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Über allen Straßen der Stadt wehen, schaukeln, pendeln lange schmale Fahnen, Holztafeln, auf denen goldene Zeichen, rote, schwarze Kunstwerke von Buchstabengruppen, schmal und senkrecht untereinander gesetzt, zu lesen sind. Sie berühren sich fast, so dicht hängen sie nebeneinander, Lacktafeln, Schilder, Leinwandfahnen – alle Straßen der Stadt sind voll von schaukelnden, flatternden chinesischen Buchstaben. –
In einem engen Gäßchen, das steil den Berg hinaufklettert, begegnen ein Schalmeibläser, ein Gongschläger einem andern Schalmeibläser, Gongschläger. Alle vier bearbeiten ihre Instrumente mit Wut und Ausdauer, die enge Gasse hallt wider vom wilden Getön.
Rasch bewegt sich der Trupp, der hinter dem einen Musikantenpaar den Berg hinaufzieht – langsam schreitet der andere hinter seiner Musik die glitschrigen Steine hinunter. Ein breiter Holzstamm, gelb angestrichen, von seltsamer Form, wie ein Kanu, auf das ein Deckel gelegt ist, an den abgeschrägten Enden aber einer Lotosblume ähnelnd, schwankt auf den Schultern von vier Männern den Berg hinauf. Hinter ihm führen kräftige Burschen ein paar sonderbare, weit vornüber hängende Gestalten daher: einen ältlichen Mann mit weißer Mütze, weißer Stola um den Leib, Baststrick um die Hüften, und zwei kleine Jungen, die ähnlich gekleidet sind und die Köpfe auf ebenso unnatürliche Weise vornüber hängen lassen.
Diese weißen Gestalten, der ältliche Mann hat noch eine lange Bambusstange mit wehendem weißen Papierstreifen in der Hand, man möchte meinen, es seien Betrunkene, so schleppt man sie des Wegs daher, aber es sind bloß gebeugte Menschen, sie folgen ja einem Sarg, weiß ist die Farbe der Trauer, zu Hause im Totenhaus hocken weiß angekleidete Kinder, gemietete, heulen die Totenklagen.
Dem andern Zug schreiten Kinder voran, in weiten, purpurnen 196 Jacken, feierlich und steif. Sie tragen an langen Bambusstöcken Pappschilder, auf denen wieder diese herrlichen goldenen, schwarzen und krapproten Schriftzeichen zu lesen sind. Die Kinder gehen langsam, damit sie den hinter ihnen den Berg herabschwankenden Sänften, Tragsesseln, bunten Flitteraufsätzen nicht davonlaufen. Es ist ein Brautzug – seht: die blaue, fest verschlossene, mit tausend klirrenden Glassträhnen, Papierrosen und zitternden vielfarbigen Gehängen ganz überrieselte Sänfte, von purpurnen Kulis geschleppt, in der die Braut, die unsichtbare, ins eheliche Heim getragen wird! Und die anderen, blau und zartfarbig gläsern klirrenden, rieselnden Sänften, alle von purpurnen Kindern geschleppt, mit lächelnden, dickbäuchigen, rosabemalten Gipsgöttern, die ihre spitzen, zierlich gekrümmten Finger wohlwollend und wollüstig betrachten – aber, was ist das? Das ist ja ein Wasserklosett, blütenweiß und in jungfräulicher Reinheit erstrahlend, und dahinter ein veritabler Schrankkoffer, höchst modern, seine hundert mexikanische Dollar wert, auf Sänften kommen all diese Schätze durch die Stadt gezogen, und außerdem drei funkelnagelneue Bettmatratzen, ein schön geschnitzter Ebenholztisch, auf dessen Platte eine ganzes Porzellanservice festgebunden ist, ein Vogelbauer mit kreischendem Papagei, eine Tragbahre mit Aluminiumgeschirr, Töpfen, ein Spiegelschrank mit schauerlichen Metallbeschlägen – ja, ihr gesamtes Hab und Gut und alle Hochzeitsgeschenke geben die stolzen Brautleute im endlos langen Zug der Sänften den neidischen Blicken der Gasse preis!
Bergauf schwankender Trauerzug, bergab schwankende Brautprozession, ringsum das bunte, enge Getümmel und Gewirr der mit tausend Fahnen, Schildern wehenden goldenen, lackschwarzen, krapproten Gassen und Berggäßchen in der Morgensonne, deren Strahl die verschlungenen Pfade des hohen Bergabhangs in die Höhe gleitet, – dies ist China, mein erster Morgen in Hongkong, der erste, unvergeßliche Tag in dem sagenhaften Reich der Mitte, Reich des entthronten Himmelssohns, der auf den Thron gesetzten irdischen Vernunft.
