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Ich weiß nicht, ob die ganze Geschichte der Literatur ein Beispiel von einem so seltsamen Schicksal aufweisen kann, als diese Horazische Epistel betroffen hat. Hätte sie – anstatt der gewöhnlichen Überschrift: de Arte Poetica Liber – von jeher diejenige geführt, die wir ihr hier gegeben haben, und die ihr nach der einstimmigen Meinung der besten Kommentatoren zukommt: so würde die einzige Ursache weggefallen sein, warum sie von den meisten in einem ganz falschen Lichte gesehen worden ist. Die Ausleger, von Jason de Nores und Jacob Grifioli an bis auf die Neuesten, würden in einem Briefe, – der nach Horazens Absicht so wenig ein Lehrbuch der Dichtkunst sein sollte, als seine erste Epistel an Mäcen eine Ethik oder die an August eine Geschichte der römischen Literatur ist, – weder eine vollständige Poetik, wie die ältern Ausleger, noch, wie Batteux, eine Theorie der dramatischen Kunst gesucht, noch, wie Hurd, eine Beurteilung des römischen Dramas zum Hauptzweck desselben gemacht haben. Eine Menge selbstgedrehter Knoten, und eben so viele sinnreiche, aber den Horaz nichts angehende Auflösungen derselben würden weggefallen sein; kurz, ohne die vorgefaßte Meinung, die dieser unglückliche Titel den Gelehrten in die Köpfe setzte, würde man sich weder die Mühe gegeben haben, so viel in diesen poetischen Diskurs hineinzulegen, woran Horaz nicht gedacht hat: noch, vermutlich, den einzigen wahren Gesichtspunkt, woraus er betrachtet werden muß, so lange verfehlt haben.
Herr Eschenburg hat mich, durch die erste seiner gelehrten Anmerkungen zu R. Hurds Kommentar über diese Epistel, der Mühe überhoben, ein mehreres über diesen Punkt zu sagen. Indessen, wiewohl dieser Gelehrte (dessen vielfältigen Verdiensten ich hier mit Vergnügen Gerechtigkeit widerfahren lasse) den Irrtum der sämtlichen Ausleger der Epistel an die Pisonen sehr richtig eingesehen, und dem wahren Standpunkt, woraus sie beurteilt werden muß, näher als die übrigen gekommen zu sein scheint: kann ich doch nicht umhin, gegen seine Behauptung: »niemand werde leugnen, daß der größte Teil dieser Epistel die Schaubühne betreffe« – durch mein Exempel zu beweisen. Die Arbeit der Übersetzung setzte mich natürlicher Weise in den Fall, ziemlich genau mit ihr bekannt zu werden; und mein Erstaunen über die Verblendung der meisten und gelehrtesten Ausleger, besonders über Hurd und Batteux, die von Anfang bis zu Ende lauter dramatische Poetik und Kritik darin sehen, mußte um so größer sein: da ich, so weit ich auch die Augen auftat, nicht einmal sehen konnte, daß nur die Hälfte davon die Schaubühne – mit einer auf sie vorzüglich gerichteten Absicht des Dichters, ja nur die Hälfte der Hälfte die Schaubühne ausschließlich angehe. Je genauer ich alles erwog, je weniger konnte ich begreifen: warum Horaz, wenn seine Hauptabsicht die Schaubühne und etwa zunächst die Verbesserung der römischen Schaubühne gewesen wäre, gerade einen solchen Gang erwählt, sich so oft und bei der kleinsten Veranlassung von seinem Weg entfernt, und (mit aller graziösen Nachlässigkeit, die man einer poetischen Epistel gern zugesteht) nicht ein wenig mehr Methode in sein Werk gebracht haben sollte. Hingegen glaubte ich deutlich zu sehen, daß er bei Abfassung dieses Diskurses einen ganz andern Zweck, eine individuelle, das römische Theater gar nichts angehende, Absicht gehabt habe; daß nur ein kleiner Teil seiner Vorschriften oder Erinnerungen die dramatische Poesie betreffe, und daß er meistens, wo die Kommentatoren Regeln für die Schaubühne gesehen haben, nur Beispiele von ihr entlehne, um dadurch allgemeine Regeln zu erläutern, die allen Arten der Poesie, besonders aller erzählenden Poesie, mit der dramatischen gemein sind.
Um die Leser nicht länger mit Rätseln aufzuhalten, will ich – mit aller Bereitwilligkeit, mich eines andern belehren zu lassen, wenn meine Hypothese das Problem nicht besser auflösen sollte, als die bisherigen – den Gesichtspunkt angeben, aus welchem, meiner Meinung nach, diese Epistel betrachtet werden muß.
