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Der fünfte August war zu Menkendorf immer ein großer Tag, wo im Hof und im Pfarrhause und im Dorf alles voll von Blumen, Kränzen und Girlanden und alt und jung von morgens früh bis abends spät und bis in die Nacht hinein, in Lust und Behagen war; denn an diesem Tage war vor so und so viel Jahren einmal Detlef Gunsleben, der ›Alte von Menkendorf‹, geboren worden, und es sprach für die Liebe der Seinen und die Anhänglichkeit aller Bekannten, das heißt also des halben Ländchens, daß man den Tag jahraus jahrein auf das herzlichste beging, ja, daß nicht nur die Familienglieder, sondern auch alle näher Befreundeten sich, wo irgend möglich, einzustellen pflegten. Und merkwürdig genug: der Tag war stets ein schöner gewesen und die Festfreude niemals gestört worden, – bis auf ein einziges Mal, damals nämlich, als man kurz zuvor die Leiche des Schwiegersohnes, des Präsidenten von Warneck, im Walde entdeckt hatte und zwei Tage darauf, am vierten, auch seine Gattin gestorben war. Da hatte man freilich nicht heiter sein können, und die Familie war unter sich geblieben. Und es war damals, als ob selbst die Natur mittrauern wollte. Es kam, gegen Mittag ein schweres Gewitter von der See her über den ganzen Menkendorfer Winkel, und der Blitz zündete auf dem Hofe, und man hatte schwer zu arbeiten und durfte noch von Glück sagen, daß man nur ein paar Gebäude und nicht den ganzen Hof verloren gehen sah.
Im jetzigen Jahre war dagegen gottlob alles in schönster Ordnung. Die Familie und die Freunde, Nachbarn und Bekannten hatten sich auf das zahlreichste eingestellt, manche schon tags zuvor, manche erst am heutigen Morgen oder gegen Mittag, und was sich auf dem Hofe und im Pfarrhause nur an Gastzimmern fand, das war voll, und wo sich in den zahlreichen Wirtschaftsgebäuden nur irgend etwas wie ein Stall herrichten ließ, da standen die Pferde der Gäste, während die Fuhrwerke auf dem Hofe schier eine ordentliche Wagenburg bildeten. Sogar Moritz, der Oberstleutnant, hatte sich trotz des nahenden Manövers auf ein paar Tage frei zu machen gewußt und Frau und Tochter begleitet, und mit dem Onkel und der Tante und all den Kleinen aus dem Stadtpfarrhause zu St. Marien war auch Alfred Wehrenberg erschienen, neuerdings ein seltener Gast. – An Sorgen und Verdruß fehlte es ja allerdings auch heuer nicht in der Familie; aber sie waren am Ende doch nicht so schwer, daß man sie nicht für eine Weile hätte auf die Seite schieben und vergessen können.
Der Morgen war in munterem Durcheinandergewirre auf das heiterste vergangen, und der›Junker‹ war ganz glücklich, denn wenn es dem alten luftigen Herrn recht wohl werden sollte, so mußte er es voll um sich sehen von vergnügten Gesichtern und lachenden Augen. Seine beste Zeit kam freilich erst hernach. An solchen Festtafeln, wo man an seinen Platz gebunden ist und Stunde auf Stunde in verhältnismäßiger Ruhe aushalten muß, wurde es dem lebhaften und unruhigen Alten nach einer Weile sozusagen ein wenig unheimlich, und er sehnte sich nach zwangloser Bewegung und freier Luft. Und dieses Beste verschaffte er sich auch heute alsbald. Mochte die Jugend sich ihre Spiel- oder Ruheplätze suchen, wo sie Lust hatte, und die würdigen Damen mit ihren alten Verehrern, ihren Kaffeetassen, Verlobungsgerüchten, Heiratsplänen und sonstigen Herzensergießungen nach Belieben ihren Neigungen folgen, – er jedenfalls zog jetzt mit seiner »alten Garde« nach dem geliebten alten Platz, nach der sorgsam gepflegten Buchenlaube, die sich unweit des Hauses erhob. Da konnte sich es jeder ganz nach Wunsch behaglich machen, der eine bei seiner Zigarre und seinem Kaffee, der andere, von älterem Schlage, bei der Pfeife und dem Glase Wein. Dazu plauderte man und lachte und ging auch, wenn's darnach war, dem Ernst nicht aus dem Wege. Und das war soeben wieder der Fall.
