel als behoben ansehen. Da – nahe vor Weihnachten – vernahm man zu Menkendorf, daß der Graf schon seit einiger Zeit bei dem Baron von Mirow weile und sich daselbst in bitteren Klagen über die Feindschaft seiner Verwandten ergehe, die jeden Versuch einer Wiederannäherung hart zurückwiesen, seinen unglücklichen Sohn in den Tod getrieben hätten und die entartete Tochter gegen den Vater in Schutz nähmen. Da machte der ›Junker‹ sich unverzüglich auf und fuhr, wie er drohend sagte, »zum Gericht« hinüber. Allein er erreichte seinen Zweck nicht, wie er es begehrt: Mirow, der gleich seinen Hausgenossen durch des »alten Freundes« unvermutetes Erscheinen offenbar nicht wenig bestürzt war, behauptete, daß Altheim schon vor mehreren Tagen wieder aufgebrochen und nach Frankreich zurückgekehrt sei. So blieb denn dem ›Junker‹ nichts übrig, als sich gegen den Baron auf das derbste auszusprechen und ihm die Versicherung zu geben, daß er den Grafen, falls er sich noch einmal in der Gegend blicken lasse, den Gerichten als Mörder Warnecks übergeben werde.
Seitdem verlautete nichts mehr von Altheim. Und wie denn um den ›Junker‹ her auch alles Übrige sich auszugleichen und zu beruhigen anfing, hätten er und die Seinen wohl mit neuem Vertrauen in die Zukunft blicken können, wäre nur auch die Eintracht zwischen dem Hofhause und dem Pfarrhofe endlich wieder völlig herzustellen gewesen. Aber das wurde immer aussichtsloser, wiewohl man drüben ebenso schwer daran trug als hüben. Wohl kam man neusterdings wieder häufiger, ja fast so häufig wie vordem zusammen, wohl erging man sich in munteren Gesprächen drinnen und draußen, wohl war man umeinander besorgt und bemüht, allein die alte herzliche Unbefangenheit, das rückhaltlose Vertrauen war nicht mehr da. Jenes Trennende, ob man's auch gar nicht mehr erwähnte, blieb wie eine feste Mauer zwischen allen. Es kam das Weihnachtsfest, und mit ihm stellten sich, wie alljährlich, auch diesmal alle Angehörigen der beiden Familien ein, die irgend abzukommen vermochten. Und dazu kamen die Briefe und kleinen Gaben der Entfernten, aus dem Felde, von dem Sohn und den Enkeln, von Viktoria und ihren jetzt in voller Genesung begriffenen Pfleglingen – Gutes und Frohes von allen Seiten. Und dennoch wollte am heiligen Abend, zum wenigsten unter den Älteren, keine rechte Festfreude aufkommen – man fand überall den Druck und den Zwang, der, wie ehrlich er auch gemeint sein mochte, doch wider jenen nicht aufzukommen imstande war.
Der ›Drakenhöfer‹, der seit dem Herbstanfang nicht mehr hier gewesen war, und über die herrschenden Zustände bisher nur sehr im allgemeinen etwas erfahren hatte, beobachtete alles und alle mit stummer Aufmerksamkeit. Nur als er im Laufe des Abends, nach der Bescherung, einmal in einem Nebenzimmer mit der wiederum sehr still gewordenen Blanka zusammentraf, legte er den Arm zärtlich um sie und fragte, sie mit sich fortziehend: »Nun, mein Herzenskind, bist du denn nicht recht zufrieden, daß du so trübe den Kopf hängst? Alfred soll doch demnächst schon aus der Heilbehandlung entlassen werden.«
»Ach, Onkel,« versetzte sie zutraulich offen, »dir brauch ich's ja nicht erst zu sagen, wie gut und lieb er ist, wie sein Vertrauen wächst, sein Mut, seine Hoffnung, und wie sehr – o wie so ganz unsagbar er mich lieb hat! Ach Onkel, mein Herz ist so über – übervoll von Glück und Segen! Und dennoch – dennoch kann ich nicht froh werden, wenn ich die lieben Alten so ernst sehe, so ungläubig und so fremd, und die Großeltern leiden.«
»Nur Mut, mein Kind,« sagte er darauf in seiner bedächtig schwerfälligen Art, »ich habe dies vorausgesehen und den Eltern gesagt, aber der Vater wollte mir nicht glauben. Ich kenne die Alten gut genug und kann ihrem Widerstande, von ihrer Seite, auch nicht ganz unrecht geben. Allein, wo man ihnen so entgegenkommt, wie es von den Eltern und uns allen geschieht, da sollten sie einsichtiger sein und nachgeben – von Herzen! Doch verliere den Mut nicht! Das letzte Wort hat ja immer noch unser Herrgott zu sprechen!«
Spät abends, als Silbergs mit den Ihren geschieden waren, sagte der ›Junker‹ fast kleinmütig zu seinem Ältesten: »Da ist Hopfen und Malz verloren! Und ich hatte doch so fest auf diesen Abend und die Festfreude gerechnet!«
»Nun, Vater, da werde ich denn doch wohl das Letzte unternehmen müssen,« entgegnete der ›Drakenhöfer‹ mit einem gewaltsamen Lächeln, »es fällt mir schwer, sehr schwer, Vater, aber um des Friedens der Kinder willen dürfen wir Alten schon zum Kriege greifen!«
Das mußte denn auch geschehen sein. Denn: Am nächsten Mittag, – es war ein prachtvoller Wintertag mit dem schönsten blauen Himmel, einer glänzend weißen Schneedecke und der reinsten Frostluft, – kamen Silbergs so recht wie Besiegte an, und der Magister grüßte schon von ferne mit der Hand dem in der Haustür stehenden ›Junker‹ entgegen – das war seither nicht leicht mehr vorgekommen! – Und jetzt, da man sich aus dem Flur auch mit den übrigen begrüßte, nahm er nochmals die Hände des alten Freundes und schüttelte sie wie von einem innerlichen Aufruhr übermannt. Aber er sagte nichts, sondern schritt weiter zu Blanka, die sich schüchtern im Hintergrunde hielt. Er zog ihren Arm in den seinen, lächelte sie mit Tränen in den Augen an, zog sie bis ans Ende des Flurs, und dort flüsterte er ihr zu: »Nun, Kindchen, du sahst vorhin in der Kirche recht fromm und versöhnlich zu mir herüber. Wie ist's? Kannst du uns noch wieder lieb haben?« Da schlang sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn stürmisch ab und schrie fast voller Glückseligkeit: »O liebster – liebster Großpapa!« worauf er sich von ihr freimachte, eine seiner neuen Würde entsprechende Haltung einnahm und sprach: »Ja, ja, so geht's! Wo wir nicht gleich mit Ja und Amen bei der Hand sind, ihr Grashüpfer, da duckt ihr euch nieder und schmollt. Aber wo wir nachgeben, wißt ihr von nichts als Karessen. Also – Großpapa sagtest du. Nun gut, ich nehme den Titel an, verlange aber dafür, daß du deine Liebe zwischen dem alten und neuen Großvater rechtschaffen teilst!«
»Na, du großer Feldherr,« sagte indes der ›Junker‹ zum ›Drakenhöfer‹, »wie ist dir das gelungen?«
»Ich habe ihn Mariens Briefe lesen lassen!« lautete die von einem wehmütigen Lächeln begleitete Antwort.