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Ostersamstag der Griechisch-Katholischen.
Auf einer Tribüne gegenüber der Grabeskirche in der Altstadt Jerusalems. Der hochaufragende Bau der Kathedrale mit vielen Türmen, Galerien, Dach- und Mauervorsprüngen und Firsten, der enge, von hohen Mauern umgebene Hof zwischen der Kathedrale und unserer Hotelterrasse wimmelt von Menschen. An den Mauern des Hofes haben Händler Heiligenbilder, Rosenkränze, Kreuze aus Perlmutter und Ebenholz hingebreitet; dahinter, an die Mauern gepreßt, stehen und liegen Frauen in bunter orientalischer Tracht; der ganze Hof ist erfüllt von der sich schiebenden, stoßenden, bunten Menge, durch die die gelben Khakigewänder riesiger englischer knüppelbewehrter Polizisten stechen. Wie unten auf dem Hofviereck, wie oben auf den Dächern, den Firsten, sind hier auf unserer Tribüne im Terrassengarten des Hotels St. John Europäer und Asiaten, Christen, Araber lebhaft durcheinandergemengt.
Heut wird das seltsame Fest zelebriert, zu dem vor dem Kriege Hunderttausende aus Rußland gewallfahrtet kamen. In der Nacht vor dem Ostersonntag steigt ein Engel in die Grabeskathedrale nieder und entzündet das heilige Feuer in der Kapelle, die unter der Kuppel der Kathedrale errichtet steht. Die Kathedrale, die neben diesem Grabe auch Golgatha und viele andere heilige Erinnerungen bergen soll, ist längst als Ablagerungsstätte dreister Legendenfälschung entlarvt worden: Golgatha stand ja sicherlich außerhalb der Stadt, auf dem Hügel vor dem Damaskustor, an dessen Fuße General Gordon auch eine Grabstätte entdeckt hat, die des Arimathäers Erbbegräbnis sein könnte. Die Via Dolorosa aber führte in umgekehrter Reihenfolge der 58 gegenwärtig aufgezählten und mit Nummern versehenen Stationen selbstverständlich aus der Stadt hinaus und nicht in die Stadt zu dieser Stätte, auf die sie die Grabeskirche gebaut haben.
Die Sonne scheint grell auf das vielfarbige Gewühl herunter, das Tor der Kathedrale aber mündet in tiefe Finsternis. Hie und da huscht ein hellerer Schatten dort drinnen vorüber, oder aus dem Freien treten helle Gestalten durch das Tor und werden sogleich von der Finsternis verschlungen. Wo sind die Hunderttausende geblieben, die aus Rußland hierherzupilgern pflegten? Zuweilen geht ein altes Mütterchen durch die Menge, eine vor Kriegsbeginn hier steckengebliebene Babuschka, die seither alles verloren hat, aber auch alles, Heim, Dorf, Familie, nicht mehr weiß, was daheim bei Mütterchen Rußland vorgeht, nur soviel weiß sie, daß Väterchen nicht mehr da ist; in einem Tuch hält sie einem ein paar bemalte Ostereier hin, blickt den Passanten traurig an, bettelt nicht, steht nur da unter den lauten arabischen Krämern.
Hier oben auf der Tribüne wie unten im Hofe haben viele Kerzen, Fackeln, Laternen mitgebracht. Wenn drinnen das Wunder geschehen, das heilige Feuer in der Tat niedergestiegen, das heißt entbrannt ist, werden die Gläubigen in der Kapelle ihre Fackeln und Kerzen anzünden. Die Fackeln sind aus dreiunddreißig Kerzen ineinandergebacken – die Zahl der Lebensjahre Christi. Dann, wenn die Fackeln, die Kerzen brennen, suchen sich die ersten Fackelträger, Kerzenträger den Weg ins Freie. Die auf dem Hofe, die auf den Tribünen, die ganze Stadt, das ganze Land entzündet sein Hausaltarflämmchen an diesen ersten Kerzen und Fackeln, die das heilige Feuer in der Kapelle entfacht hat. (Vor dem Kriege trug ein Reiter die brennende Fackel in eiligem Galopp von Jerusalem nach Jaffa ans Meer. Im Hafen stand bereits ein Schiff unter Dampf, das unmittelbar, nachdem der Fackelreiter an Bord gegangen war, in See stach und das heilige Feuer durch die Dardanellen ins Schwarze Meer nach Odessa brachte, von wo es sich über das weite Zarenreich verbreitete: die Millionen Flämmchen vor allen Ikonen der entlegensten Bauernhütten Rußlands waren mittelbar an dem Feuer dieser Kapelle drinnen in der Grabeskathedrale entzündet.)