»Wie hast du eigentlich den Alfred gefunden, Onkel Silberg?« fragte der Oberstleutnant Moritz von Gunsleben, »ich sag's ehrlich, ich war nicht wenig überrascht, als er mir plötzlich die Hand bot. Vorgestern meinte er noch, an sein Mitkommen sei gar nicht zu denken. Wir werden je länger desto weniger aus ihm klug.«
»Ja, was soll ich dir antworten?« versetzte der alte Pfarrer ruhig. »Marie hat uns gleichfalls von seinem veränderten Wesen gesagt, und ihre Mutter schreibt uns auch allerlei Bedenkliches. Was ich bisher sah, sprach bei mir mehr für als wider ihn. Er scheint müde zu sein, – sie spannen ihn drinnen ja auch tüchtig an! – und das macht wohl jeden schweigsam. Und was den Ernst angeht – nun, er lernt daß Leben kennen und fassen wie ein Mann. Das geht nicht immer ohne Schwielen ab.
»Es denken nicht alle so wie du,« sagte darauf Moritz, der Oberstleutnant, kurz und schwieg.
»Ich fand Alfred gleichfalls verändert,« bemerkte jetzt Wolfgang, der älteste Sohn des Hauses, der als Herr auf Drakenhof saß, »und ich war nur nicht überrascht, sondern beinah erschreckt auch, da er mich vor Tisch begrüßte, – mir war, als sähe ich seinen Vater vor mir.«
»Sieh keine Gespenster, Freund!« ereiferte sich da der alte Silberg, »sein Vater war krank, und das ist der hier gottlob noch nicht. Und wäre es wirklich zu einem Fehlgriff oder Fehltritt gekommen, – der Mensch bleibt am Ende immer Mensch! – ich würde auch darum nicht sorgen. Ich kenne seine Natur und seinen Charakter, – sie arbeiten sich durch.«
»Wollte Gott, man könnte das auch von anderen hoffen!« murmelte der ›Drakenhöfer‹ die Stirne runzelnd.
»Gegen den Vergleich stelle ich mich aber doch dawider,« mischte sich der Oberstleutnant wiederum ins Gespräch, »mögen wir wider den Alfred haben, was wir wollen, mit dem unverbesserlichen Burschen, dem Eugen, werfe ich ihn doch nicht in einen Topf!«
»Ganz recht! Und dennoch ist auch in diesem etwas, das einen immer wieder beschwichtigen möchte. Du wirst gehört haben, wie er sich bei den Nachrichten über Viktoria benahm. Es ist darin nicht bloß ein gesundes Urteil, sondern auch etwas wirklich Ehrenhaftes.«
»Komödiantenkünste, Wolfgang, glaub' es mir! sagte Moritz Gunsleben wegwerfend.
Silberg aber wiegte das weiße Haupt. »Das möchte denn doch wohl zu hart sein, Moritz, sage: Strohfeuer, und ich stimme zu. Deinen und deines Vaters ehrlichen Glauben kann ich jedoch gleichfalls nicht teilen, Wolfgang! Er hat uns durch solche Aufwallungen gar zu oft getäuscht.«
»Zugestanden,« entgegnete Wolfgang, »und dennoch ist hier etwas, das mir ein besseres Vertrauen einflößt, – selbst in der unglückseligen Schuldensache. Er muß in den nächsten Tagen wiederkommen, – allein oder mit seiner Schwester.«
Der Oberstleutnant pfiff da so schneidend vor sich hin, daß sein Bruder ihn überrascht anblickte. Und indem er diesen Blick aushielt, knurrte er: »Wenn er nicht ausbleibt, – richtig!«
»Ich verstehe dich nicht, Moritz,« meinte Wolfgang betreten. »Du denkst doch nicht –«
»Daß einer, dem das Messer an der Kehle sitzt, vor allem an seine Rettung um jeden Preis und erst hernach an seine Ehre denkt, – das glaub' ich von dem allerdings. Er wäre dümmer, als ich bisher gewußt, machte er sich die ergaunerte Freiheit nicht zunutze.«
»Aber ich verstehe dich wahrhaftig nicht,« sagte der ›Drakenhöfer‹ immer betroffener und unruhig forschend bald auf seinen Bruder Moritz, bald auf den alten Pfarrer Silberg blickend.
