Arthur Holitscher
Das unruhige Asien
Arthur Holitscher

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Ägypten und Palästina

Der Friseur auf der »Helouan«

Der 8. März 1925 ist ein Sonntag (»Reminiscere«). Selig schwimmt die »Helouan« auf etwas bewegten Wellen an Kreta vorüber. Dem braunen Tigerrücken verbrennt die Nachmittagssonne in breiten Streifen den Pelz. Unten in der zweiten Klasse hat sich die Reling entlang ein munterer Korso entwickelt. Jugend stolziert, froh und laut, drängt sich aneinander vorbei, jedes sein Tempo wahrend. Es ist beschwingt, dieses Tempo, denn die »Helouan« zieht der Küste Ägyptens entgegen, morgen ist man im Heiligen Land.

Nur ein paar Alte stehen still auf dem hinteren Deck. Gestern war Sabbat, sie haben noch nicht genug vom Beten, scheint's. Ihre Megillen liegen aufgeklappt auf den großen Kisten, die fast das ganze hintere Deck einnehmen. Diese Kisten tragen in Schablonenschrift das magische Wort Ford aufgepinselt. Die Alten wackeln mit steifen Beinen beim Lesen. Die Autos in den Kisten rühren sich nicht.

Hinter mir, im Musiksaal erster Klasse, sitzt ein »Blauweißer« am Flügel und übt mit einem Finger die Hatikwah, die Hoffnungshymne der Zionisten. Einen Ossendowskiband unterm Arm, stehe ich und höre gerührt zu. In drei Wochen werden wir nach der Eröffnungsfeier der Universität auf dem Skopus ob Jeruschalajim die Hatikwah singen. Meine Hoffnung berührt aber nur flüchtig den Skopus; sie fliegt nach Osten, Bagdad, Indien, Ceylon, denn diesmal geht es weiter, weiter, nach China, nach der Mandschurei, über sieben unerhörte Monate hinüber in die Ferne . . .

Die Sonne sprenkelt das Tigerfell mit grünen Lichtern; es zuckt über Kreta, dem alten Berg dort drüben auf – dir scheint ja das Fell zu jucken, alter Kamerad, hallo!!

Ich habe in dem verdammten Ossendowski gerade das Kapitel von der Erledigung der Roten Partisanen gelesen. Von der Durchquerung des eisigen Flusses. Von der Bestechung des Tibetaners mittels eines 8 mitgebrachten goldenen Eheringes. Auf einmal entdeckt der erschöpfte Reisende eine ganze Hausapotheke in seiner Satteltasche, voll der bezauberndsten Elixiere, mit denen er irgendeine augenkranke Fürstin magisch heilt . . . wenn das nicht geflunkert ist! Ich beschließe, in China ein parodistisches Kapitel über ähnliche mirakulöse Rettungen aus Todesgefahr zu fabrizieren. Warum nicht gleich? Hier auf der »Helouan«? Auf der Stelle? Ich will jetzt weiß Gott meine Schreibmappe aus der Kajüte holen, mich ins Schreibzimmer begeben, noch vor dem Abendessen wird das Kapitel fertig sein!

Das Schiff zittert, es schaukelt, schwebt leise vorwärts; die Alten vor den Fordaltären haben ihre Megillen eingesteckt und sind verschwunden. An die Reling gelehnt, flirtet ein Chaluz mit einer dunklen Schönheit aus Kowno. Er zupft mit einem Taschenkamm an seinen aufgezwirbelten Haaren, daweil die Dunkle mit allzu roten Lippen gegenflirtet. Ich werde ein gutes Kapitel im renommistischen Stil des Ossendowski schreiben, Kapitel 31 vor Kapitel 1, in den Fingerspitzen juckt's mich schon!

Gestern waren wir in Brindisi . . . jedes zweite Haus trug in Schablonenmalerei die sinistre Fratze des »Duce«, das heißt Mussolinis – besonders auf neugestrichene Fassaden hatten es die Burschen abgesehen – darunter den Wahlspruch: »A Noi!! Per Forza!!!« Und die überall herumpatrouillierenden Schwarzhemden mit Troddelmütze und Patronentaschen um ihre verwegenen Hüften! Ich sehe nicht ein, warum ich nicht ein paar solcher Operettengestalten in das Chinakapitel hineinpraktizieren soll? Und das Pärchen von der Reling mit hinein, warum nicht auch den Hatikwahspieler? Treibe ich nicht dem phantastischen Osten entgegen, dem unkontrollierbaren Asien, Bagdad, Engeddi, dem Persischen Golf, Singapore, Canton . . .

 

Ein paar Minuten später sitze ich beim Friseur und lasse mir ein bißchen den Kopf waschen. Champoon von außen, während im Schädel das Ossendowskikapitel schäumt und Blasen wirft.