Aus einer Seitengasse naht ein Trupp heulender Menschen. Jünglinge, mit dem Tarbusch auf den geschorenen Köpfen, tragen auf ihren 59 Schultern einen baumlangen, säbelschwingenden Burschen. Die Menge auf dem Hofe, dem First, der Tribüne bricht in wildes Händeklatschen aus:
»Es lebe Gott!« . . . »Die heilige Jungfrau!«
Wie einem beliebten Tenor, wie einer berühmten Primadonna wird dem lieben Gott, der Mutter Christi zugejubelt. Der ganze bunte Hof, dieser ganze durcheinandergerüttelte Orient schreit, brüllt, applaudiert – dazu aber ist, von dem Orte her, wo die Frauen sich an die Mauer gepreßt halten, ein feiner, eigentümlich säuselnder Ton zu hören, ein Gezwitscher, dessen Sinn ich mir nicht zu erklären vermag und das, wie ein leichter Duft, ein überirdischer Nimbus, über dem Rasen der lauten Menge zu schweben scheint . . .
Die khakibekleideten Tommys allein, diese starken und wohlgenährten Jungen mit ihren nackten Knien und soliden Knüppeln, haben ihre Ruhe bewahrt. Dem Säbelschüttler und seinem Anhang halten sie ein Spalier offen, die brüllenden, tanzenden, springenden Burschen verschwinden im Dunkel der Grabeskirche.
Jetzt hört man auch noch andere Rufe als die, die Gott, der Jungfrau zujubeln. In stampfendem Rhythmus erhebt sich ein fanatisches Geschrei:
»Uns gehört das Feuer – uns allein!«
»Die Juden sind traurig heute! Die Juden sind unsere Hunde!« . . .
»Für uns allein ist das Feuer angezündet!«
Die Maroniter, eine wilde Sekte aus dem Libanon, Christen, deren Glaube irgendwie doch tief im Islam verwurzelt erscheint, haben die Abordnung mit dem Säbelschwinger in die Kirche entsandt – die Anzündung des Feuers also scheint eine gemeinsame Angelegenheit der Christen und Mohammedaner zu sein – wehe dem Juden, der sich an diesem Tage in der Grabeskirche sehen läßt!
Nachdem das wilde Geschrei auf dem Hofe sich gelegt hat und alles in Erwartung des Wunders zur Ruhe kommt, ist der süße zwitschernde Laut deutlicher zu hören. Jawohl, das Gehör täuschte nicht – die Frauen an der Mauer sind es, die den zarten Laut wie einen Kuß in die Luft hinaussenden: er soll die Liebe zum unschuldigen Lamm Gottes versinnbildlichen. Auf diese Weise vermengt sich Zartheit und 60 primitive Barbarei des tiefen, rätselhaften Orients an diesem Tage, an dem das Feuer aus dem Himmel erwartet wird. –
Inzwischen ist die Sonne auf Scheitelhöhe gestiegen, der Hof unter der Terrasse kocht in Hochsommerglut. Um das dunkle Tor der Kirche schwelt der Mittag in kleinen zitternden Flammen. Jetzt, jetzt muß das Wunder sich ereignen! Unruhig, aber doch furchtsam vor den khakifarbenen Garden mit den schlagbereiten Knüppeln, drängen sich die Fackelträger, die Kerzenträger durch die bunte Menge an das Tor heran.