»Hat man dir noch nichts von dem fabelhaften Spielgewinn, den sogenannten Abzahlungen, den Grimm gegen den so zeitgemäß ›abgefahrenen‹ Willmanns erzählt?«
In diesem Augenblick trat ein alter Diener eilig zu Pfarrer Silberg heran und meldete gedämpft: »Herr Magister, Stahlberg ist da und verlangt Sie zu sprechen.«
»Stahlberg?« wiederholte der alte Herr verwundert. »Was will denn der von mir? Ist ein Unglück geschehen, Karl? Hat er nichts Näheres gesagt?«
»Nichts, Herr!« lautete die Antwort. »Er müsse Sie sprechen und gleich, sagte er. Und daß es ihm Ernst ist, sieht man. Er war ganz ohne Atem vor Eile.«
»Na, da hilft nichts, und neugierig bin ich auch,« meinte hierauf der Pfarrer achselzuckend und erhob sich. »Stahlberg ist kein Haselant, sondern ein zuverlässiger Mensch. Es muß etwas Ernstes sein. Also – auf baldiges Wiedersehen, denk' ich.« Und damit leerte er sein Glas und ging.
Sein Aufbruch hatte auch bei der Gruppe am anderen Ende des Tisches Beachtung gefunden, und der ›Junker‹ rief ihm lustig nach: »Du alter Ausreißer da, wo willst du hin? Das gilt nicht, weißt du!«
»Will vielleicht einen Tanz machen im Saal, – sie haben, glaub' ich, schon angefangen!« scherzte ein anderer, worauf Silberg noch einmal lachend zurückschallte, ohne indessen etwas zu erwidern oder anzuhalten.
»Nun, Stahlberg, sagt mir, was soll das, was heißt das?« fragte er beim Eintreten ins Dienerzimmer den Wartenden, der sich zu dem ihm vorgesetzten Glas Wein nicht niedergelassen hatte und ersichtlich mit Hast ein Stück Kuchen aß. »Verschluckt Euch nicht, Alter! So eilig wird's am Ende doch nicht sein!« Der aber legte den Rest auf den Teller zurück und trat zu ihm. »Gottlob, Herr Magister, daß Sie da sind!« sagte er erleichtert. »Es eilt doch sehr, fürcht' ich, obschon ich's noch nicht recht kapiere –«
»Na denn, in des Kuckucks Namen – schießt los!«
»Es ist Besuch gekommen, Herr Magister. Aber wenn's Ihnen recht ist, so gehen wir gleich, – mit müssen Sie, Herr, auf jeden Fall, es geht nicht anders! – und ich erzähle Ihnen alles unterwegs.«
Silberg schaute den vieljährigen Vertrauten forschend an, und da er in dem ehrenhaften Gesicht des Mannes eine unverkennbare Unruhe wahrnahm, so sagte er, die Brauen zusammenziehend: »Besuch, sag! Ihr? Ist's am Ende der Unglücksmensch, der Eugen mit seiner Schwester?«
»Nein, nein, Herr, die sind's nicht, aber mit dem Herrn Grafen zusammenhängen möcht's doch,« entgegnete Stahlberg verlegen und unruhig.