An den mächtigen Berg gebaut, der sich wie ein Riegel vor China schiebt, liegt Hongkong in der Morgensonne der Weihnachtswoche da, ein britisches Gibraltar des östlichen Meeres, bewacht von 197 Kriegsschiffen aller Nationen, in dem zauberhaftesten Hafen, den meine von der Schönheit dieser Monate, dieser Erdenwelt nun schon fast wunden Augen je umfaßt und genossen haben . . .
Frühmorgens flog an dem kreisrunden Fenster meiner »Takada«-Kabine ein Flügel vorüber, von riesigen Dimensionen, weiß, hellgrau und zitronengelb gefleckt, wie eines exotischen, nie gesehenen Schmetterlings Flügel, das geflickte Segel eines schweren chinesischen Sampans oder Frachtbootes, erster Gruß Chinas. Auf dem Verdeck des Schiffes dann, das achtzehn Tage lang seit Kalkutta mein Wohnort war und sich jetzt, vom kleinen Lotsenschiff gesteuert, vorwärts wagte in der gefährlichen Bai – welcher Anblick!
Die Inselberge, spitzen Kegelformen der Hongkongreede, im zarten Rosa des Sonnenaufgangs wie Nebel am lichtblauen Horizont, über dem durchsichtig blauen Wasser verschwimmend, hell und überirdisch – ein zinnoberrotes Schiff, weit, irgendwo, im Morgenduft wie eine Vision auftauchend – bald von der Stadt her ein verirrtes Geglitzer von Fensterscheiben, über die Sonnenstrahlen streichen, beim Näherfahren: Schatten von vorgebauten Bergschründen auf tiefer zurückweichende, aus dem Fels gekerbte Häusergruppen fallend, hier und dort ein deutlicherer Farbenfleck, Rauch, die gewaltige Masse eines braunen Pazifikdampfers, unmittelbar im Vordergrund des Sehfeldes, all dies wie Musik, die das Auge vernimmt, und dann plötzlich: der verschwebende, melancholische Laut eines abschiednehmenden Schiffes, weit innen, in den Gewässern der Küstenausfahrt . . . nun erst ein voller Akkord – o Herrlichkeit des Fahrens und Schauens, ihr Häfen der vielen Meere, in die ich einfuhr, Sonnenglanz liegt über einem neuen Morgen, einem neuen Hafen, am Eingang eines neuen, geheimnisvollen Landes, in dem Kräfte erwacht sind, die der Sinn bewillkommt, versteht. Langsam öffnet sich die Seele zum Morgengruß an das Unbekannte. Das Schiff sucht seinen Ankerplatz, findet ihn, legt an.
Dieser erste Tag vergeht zwischen der Stadt und dem Hafen, in den Berggassen, die sich über den Peak, den gewaltigen Felskegel, an den Hongkong gelagert ist, hinziehen, ihn kreuz und quer furchen – auf 198 der raschen Fähre, die den Hafen durchschneidet, hinüber nach Kowloon führt, der Stadt der Neun Drachen.
In den Bazarstraßen, die die vertikal niederhängenden Lackschilder und Fahnen zeichnen, jage ich einem Schmuckstück aus Jade nach, das ich hier zu finden hoffte, finde aber nicht das Richtige:
»Vely solly!« – Pidgin English. Sie können das R nicht aussprechen. Ihr Englisch klingt kindlich. Pidgin aber kommt nicht von Pigeon, d. h. von Täubchen, sondern von Business, d. h. Geschäft – es ist das Idiom, in dem sie sich mit dem Engländer, der den Riegel vorgeschoben hat, verständigen. Dieses putzige Idiom und der kindliche Sprachfehler decken viel Verschlagenheit, Nichtverstehenwollen, gebotene Vorsicht und allerlei tückische Fallen.
Untereinander sprechen sie eine Sprache von höchster geistiger Modulationskraft, gegen die keine europäische aufkommt, eine Sprache der unerhörtesten Synonyme und Ideenassoziationen, die einen Wortschatz und Schriftzeichenreichtum von etwa 40 000 Einheiten und kein Alphabet besitzt. Diese Schriftzeichensprache (eine Zeitung kommt schon mit 4000 Ideogrammen aus) ist Rückgrat, Schicksal und Schlüssel zum Verständnis des uralten Kulturvolkes. Es liegt ihr eine Idee von Dauer zugrunde: Anschauung der Natur und symbolische Darstellung durch Runen unserer Beziehung zu den ewigen Dingen. Man sehe sich bloß die vierundsechzig Varianten an, die Itsching, das alte Zauberbuch, die Fibel der Chinesen, mit den acht Grundelementen der Natur und den einfachsten Schriftzeichen, der geraden und der gebrochenen Linie, anstellt, um einen Begriff davon zu bekommen, was des Chinesen Religion, Ethik, Gesellschaftsmoral und Nationaltradition zu besagen hat.