Plötzlich schwingt die Luft in beängstigendem Dröhnen. Die Riesenglocke der Grabeskirche schlägt eherne Wellen gegen die Mauern, an die Brust der Menschenansammlung. Viele kleine hellere Glocken erschwingen im Nu in den Türmen zu unseren Häupten. Das Schreien, Rufen, das Gezwitscher des Hofes antwortet im betäubenden Chor: nun ist kein Zweifel mehr – das Feuer ist herniedergestiegen! Verzweifelt und mit erhobenen Knüppeln stemmen sich die Khakifarbenen gegen den unaufhaltsamen Anprall. Ein Flämmchen erscheint im dunklen Ausschnitt des Tores. Ein zweites. Wie Irrwische flirren zehn, hundert kleine Flammen drin in der Grabeskirche durch das Dunkel auf, stürzen sich dann nach vorn, in den sonnigen Hof, der die Flammen, die flackernden Feuerchen auffrißt, verschlingt; in wenigen Minuten brennen all die tausend Kerzen, Laternenlichtlein, Fackeln ringsum im Sonnenschein. Durch die schmalen Seitenpfade stürzt die Menge, mit den Flammen hoch über dem Kopf, in die Stadt hinaus, ins Land, – der Fanatismus der Maroniter teilt sich wie Ansteckung, Entzündung, Massenirrsinn dem Volk draußen mit, die Altstadt ist ein rauschender Strom geworden, der durch die verwinkelten Straßen, die Bazargäßchen, um Winkel und Treppenwege sich ergießt.
Hier, in weitem Umkreis um die Grabeskirche, ist kein Jude an diesem Tag zu sehen. Und doch, es wäre gut, sähen sie diese Menge, diese gewaltige Mehrzahl der Eingeborenen des Landes, unter deren Übergewicht ihr Häuflein fast verschwindet . . .
Aber unten, in der Nähe des Haram, um die alte Klagemauer, drängt sich zur selben Stunde eine andere Schar. Es ist Sonnabend. Sie ist durch die kleinen Winkelwege dahergekommen. Vor den ungeheuren, durch Küsse, Stirnanreiben, Tränen und Streicheln fiebernder Hände 61 glattgescheuerten Quadern stehen lautlos oder wimmernd, das Gesicht gegen den Stein gewendet, mit geschlossenen Augen, unhörbar, rasch sich bewegenden Lippen Menschen, Frauen und Männer in Gebetmänteln, Totengewändern. Sie stehen da, seltsam bewegt, mit wippenden Oberkörpern, nickenden Köpfen. Hier und dort hat einer sein Gesicht ganz in ein Steinloch, eine herausgeweinte, herausgekratzte, herausgescheuerte Fuge zwischen zwei Quadern vergraben. Tränen tropfen aus dem blassen Gesicht auf die Quadern der Mauer um das Alte Heiligtum herab.
Wunderbare, wunderliche Gestalten hochgewachsener, in bunte Samtkaftane gekleideter, mit Fuchsfellkappen angetaner Aschkenasen; Bucharen in üppig gemusterten Seidenmänteln; die kleinen öligen Yemeniten; viele Europäer, Amerikaner, die unzähligen Touristen, die zur Universitätseröffnung, zu Ostern ins Land gekommen sind. Mitten unter ihnen hält sich einer aufrecht, krank, mit zerbrochenen Gliedern, arm, stumm und verzweifelt, ein Jude, der nicht beten kann, sich der Worte des alten Gebets nicht besinnt. –
In den kleinen krummen Seitengäßchen, die den Wandernden von weitem schon die Nähe der alten Mauer verkünden, hocken, liegen an den Mauerrändern alte Bündel von zerfetztem Elend. Hier und dort reckt sich aus einem Bündel ein greiser, blutloser Kopf mit langen Strähnen, ein bärtiges, triefäugiges, armseliges Gesicht heraus. Eine Hand, mager und knöchern, streckt sich dem Vorübergehenden entgegen. Bettler, die Elendsten aus dem alten Stamm, hierher in das Heilige Land, in die Heilige Stadt verschlagen, niemand weiß wie, woher, in Lumpen versinkend, erlöschend, doch in der alten Stadt, in der alten Heimat!
Heute betteln sie nicht, diese Bettler um die Klagemauer! Heute sind sie Schenkende! Am Sabbat halten die armen zitternden Knochenhände den Vorübergehenden kleine Blumensträußchen entgegen. Sie sind es, die an diesem Tage die anderen beschenken, von deren Gnaden sie sonst ihr elendes bißchen Dasein fristen.