»Geht bis zum Fußsteig voraus, Alter,« sprach der Pfarrer nun in einem beschwichtigenden Tone. »Ich will nur die Pfeife abgeben und mir den Hut reichen lassen und bin den Augenblick bei Euch. Oder soll ich auch noch jemand mitbringen?«
»Ich glaube, Herr Magister, Sie bleiben zuerst am besten allein.«
»Also, wie ich sagte, Alter, den Augenblick!« nickte Silberg und eilte mit seinem raschesten Schritt durchs Haus, über den Hof und zwischen Stall und Scheune der Pforte zu, durch die man auf den »Herrensteig« gelangte, der die nächste Verbindung zwischen dem Pfarrhofe und dem Herrenhause herstellte. »Und nun, Alter,« fragte er, ohne anzuhalten, zu dem sich ihm hier anschließenden Küster, »heraus mit der Sprache! Ihr habt mich tüchtig neugierig und auch besorgt gemacht.«
»Es ist, glaub' ich, auch danach, Herr Pfarrer,« versetzte der unsicher, »obgleich ich's nicht recht kapiere, – ich sagt' es schon. Des Postmeisters Johann hat eine Madame gebracht, oder was sie ist, und sein Herr läßt dem Herrn Pfarrer unter der Hand melden, sie sei in der Nacht mit der Post angekommen und habe mit aller Gewalt gleich weiter und hierher auf den Hof und zum Herrn Grafen Eugen Altheim gewollt. Und da man ihr gesagt, der sei nicht hier, so habe sie gemeint, das sei eins, er werde schon kommen, und sie wolle zu seinem Großvater. Der wisse schon von ihr und werde sie Wohl aufnehmen. Der Postmeister hat das alles nur so halb verstanden, denn sie ist eine Welsche und kann schlecht Deutsch. Aber es ist ihm sehr merkwürdig vorgekommen; und daß heute hier das Fest ist, weiß er ja auch, und daß man da keinen Verdruß haben will. Und da er kein Recht hatte, sie zurückzuhalten, so schickt er sie zu Ihnen, Herr Pfarrer: Sie würden schon wissen, was da am besten zu tun sei.«
»Weiter, Stahlberg.«
»Herr, was könnt' ich tun? Ich habe den Johann auf den Pfarrhof fahren und ausspannen lassen und sie ins Haus gebracht, habe ihr vom Fest auf dem Hofe gesagt, und daß sie jetzt nicht dahin könne. Ich wollte Sie holen, daß sie mit Ihnen rede. Und dann bin ich in Angst fort, denn sie ist voll Ungeduld.«
»Weiter, Stahlberg, was noch?«
»Nun ja, Herr, jung ist sie und sauber auch, obwohl recht angegriffen von der Reise. Und eine Jungfer ist sie wohl auch nicht mehr.«
»Auch das noch! Es ist eine Schande, – eine Schande mit dem Menschen!«
»Ich habe sie ins Gartenzimmer geführt,« sagte der Küster nun gedämpft, denn man war vor dem Pfarrhause angelangt.
»Ganz recht, Alter! Bleibt bei der Hand, wenn ich Eurer bedarf.« Und damit ging Silberg über den Flur und trat in das genannte Zimmer.
Eine Dame stand am Fenster und schaute in den Garten hinaus, die Hände krampfhaft ineinander geschlungen; eine liebreizende, zierliche, ja schmächtige Gestalt von einer Haltung, die sie als Mitglied der guten Gesellschaft erscheinen ließ. Jetzt wandte sie sich um, sah aus dunklen Augen den Geistlichen prüfend an und sagte dann mit einer leichten Verbeugung in fragendem Ton: »Monsieur le curé?«
»Der bin ich, – ja, Madame,« versetzte Silberg nähertretend, mit festem Mick, »und komme auf Ihrem Wunsch –«
»O, – nicht doch!« unterbrach sie ihn erregt und fuhr, mühsam die Wörter zusammensuchend, fort, »nicht zu Ihnen, – ich weiß schon von Ihnen, – nein, zu dem Herrn dieser Besitzung, zu diesem Herrn – ›Junker‹ will ich oder zu Eu –, zu dem Grafen Eugen Altheim, – und ich weiß nicht, warum man mich zurückhält, drunten in der Stadt schon und hier abermals –«
»Erlauben Sie mir einen Vorschlag, Madame! Reden Sie lieber Französisch, – ich spreche es nicht mehr, werde es aber noch zur Genüge verstehen; und da Sie einigermaßen unser Deutsch zu kennen scheinen, werden Sie meine Antworten gleichfalls fassen. Wir dürften uns so am raschesten verständigen. Sie haben eine weite Reise gemacht und sind müde. Nehmen Sie einen Platz an und ruhen Sie, während wir sprechen.«
»Ich kann nicht ruhen,« versetzte sie, indem sie sich dennoch niederließ, nunmehr ihre Muttersprache sprechend. »Ich komme nicht so weit her, um nun zuletzt mich noch aufgehalten zu finden.« Und wieder aufspringend, redete sie erregt weiter: »Haben Sie Erbarmen, mein Herr! Ich muß zum Grafen Eugen oder zu seinem Großvater, – ich ertrage diese Ungewißheit nicht mehr!«
»Haben Sie Geduld, Madame, es wird sich hoffentlich alles ordnen, wenn wir nur erst von allem wissen. Sagen Sie mir einiges von sich und Ihrem Leben. Sie kennen also den Grafen Altheim?«
»Den Grafen Eugen, meinen Verlobten? Welch ein böser Spaß!« »Ihren Verlobten?« zweifelte der Pfarrer unwillkürlich.