Auch ihre Denkweise gegenüber dem Haiha, dem fremden Teufel, reduzieren sie auf das Niveau ihres zimperlichen Pidgin. Bezeichnenderweise sagen sie für Humbug – »Playpidgin«; sonst verschanzen sie sich hinter einem stereotypen »Mi no sawwi«: ich weiß nicht!, »Mi luksi!« – man wird schon sehen, laß mich überlegen, »No wantschi!« – ich brauche das nicht. Backschisch heißt hier Kumscha. Und wenn du den Laden verläßt, ohne gekauft zu haben, tönt dir mit einem bedauernden: »Tu mötschi dir?« ein höflich gelächeltes: »Tschintschin« nach – adieu!
199 Sie sind nicht gerade feindselig, ihr Lachen und Lächeln ist nicht böse oder höhnisch, doch fühlt man sich unter ihnen nicht unbeschwert und geht nicht, wie in Agra, wie in Benares, träumend und beseligt durch die Straßen. Alles ist, besonders in den großen Städten, ordentlich, blitzblank ausgerichtet und hingestellt. Vom pittoresken Schmutz Indiens, vom farbigen Halbdunkel Indiens keine Spur. Sie lieben eine Überfülle von Licht, Glühbirnen. Alle Menschen tragen eine Art Uniform, die schmucklose Chinesenjacke, den Chinesenunterrock, zumeist in stumpfen Farben; die Männer sauber rasiert, ein langbärtiges Gesicht fällt auf, nur alte Männer lassen sich das dünne Haar auf dem Kinn wachsen, man sieht kaum mehr einen Zopf unter tausend europäisch kurzgeschnittenen Köpfen. Die Kopfbedeckung der Männer ist unweigerlich die schwarze, eng anliegende Seidenmütze mit schwarzem Knopf, hie und da mit rotem; mit weißem, wenn man trauert. Man hat den Eindruck, daß ihr freundlich einladendes Lächeln auch nur uniform ist, merkantiler Gepflogenheit entspringt – die offene, liebliche Kindlichkeit des Inderlächelns fehlt diesen Gesichtern. Energie, Betriebsamkeit, undurchsichtige Höflichkeit und noch etwas, was mir am ersten Tage schon auffällt.
Ich gebe einem jungen, blinden Wahrsager, der seinen Tisch an einer Straßenecke aufgeschlagen hat, eine kleine Silbermünze und gehe weg. Gelächter hinter mir – ein Almosen, zuviel, für nichts! Ein Grünhorn von einem fremden Teufel! Um den Rikschakuli zu schonen, steige ich vor einer steilen Brücke aus. Gelächter: ich bezahle doch den Kuli und lasse ihn für mein Geld nicht schuften! Hartes Volk, vielleicht herzlos. Sie essen zuviel Fleisch, und was für welches! – vom bloßen Anblick ihrer Fleischerläden, in denen Gekröse, rotlackierte Enten und Gänsekadaver, Quallen, Lämmerblasen, allerhand schauderhafter Schlangenfraß herumhängt (einmal sah ich ein Affenskelett an einem Haken baumeln, herrlichster Leckerbissen!), wird einem schon hundeübel. Irgendwoher muß diese Zähigkeit und Energie doch in sie gekommen sein!
Energie – hier sind zwei harte Völker aneinandergeraten. Hier wohl! Ein Blick von der Hafenfähre in die Runde: was haben, in kaum siebzig Jahren, die Engländer aus dieser Bucht gemacht! Der Peak, dieser anderthalbtausend Fuß hohe Kegel, methodisch in Auffahrtstraßen 200 zerlegt, unten am Wasser mit mächtigen Kasernen, Warenhäusern, Silos, Bureaupalästen in Wolkenkratzerformat, moderne Stadt, höher oben Hospitäler, Schulen, Kirchen und Klubs, eine steile Drahtseilbahn, die an einem herrlichen botanischen Garten, an gewaltigen Reservoiren vorüber zu stark gemauerten, mit Terrassen umgebenen Villen, Hotels und Wohnburgen führt.
Ringsum in der Bai, einem der geschütztesten natürlichen Häfen der Erde, sieht man starrende gelbe Bergstümpfe. Allüberall werden ganze Bergzüge abgebrochen, um Platz für immer neue Fabrikanlagen, Kraftstationen, Hafenbauten, Wohnviertel zu schaffen. Der bloßgelegte gelbe Löß leuchtet über dem blauen Wasser. Soweit man zu sehen vermag, sind gelbe Kerben in die Inselberge geschnitten: Automobilstraßen weit ins Land hinein.