Gnadengeschenk sondergleichen! Wie der Segen des Bettlers mit dem grünen Turban in der Muski Kairos, senkt sich das Sträußchen des Armen, aus meinem Stamm, der Segen des mystisch tiefen Orients, auf die Binde um meinen kranken Arm nieder. Ich muß für die Gabe dem 62 Ärmsten heute ein Gebet abnehmen. Aus meinem wehen Herzen forme ich das Gebet, es wird an diesem Tage durch die Gnade des Bettlers zum Ewigen dringen.
Aus dem Emek, Nahallal, der Siedlung der »kleinen Gruppen« am Fuße der Bergeskette, die über Nazareth nach Haiffa führt, rollt unser Automobil den Osthang des Karmel empor. Hier weht uns schon der scharfe, würzige Wind der nahen Küste entgegen. Es ist eine stundenlange, beglückende Fahrt.
Auf der Bergeshöhe, dem Kamm des Karmel, den wir erreicht haben, gewahren wir eine kleine Siedlung ganz neuer Baracken. Die dürftig zusammengefügten Bretterbuden stehen dicht bei der Chaussee, über die zahllose Automobile vom Meer zum Emek, vom Emek zum Meer rollen.
Wir halten, denn diese Bretterbuden, diese neue Siedlung ist »Nachlath Jakub«, die Gruppe des Jablonnaer Rebben.
Wie wir näher an die Buden herankommen, bemerken wir ein paar kuriose Käuze. Ein dicker rotbärtiger Mensch und ein dicker schwarzbärtiger, beide in städtischer Tracht, aber mit den Gebetmänteln um die Schultern, tänzeln Arm in Arm an den Buden vorbei. Beide haben schwarze Sammetmützen auf dem Kopfe, rötlich und schwarz wehen Stirnlocken um ihre pausbäckigen Gesichter. Arm in Arm, tänzelnd und singend, bewegen sie sich zu einem Bretterstapel, holen sich einen Arm voll Bretter, den sie, der eine vorn, der andere hinten, zu einer im Bau befindlichen Baracke tragen. Mit einem Blick auf mich und meinen Freund, wir sind gerade aus dem Automobil gestiegen, singt der Rote und mit ihm der Schwarze ein Duett im Vorübertänzeln. Erstaunt hören wir den Text, der nach der Melodie des »Lieben Augustin« gesungen wird:
»Ja, wir müssen arbeiten, arbeiten, arbeiten!
Ja, wir müssen arbeiten . . .« (und so fort ad libitum).
Nun, wie gesagt, die Bretterbuden weisen, von nahe besehen, eine ziemlich unsolide, windige, fachunkundige Bauart auf. Nachts muß es, auf diesem Berggrat, ordentlich durch Fugen und Ritzen pfeifen!
Aus allen Baracken, den fertigen und bewohnten, den halbfertigen, 63 in denen noch gehandwerkt wird, lugen neugierige Gesichter zu uns heraus, Frauen und sehr viele Kinder. Alle tragen noch städtische Kleidung, und zwar recht gute Kleidung, es sind ja Kleinbürger und auch Leute aus dem wohlhabenden Mittelstand, Kaufleute, Beamte, Gewerbetreibende und ihre Familien, die mit fünfhundert Pfund und mehr aus Polen, eben jenem kleinen Ort Jablonna bei Warschau, gekommen sind, um sich hier auf dem Karmel, in dem Land der Väter niederzulassen. –
Ein armer junger Bursche mit verkrüppelter rechter Hand schleppt unter dem linken Arm mit Mühe und großer Anstrengung Bretter vom Stapel über den Boden vorwärts. Den Draht, der die Bretter zusammenhält, muß er mit der heilen Linken aufdrehen, er nimmt dazu seine Zähne zur Hilfe. Kleine Kinder machen sich nützlich, indem sie Nägel, Hobel, Zangen, Hämmer, munter laufend, den Alten überbringen. Es ist auf dem Berggrat neben der Chaussee ein gar munterer Betrieb.