Draußen vor der Friseurkabine spaziert Kowno, Wilna vorüber, Warschau, die Nalefki, leise schaukelnd im zunehmenden Abendwind, von der glorreichen Sonne rötlich beschienen. Der Friseur, ein flinker Dalmatiner, erzählt mir in seinem putzigen Italienisch von vielfachen 9 Fahrten, jahrelang auf den Ostindiendampfern des Triester Lloyd. Jetzt pendelt er auf dem Luxusschiff rastlos zwischen Triest und Alexandrien hin und her. Ich mache ihn auf die Eleganz draußen aufmerksam, auf den Korso von Kowno, Wilna, der Nalefki, denke bei mir, während mir zehn Finger in den Haaren wühlen, daß es vor drei Jahren, als ich zum erstenmal dahinüber und dann weiter nach dem Heiligen Lande fuhr, doch eine andere Menschensorte war, hier unten auf den unteren, den hinteren Decken – junge prachtvolle robuste Arbeiter, ganz still und unelegant.

So, nun bin ich entlassen. Der Friseur öffnet mir die Tür zum inneren Korridor – ich aber ziehe es vor, draußen mich unter den Korso zu mengen, mitten in die Eleganz der neuen palästinensischen Einwanderung auf Deck C der »Helouan«, angesichts des Tigerrückens, der weiter und weiter achterbord im rosafarbigen Abend bläulich, unirdisch transparent verschwebt, bis von seinen Schneebergen nur ein Schimmer, wie eine unbewegliche Wolke, am Firmament sich auflöst.

Stark, duftig wie Wein, beglückend und voll strömt mir die Seeluft durch Mund, Nase, alle Poren, in Lunge, Hirn und Herz; ganz offen bin ich, der Seewind pfeift, singt, orgelt durch mich hindurch, als wär' ich ein Instrument, ein Glockenspiel, Harfe, Posaune . . .

Die Schiffsglocke schlägt an, hart, fünfmal, sechsmal: Ablösung!

Jetzt will ich hinauf, ins Schreibzimmer, auf Deck A, trete über die Schwelle ins Schiffsinnere, der Metallrand der hohen Schwelle hält meinen Stiefelabsatz zurück, Leute eilen auf mich zu, wollen mich auffangen, schon bin ich hingestürzt, das Buch flog weit von mir weg, nach vorn, ich werde in die Höhe gezogen, blicke in erschrockene Gesichter, versuche die Hand zu bewegen – mein Arm ist gebrochen, mein rechter Arm ist gebrochen, mein rechter Arm ist gebrochen . . .

 

Die Arztkabine mündet auf den Korridor, den inneren Korridor von Deck C. Im Vorübergehen sehe ich noch die Tür der Friseurkabine offen stehen, die der Friseur mir geöffnet hatte, vor kaum zwei Minuten, und durch die ich nicht gegangen bin.

Während ich auf das weißüberzogene Sofa in der Arztkajüte gestreckt werde, Kognak zu trinken bekomme, der Heilgehilfe ein Brett für den Arm, Verbandzeug, Watte vorbereitet, erzähle ich dem Arzt: eine 10 Woche erst unterwegs – nach Ägypten, Palästina, Bagdad, China, die Mandschurei . . .

Der Arzt hat wasserblaue Augen, das typische starre Gesicht des Seemenschen, es fährt mir durch das Gehirn: so blicken Menschen ohne Hoffnung, welch ein Dasein, zwischen Triest und Alexandrien, hin und her, hin und her, jahrelang, jahrzehntelang. Der Arzt sieht mich an: jawohl, der Arm, hier und hier, er zeigt auf Stellen unter dem Gelenk der steifen, leblosen Hand. Gebrochen. Er hat die Korridortüre zugezogen, der Champoongeruch aus der Barbierstube sitzt jetzt ganz über meinem Kopf, um mich aber ziehen Jodgerüche, Karbol, ein unbestimmbarer Duft auch, von irgendeinem Frauenparfüm, vielleicht wurde der Arzt aus einer Kabine geholt . . .

Zehn Minuten später – es ist, als habe der Verstand es noch nicht recht erfaßt, was das heißen will: am Anfang einer Weltreise dieses Unglück! –, zehn Minuten später etwa gehe ich wieder Deck C entlang, inmitten des Korsos von Kowno, Wilna, der Nalefki. Dieselben Pärchen, Gruppen, jungen Eleganten stehen da, an die Reling gelehnt, auf demselben Fleck die meisten noch wie vor einer Viertelstunde, als ich, statt durch den inneren Korridor zu gehen, aus der Barbierstube hier heraus auf das Deck trat. Sie schauen mich an, sehen mit Erstaunen meinen Arm in der Binde, meinen steifen Arm in der breiten weißen Binde an, blicken mir nach, sprechen mich an, ich antworte . . . wildfremde Menschen reden zu mir, seit Triest habe ich mit niemandem an Bord gesprochen, jetzt habe ich im Handumdrehen hundert Bekannte, teilnehmende Freunde!

