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In der poesieverlassensten Stadt Japans, der Handelsstadt Osaka, einem Hafen mit Wolkenkratzerfront an der Wasserlinie, brutal amerikanischem Einschlag in das geschäftig bewegte Treiben der von Automobilen, Trambahn und Omnibussen durchschossenen Avenuen habe ich dem lieblichsten Schauspiel beigewohnt: dem Pflaumenblütentanz der Geishas.
In einem Vorstadttheater, einem Bretterbau mit Matten auf dem 315 Boden des Zuschauerraumes, mit einer schmalen offenen Bühne, ebenso schmalen seitlichen Estraden, auf denen rechts zehn dunkelgekleidete, das Saiteninstrument Samisen zupfende Geishas, links aber ebenso viele bunt gekleidete Trommlerinnen und Flötenbläserinnen saßen, habe ich an einem strahlenden Märznachmittag diesen zauberhaften Traum Kono Hana Odori erlebt oder auch geträumt.
Jawohl, zuweilen war's mir, als müßte ich mir nüchtern den Puls kontrollieren: wachst du, träumst du? Zarter Ansatz, kleine tupfende Schläge auf die Trommel, das leise zarteste Unisono der gezupften Samisensaiten, des gehauchten Gesanges auf den beiden Seitenestraden, auf denen, rechts und links, diese zehn dunkelgekleideten, diese zehn weiß und rot geschminkten Mädchen ernst und fast ohne Regung saßen! – –
Unten im Zuschauerraum, Kimono an Kimono, gewöhnliches Volk. Jeder von uns im großen hellen Theater, durch das Sonnenlicht flutet, hat beim Eintreten eine kleine Schachtel mit Süßigkeiten bekommen. Leises zirpendes Saugen und Schmatzen wird als Begleitung zu der Musik der leisen zirpenden Saiteninstrumente vernommen.
Oben auf der Bühne kommen und schwinden, bauen sich auf und verschieben sich die Bilder, Hintergründe, Kulissen der Jahreszeiten. Erst ist es kahler Vorfrühling, dann blüht das Land, ein Tempel, ein Bauerngehöft, ein Schloß erscheint, in dem sich ein Geisterkampf als Vision abspielt. Sonnenblumen, die aber Papierschirme sind, drehen sich, von den Bäumen weht rotes Platanenlaub, über eine geschwungene Brücke legt sich eine Schneedecke – und vor all diesem ein Auftauchen und Entschweben von menschlichen Ornamenten, in lieblich bunte Gewänder gekleideten, zierlich kleinen Mädchen und Kindern. Bewegungen und Gewänder sind dem Hintergrunde angepaßt, den wunderbaren Farben der Jahreszeiten entsprechend, alles, der Tanz, das Schreiten, die Auflösung und das Zusammenschmelzen der Gruppe, wie von einem Geigenstrich geregelt, der eine mit Sandkörnchen bedeckte Glasplatte entlangfährt. Kaum merkliche Körperbiegung, Aneinanderschmiegen feiner lieblicher weiß und rot geschminkter Gesichter, zimperlich anzusehendes Neigen des kunstvoll frisierten Kopfes auf dem kindlichen Hals, liebliches Spiel mit dem Fächer, dem Schirm, Trippeln auf hohen Pantoffeln, ein Sichentfernen, Zusammenfinden, 316 Niederknien, die Ärmchen, die Händchen auseinander Spreizen – das ist der Tanz der Pflaumenblüte, von dreißig oder auch vierzig, wer weiß vielleicht einem Halbhundert kleiner holder Geishas zelebriert – ja, man kann es nicht anders nennen, dieser Tanz ist wie eine heilige Handlung, dieses zarte unkonsistente Wehen, hauchhafte Hinschweben, Dahertrippeln der lieblichen, kleinen, ernsten Geschöpfe Schönheitsgottesdienst. Und sogar die mit Dreizack, Feuerbrand und Schilderschwingen schauerlich agierenden Dämonen hinter Schleier und fahlem Bühnenlicht – sie behalten diesen Zug von zartester Lieblichkeit.
Stundenlang sitzen wir, schauend und genießend, beisammen, und wie ich, es ist noch Sonnenlicht in den Straßen, aus dem Theater hinausgehe, fühle ich mich diesem merkwürdigen Volk verwandter, als ich es vor Stunden war, ehe ich diesen Traum gemeinsam mit dem gewöhnlichen Volk geträumt hatte, das in diesem poesieverlassensten Hafenort Japans das weite Vorstadttheater gefüllt hat.