Das erste Bretterhaus, das hier in der Siedlung fertiggestellt worden ist, war das Beth Hamidrasch, die Synagoge. Das zweite: die Badestube. In der »Synagoge«, der primitiven Bretterbude, sind die heiligen Bücher bereits an den Wänden aufgereiht, in einer Ecke steht auf der Erde der siebenarmige Leuchter, ein riesiger, mit Nägeln beschlagener Koffer birgt sieben Gesetzesrollen, die die Jablonnaer mitgebracht haben. Aus einigen Brettern ist ein Altar gezimmert, auch laufen Bänke um die Wände herum, und vor dem Altar liegt ein kleiner Teppich.
Diese Kolonie ist nur wenige Tage alt. Kurz vor Ostern kamen die Jablonnaer hierher auf den Berg. Wir geraten mit den beiden fröhlichen Chassiden, dem roten, dem schwarzen, den beiden munteren Freunden, ins Gespräch. Sie haben noch nie körperliche Arbeit verrichtet, standen hinter ihren Ladentischen, gleich der Mehrzahl der Männer in der Kolonie, den Vätern der vierzig Familien, die unter der Führung des Rebben, nach dessen Vornamen die Kolonie benannt ist, hierherkamen und denen weitere fünfhundert Familien folgen sollen. (Der Jablonnaer Rebbe selbst ist heute in Haiffa. Wir werden unseren Besuch morgen wiederholen.)
Die beiden ältlichen dicken Freunde sind lustig wie alle anderen dahier. (Die Frauen allein machen besorgte Gesichter.) Sie sind beide, 64 der Rote und der Schwarze, bald an ihre Arbeit zurückgekehrt, wischen sich den Schweiß von den Gesichtern, schleppen Bretter und ziehen dann wieder, sich umschlungen haltend, von der Baracke zum Stapel. Ein bißchen spielen sie wohl auch Theater vor den Fremden, wie Juden, die lustig und übermütig sind, sich selber über ihre Lustigkeit und ihren Übermut wundern.
»Euch muß doch diese Arbeit schwerfallen, das Bauen? Ihr seid es doch nicht gewohnt?«
Unbeschreiblich, wie der eine, der Rote, seine runden Hände mit gespreizten Fingern zum Boden niederstößt, auf den Boden zeigt:
»Es ist doch unser Land!« . . .
Es dunkelt bereits, wir müssen nach Haiffa weiter. –
Auf dem Weg, den Karmel hinunter, fährt unser Chauffeur langsamer, um einen Trupp vorbeizulassen, der uns von unten entgegenkommt. Es sind Männer in städtischer Kleidung, mit runden Hüten auf den Köpfen. Manche sind alt, haben goldene Brillen, Graubärte, indes wir bemerken auch einen und den anderen jüngeren unter ihnen. Die Mehrzahl aber, das sind alte Männer. Rüstig schreiten sie den steilen Berg hinauf, tragen geschultert Schaufeln, Äxte und Picken. Und alle haben neben ihren Äxten, Schaufeln und Picken Ölzweige und die seltsamen hellen, aus drei langen Streifen gebildeten grauen Blattzweige des Eukalyptus geschultert.
Sie kommen aus den Sümpfen, die sie entwässern, aus den Feldern, die sie gekauft haben und die sie bebauen, urbar machen wollen, für sich, ihre Kinder, für die fünfhundert Familien, die nachfolgen werden, und auch für das Land – »ihr« Land.
Nachlath Jakubs Bewohner sind Chassiden, ehemalige Bürger eines polnischen Städtchens, kleine Handwerker, aber auch Fabrikbesitzer, Kaufleute, Lehrer, Schriftgelehrte, Beamte, wohlhabende Hausherren, niemals an körperliche Arbeit dieser anstrengenden Art gewohnte Leute. Jetzt kamen sie in das alte Land und arbeiten, fröhlich, hingegeben und aufopfernd, bis zum sinkenden Abend. Mit chassidischer Lustigkeit tänzeln sie vor Gott, der auf ihre Arbeit niederschaut.