Ich denke bei mir: Wochen, Monate, Jahre, ein ganzes Leben lang magst du mit einer zerbrochenen, in Splitter zerschlagenen Seele durch die Menschen gehen – keiner wird dich daraufhin ansprechen, und wenn dein Unglück faustdick aus den Augen starrt –, aber wenn du dir einen Finger verstaucht hast und einen Wattebausch drumgewickelt trägst, werden sie dich ihrer Teilnahme versichern, dir ihr Mitgefühl kundgeben, stehenbleiben, dich anreden, fragen, deine Einsamkeit von dir nehmen . . .

Der Friseur kommt aus seiner Koje gelaufen: »Ma, Signor, che cosa? Che mai . . . vor zehn Minuten waren Sie doch noch bei mir drinnen!!«

»Arm gebrochen! Auf einer Stufe!«

11 »Und ich habe Ihnen die Tür zum Korridor geöffnet! Wären Sie dorthinaus gegangen, dort ist keine Stufe . . .«, er blickt mich mit erschrockenen Augen an, schweigt einen Augenblick, macht dann eine italienische Gebärde: ». . . aber, aber . . . es ist alles Schicksal! Man kann nichts machen, Signor! E destino! E destino!«

Die Nacht über liege ich in Kleidern in meiner Kabine. Die See geht scharf, das Schiff kracht, ächzt, steigt in die Höhe, fällt senkrecht nieder, stockwerketief. Draußen klatschen die Wellen bis ans festgeschraubte Fenster herauf, rinnen über die Planken, die Brettwand, die mein Bett vom Wasser trennt.

Rhythmisch, da nutzt kein Widerstemmen, rhythmisch wird mein kranker Arm gegen den Bettrand geschleudert. Das Licht brennt. Ich sehe meinen Verband. Habe genug betäubende Arznei bekommen, um einen Schiffbruch durchzuschlafen. Finde keinen Schlaf. Versuche Ossendowski weiterzulesen.

Mit einemmal schrecke ich auf wie aus Halbschlaf – eine Erinnerung ist plötzlich wie aus einer Fuge der Seele herausgefallen . . . liegt vor mir: Madame de Thèbes . . . wann war es doch? Januar 1897 hat sie mir's vorausgesagt: »Un accident en mer, méfiez-vous!« . . . auf einer Seefahrt, durch einen Sturz werde ich ein verhängnisvolles Unglück erleiden . . .

Fast dreißig Jahre sind es her. Gewiß habe ich während dieser dreißig Jahre nicht zweimal an diese Prophezeiung gedacht, obzwar ich sie, mit anderen merkwürdigen, merkwürdigen Voraussagen dieser außerordentlichen Frau, umständlich in mein Tagebuch notiert habe. Jetzt auf einmal ist es da, das Wort. Ich höre den Tonfall der Stimme, sehe den kleinen Tisch mit dem von dem niedern grünen Lampenschirm grell beleuchteten runden Lichtfleck, in dessen Mitte meine Hand liegt, während mein Gesicht im Dunkel bleibt; neben meiner Hand liegt die mit einem dreifach stufenförmigen, breiten goldenen Ring geschmückte Hand der Hellseherin . . . ein Sturz, auf hoher See . . .

Nach einer Weile, wie lange, eine Minute, eine Stunde? repliziert die Seele. Sie entgegnet Zwiefaches. Ein kleiner Schritt, eine Stufe zu kurz genommen, und das ganze Leben hat ein anderes Gesicht bekommen – und dabei, ich weiß es genau, ich habe die Stufe gesehen, den 12 Fuß gehörig gehoben, Gott ist mein Zeuge, ich habe den Fuß, wie sich's gehört, zur Höhe der Stufe gehoben! Es geht nicht mit rechten Dingen zu! Was war es, das mir die Ferse, den Stiefelabsatz auf den Metallrand niederpreßte, daß ich stürzen mußte, am Anfang einer Reise wie dieser – aber gleich darauf: Und was ist dabei? Das wird auskuriert! Eine Verzögerung von drei, von vier Wochen, und ich fahre weiter. Die Reise wird fortgesetzt, nach Ceylon, China, der Mandschurei. Verhängnis? Ach!! Und ich schlage den Ossendowski auf, dort, wo ich zu lesen aufgehört hatte.

 


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