»Mein Herr, glauben Sie, daß ich lüge? Ich bin seine Braut, – hier ist sein Ring!« – Sie zerrte, feuerrot im ganzen Gesicht, den Handschuh von der Hand. »Da ist er! Wir gehören einander. Er wollte heimreisen und mit seinem Großvater reden. Zu Ende des Mai wollt er bei mir sein und mich abholen. So hat er es beschworen, so hat er mir auch im April von Genf geschrieben. Ich habe ihm dann geantwortet und von meiner – Lage gesagt, und er hat mich beruhigt in einem neuen Brief. Seitdem aber hörte ich nichts mehr von ihm. Und zuletzt hielt ich's nicht länger aus und reiste ab, ihm nach, hierher.« Sie hatte so schnell gesprochen, daß sie nun ganz außer Atem war. »Sein Großvater wäre ein harter Mann, sagte Eugen; aber wir würden ihn besiegen mit unserer Liebe,« fuhr sie dennoch zu reden fort. »Ihn muß ich sehen, – ihm werfe ich mich zu Füßen. Er hat kein Recht, uns zu trennen, wir gehören zueinander. Ich will Eugen sehen. Wo ist er? – Er darf nicht zögern, denn er ist ein Mann von Ehre. Halten Sie mich nicht länger auf, mein Herr! – Oder« – und es kam etwas wie eine jähe Angst in ihren Blick, und ihre Hände preßten sich zusammen – »oder ist er nicht hier? – Ist er krank? – Ist er tot?«
Der Zuhörer stand und fühlte sich bis ins Herz erschüttert. Und wie er das unglückliche Geschöpf da vor sich sah, in solcher Not, in solchem Vertrauen und so gewissenlos geopfert, da überkam es ihn mit steigendem Erbarmen, aber auch mit tiefer Entrüstung und nicht weniger Verachtung gegen den Nichtswürdigen, und wiederum mit schwerer Sorge für den alten Freund und die Seinen, deren Frieden er auf das ernsteste bedroht sah, ohne helfen zu können. Gl hatte sich im langen Laufe seines Daseins niemals bewegter gefühlt und niemals unsicherer in widerstreitenden Empfindungen. Und er stand und schaute die Frau an, – – was konnte er tun, und was durfte, was mußte er tun?
»Sie trat jetzt noch näher auf ihn zu. »Mein Herr,« sprach sie mit ungezügelter Leidenschaft, »sagen Sie mir die Wahrheit. Was ist geschehen? Was halten Sie mich so grausam auf? Ist der Graf Eugen nicht hier, – wo ist er dann? – Ist er krank? – Ist sein Großvater so heftig erzürnt? – Ich fürchte das nicht. Ich will zu ihm –«
Pastor Silberg hatte sich indes gefaßt und erhob abwehrend die Hand. »Zuerst, meine ich, müssen Sie ruhig werden, mein Kind,« sagte er einst. »Sie haben gehört, daß man heute drüben ein Fest feiert, und daß sehr viele Gäste da sind. An eine Unterredung mit dem ›Junker‹ oder den Seinen ist nicht zu denken, oder wollen Sie vor den Gästen diese erzwingen?«
Sie wurde wieder dunkelrot. »Aber ich will, – ich muß Eugen sehen, – ich ertrage dies nicht länger! – Man sagt mir, er sei nicht hier, – ich glaube das nicht. Ihr wollt mich von ihm trennen, – ich dulde das nicht!« rief sie heftig und mit zornigen Tränen in den Augen.