Nächsten Abend sind wir, diesmal mit unserem Freunde, dem Maler Hermann Struck, der jetzt in Haiffa wohnt, zum zweitenmal zu den 65 Jablonnaern gefahren. Wir treffen die Männer der Gemeinde in der windverwehten Baracke, die sie sich als Gotteshaus gebaut haben, beim Abendgebet. Da steht der Rabbi, ein noch junger Mann, blond, von sanftem Gesichtsausdruck, an der Spitze der Männer, die wir gestern aus den Sümpfen, den Feldern heimkehren sahen.
Nach der Andacht gehen wir, vom Rabbiner geleitet, hinüber in die andere Baracke, die als »Verwaltungsgebäude« dient. Auf einem Brett liegen die Arbeitsbüchlein der Schar. Der Rabbi ist zugleich Sekretär und Kassierer der Gewerkschaft dieser Kolonie. Sie haben das Geld, das sie mitgebracht – und es gibt unter ihnen welche, die beträchtliche Summen beisteuerten –, zusammengetan und haben sich Land gekauft, dreißigtausend Dunam, zu denen ihnen der Nationalfonds noch sechstausend gegeben hat. Jeder aus der Schar erhält vom Rabbiner seinen Tagelohn ausbezahlt: fünfundzwanzig und fünfunddreißig Piaster. Im übrigen leben sie, wie unten im Emek die Chaluzgruppen, im wirtschaftlichen Kommunismus. Sie arbeiten für die Gemeinschaft, ohne Unterschied, ob einer viel, der andere wenig mitgebracht und beigesteuert hat. Der Existenzkampf, der daheim den einzelnen zu seiner Leistung stachelte, hier, im alten Land, das die Schar aufbauen will, ist er einer reineren Form gewichen.
Die ältlichen Leute leben wie unten der jüngste Chaluz. In ihren alten Adern ist das heilige Feuer entflammt. Das Land, das alte, gesegnete, hat diesen Menschen eine neue Hoffnung geschenkt. Sie leben jung auf dem alten Boden der Heimat. Sonderbares, heiliges Land, das alten Menschen neue Hoffnung zu geben vermag!
Sonderbares Land . . .
Ich frage, während ich mit meinem Freund und mit dem Maler Struck dem jungen Rabbi gegenübersitze: »Wer hat unter euch zuerst den Gedanken gehabt, das Leben daheim hinzuwerfen und hierher, nach Palästina, zu kommen?«
Der Rebbe sieht mich an, als verstünde er nicht, was ich sage, spricht dann leise, indem er mir in die Augen sieht, leise und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck seiner Stimme:
»Wer? Gott.«
Wir trennen uns spät nachts von den Jablonnaern, von dem Rebben, ihrem Führer, einem schlichten und reinen, vielleicht heiligen 66 Menschen, dessen Name und Einfluß sich rasch über Palästina verbreitet hat. –
Was ist das nun? Menschen, nicht vom Drang der Abenteuerlust, der Freude an Neuem, hierher in das alte Land getrieben. Man kann auch nicht sagen, durch die Not der gegenwärtigen, widrigen Umstände, denn sie hatten die Mittel, um standzuhalten. Gewiß nicht aus Spekulationssucht. Vielleicht eher von einer ganz törichten, »unreifen« Sehnsucht nach Gemeinschaft, starkem, reinlichem, irdischem Dasein, wie es jene Chaluzim im Emek führen. Sie sind schon alt, mancher unter ihnen hat das schwere Leben schwer begonnen, kennt die Not des Anfangs, des Wiederanfangenmüssens. Sie haben ihr Leben gelebt und beginnen aufs neue. Sie haben Behagen, Wohlstand, vielleicht Reichtum hinter sich geworfen und sind einem jungen begeisterten Menschen gefolgt, der mit emporgewandtem Blick lange treu gewartet hat. Als der Augenblick gekommen war, von dem es heißt, daß ihn die Werkleute abwarten müssen, soll ihr Tun gesegnet sein, gab er das Signal zum Aufbruch. Das Land entzündet seltsam tiefe Feuer in jenen, die wundergläubig sind, die warten können und in denen die Hoffnung noch nicht erloschen ist.