Und doch: dieser wunderbare, kraftstrotzende Ort siecht dahin, ist zum Absterben verdammt.
In den Klubs, den Geschäftspalästen, in den mächtigen Banken, den starkgemauerten Peak-Villen sitzen von Sorgen und ratlosem Schrecken erstarrte Menschen. Seit Monaten gelangt keine Ware mehr aus Hongkong ins Innere Chinas hinein. Das revolutionäre Canton hat über dieses chinesische Gibraltar den Boykott verhängt. Oben, auf dem Perlfluß, wacht das Streikkomitee – die Dreimillionenstadt Canton, das ganze, unendliche Hinterland muß alle fremde Ware, die auf Schiffen nach China importiert wird, über Schanghai beziehen. Canton hat das Todesurteil über Hongkong verhängt. Es verdorrt, stirbt sichtlich ab – obzwar neue Hafenbauten, Automobilstraßen, Fabrikanlagen der Statistik und der halbleeren Reede zu widersprechen versuchen.
Da steht ein graues Schiffsungeheuer mit breiter, flacher Plattform auf dem Wasser. Sechs Aeroplane nehmen von der Plattform ihren Anlauf, fliegen, mit den britischen Farben an den Tragflächen, weit hinauf in das feindliche Land. Wen schreckt man noch mit solchen Waffenparaden? Das war einmal. Heute gründet man keine Kolonien mehr, nur weil man neuere und stärkere Waffen hat; es gelten andere Methoden, denen das Fossil Imperialismus sich nicht mehr anzupassen vermag: Streik, Boykott, passive Resistenz, Aufklärung der Massen über ihr Recht und ihre eingeborene Kraft – Gandhi – Moskau! –
Oben surren die Flieger von Hongkong nach Kowloon, zwischen den 201 Inselbergen, nach der Perlenstrommündung hinüber. Der Chinese, nicht mehr gelb, sondern rot, sieht gleichmütig in die Luft hinauf und pfeift in aller Seelenruhe, pfeift dem surrenden Briten in den Lüften was. Aber es ist noch nicht so weit. England, das sich Ägypten, Indien allmählich entgleiten sieht, wird sein östliches Gibraltar in einem letzten, verzweifelten Kampf mit Zähnen und Klauen verteidigen, das ist sicher.
Missionare fahren auf der Fähre von Kowloon nach Hongkong zurück. In Südchina sind zweiunddreißig christliche Missionen tätig. Einige unter ihnen bekämpfen sich gegenseitig bis aufs Blut. Die Chinesen wissen das. Sie lachen sich ins Fäustchen. Das meiste Geld haben die von den Ölmagnaten entsandten amerikanischen Missionare. Diese haben daher unter den Chinesen den größten Zulauf. Im übrigen besteht unter den Chinesen eine systematische, hartnäckige Agitation gegen die Missionen, die ja nichts weiter als religiös kamuflierte Spionagezellen und wirtschaftliche Horchposten der Fremdmächte vorstellen. Der Taipingaufstand liegt den Chinesen noch in den Knochen. Sie wissen, heute genauer als je, was sie von den Gottesmännern im allgemeinen, von den Sendboten des amerikanischen Gottes Rockefeller insonderheit zu halten haben. Eines Tages werden sie aus allen zweiunddreißig Missionen ein Gulasch machen.
Jetzt entzünden sich die Lichter drüben in Hongkong, nachdem der Sonnenuntergang in den letzten Fensterscheiben des Peak erloschen ist. Wohin ist dieser erste Tag in China geraten? Eben war's erst Morgen!
Die Lichtketten um den Peak glühen mit einem Schlage auf. Die Villen auf den Bergterrassen mit verstreuten weißen Fenstern. Unten die Stadt mit Millionen gelber, roter, goldener Glühpünktchen. Das chinesische Warenhaus Sun, das Wing On-Haus, die stockwerkhohen chinesischen Buchstaben der Küstenschiffahrtsgesellschaften, die Dachgärten der Hotels, die Wolkenkratzerfassaden glühen, strahlen, rieseln von oben bis unten in Licht.
Flimmernd kocht das Wasser des Hafens im Widerschein.
Welche Freude am Licht. Welche Verschwendung! Licht, Knall, 202 Glanz, Geräusch – diese Kinder, die Chinesen, dieses alte, nimmer ermüdete, lebendige, unbändige Volk!
Die Wasserfront Hongkongs ein einziges, flimmerndes Entzücken, ein Rausch; die Sterne über dem Felsenberg setzen die glühende Pracht dieser ersten Nacht in China schwindlig ins Erhaben-Unermeßliche fort.