»Noch einmal, Sie müssen Vernunft annehmen! Haben Sie so lange gewartet, so können Sie auch noch bis morgen warten, – etwas anderes will niemand von Ihnen. Und mit dem Grafen ist es, wie man Ihnen sagte, – er ist nicht hier. Er war's vor kurzem ein paar Tage, aber er reiste wieder ab.«
»O, ich verstehe, – ich verstehe gut!« begann sie nun fast zu schreien, »ihr wollt uns trennen, – ihr verstoßt uns, – aber ihr kennt uns noch nicht! Die ganze Welt –«
»Diese Leidenschaft nützt Ihnen nichts, sie schadet Ihnen nur. Sie müssen sich mäßigen und die Dinge ansehen, wie sie sind. Hören Sie mich an, – ich spreche die Wahrheit. Der Graf war hier, sage ich. Von Ihnen hat er weder jemals geredet, noch jemals geschrieben –, ich bin ein alter Vertrauter des ganzen Hauses und würde davon erfahren haben.«
Jetzt starrte sie den Geistlichen ungläubig an. Aber da er den Blick ruhig erwiderte, wurde sie plötzlich blaß, und mit jäh aufsteigenden Tränen murmelte sie: »Mein Herr, – er ist ein Mann von Ehre, – er kann mich nicht verlassen!«
»Man erwartet ihn in diesen Tagen zurück. Wir werden dann sehen. Sie dürfen uns nicht mißtrauen. Man wird, ich verbürge es Ihnen, Ihre Rechte wahren. Aber vor allem muß man mehr von Ihnen erfahren. Fassen Sie sich und erzählen Sie mir alles. Vertrauen Sie mir, – Sie sehen, ich meine es gut mit Ihnen.«
War es Silbergs ernste und beruhigende Weise oder ihre, durch die bisherige Aufregung noch gesteigerte, sichtbar große Erschöpfung, – sie wurde wirklich ruhiger, und nachdem sie ihre Tränen getrocknet hatte, gelang ihr eine, freilich nur kurze und abgerissene Mitteilung. – Sie stammte aus einer kleinen französischen Provinzstadt von armen, aber, wie es schien, achtungswerten Eltern. Seit Jahr und Tag hatte sie bei einer vornehmen russischen Familie als Bonne gelebt und war bei dem Winteraufenthalt zu Mentone mit dem die Familie besuchenden Grafen Eugen bekannt geworden und ihm erlegen. Nach seiner Entfernung hatte sie bald ihre Stelle verloren, ohne sich, infolge seiner Vorspiegelungen, viel darum zu grämen. Sie hatte sich seitdem an einem verabredeten Platz in der Schweiz mit ihren Ersparnissen und einigen Zuschüssen von ihm, so gut sie's vermochte, durchgebracht, bis die Mittel zu Ende gingen und ihr Zustand immer bedenklicher wurde. Dann war sie aufgebrochen und nun endlich hier. – Die Leidenschaft, die Leichtgläubigkeit, der Leichtsinn und alles, was sich sonst noch in diesem Bekenntnis offenbarte, nötigte dem Zuhörer mehr als ein Kopfschütteln ab. Allein der alte Herr war allzu einsichtig und billig denkend, als daß er die Schuld der Unglücklichen für größer hätte erklären sollen, als sie in Wirklichkeit war. Es sprach ihn überdies aus allem etwas an, das ihn keinen Augenblick an der Wahrheit ihrer Mitteilungen zweifeln ließ, und je mehr er hörte, desto ernster wurden seine Teilnahme und sein Erbarmen für das arme Geschöpf.
»Also, mein armes Kind, Sie bleiben hier. Ich will meine Frau rufen. Sie müssen sich stärken und ausruhen, – Sie sind sich das schuldig. Morgen werden wir weiter sehen, und es wird gewiß noch alles gut werden für Sie!«
»Meinen Sie wirklich?« flüsterte sie, während die warme Welle eines leisen Lächelns eine große Tränenperle auseinanderbrach.