Die nämliche Verfahrungsart, die ich (einem Wink des vortrefflichen Lords Shaftesbury zufolge) bei allen übrigen Horazischen Briefen beobachtet habe, hat mich auch in diesem, wie ich glaube, auf den wahren Weg gebracht, welchen gelehrtere Kommentatoren vielleicht nur darum verfehlten, weil sie für den guten Horaz gar zu gelehrt waren. Ein Dichter ist – wenigstens in manchen Fällen – glücklicher, einen andern Dichter zu erraten, als Kunstrichter, die so voll Theorie, Methode und Metaphysik der Kunst sind, daß alle Concreta des Dichters, durch eine Operation, die ihnen mechanisch geworden ist, sich in ihrem Kopfe in Abstracta verwandeln, aus jedem individuellen Zug eine allgemeine Regel, und somit zuletzt aus einem Sendschreiben an einen hochgebornen jungen Autor, den man vor einer unglücklichen Liebhaberei warnen wollte, eine Theorie der dramatischen Dichtkunst wird.
Wir haben bei allen Horazischen Briefen, deren Erläuterung uns bisher beschäftigt hat, vorausgesetzt, daß keiner derselben eigentlich fürs Publikum, sondern allemal aus irgend einer besondern Veranlassung, für eine gewisse Person, auf welche, oder deren Verhältnis mit dem Dichter, der ganze Inhalt des Briefes seine besondere Beziehung gehabt, geschrieben worden sei. Wir haben in jedem entweder offenbare Anzeigen oder wenigstens hinlängliche Spuren und Winke wahrgenommen, um diese Voraussetzung zu begründen; und man wird schwerlich leugnen können, daß, wenn auch die besondern Umstände und Absichten, die wir als eine Art von Schlüssel zum richtigern Verständnis derselben angegeben haben, der Strenge nach bei einigen für bloße Hypothese gelten könnten: gleichwohl dies allein – wenn alles Dunkle und Rätselhafte dadurch auf eine sehr befriedigende Art beleuchtet und aufgelöst würde – schon genug wäre, solchen Hypothesen so viel Wahrscheinlichkeit zu verschaffen, als man in Sachen dieser Art verlangen kann. Ich sehe nicht, warum das nämliche nicht auch bei dem Briefe an die Pisonen Statt finden sollte. Ich bin vielmehr überzeugt, daß der Schlüssel zum wahren Verständnis desselben in der besondern Absicht, warum er gerade an die Pisonen geschrieben worden, liege: und daß diese Absicht aus gewissen besondern Umständen zu erraten sei, die in dem Briefe hinlänglich angedeutet sind, wiewohl sie von den Kommentatoren keiner Aufmerksamkeit gewürdiget worden.
Um dies so viel möglich ins Licht zu setzen, werden wir, unsrer Gewohnheit nach, damit anfangen müssen, uns mit den Personen, an welche Horaz diesen Diskurs gerichtet hat, etwas bekannter zu machen.
Wiewohl der Brief selbst hiervon weiter nichts sagt, als daß er an Pisonen, Vater und Söhne, geschrieben sei, und außer einem Paar sehr wenig bedeutenden oder gar zweideutigen Komplimenten nichts von ihnen darin gesagt ist: so ist doch kein Zweifel, daß der Vater Piso der nämliche Lucius Calpurnius Piso war, der im Jahre 739 mit M. Livius Drusus das Konsulat verwaltete, darauf Statthalter von Pamphilien wurde, und im Jahre 743 von August, dessen Vertrauen er besaß, den Auftrag erhielt, die Unruhen zu stillen, die ein gewisser Priester des Bacchus, Vologeses, der sich einer unmittelbaren Inspiration dieses Gottes rühmte, an der Spitze eines Heers von Fanatikern in Thrazien erregt hatteDio. L. 54.. Als Vellejus Paterculus seine römische Geschichte schrieb, d. i. über vierzig Jahre nach der Zeit, worin die Horazische Epistel geschrieben sein kann, bekleidete dieser Piso in einem schon hohen Alter die Würde eines Präfekt, oder Ober-Polizei-Meisters der Stadt Rom unter dem Tiberius, bei dem er alles galt. Vellejus versichert von ihm: jedermann werde gestehen und annehmen müssen, esse mores eius vigore ac lenitate mixtissimos, et vix quemquam reperiri posse, qui aut otium validius diligat, aut facilius sufficiat negotio, et magis, quae agenda sunt, curet sine ulla ostentatione agendiL. II. c. 98.. – Dieser Autor, in dessen Werke sich der Geist der Zeiten seines vergötterten Tiberius wie in einem Hohlspiegel abbildet, braucht gewöhnlich zu seinen Porträts eine Art von Farbenmischung, die nicht leicht zu kopieren ist; es ist also nur ein Versuch, wenn ich diese Stelle so übersetze: »es herrsche in seinen Sitten eine bewundernswürdige Mischung von Stärke und Lindigkeit, und man werde nicht leicht jemand finden, der die Muße des Privatlebens mehr liebe, und gleichwohl jedem ihm aufgetragnen Geschäft besser gewachsen sei, und, indem er alles aufs beste besorge, weniger Geräusch dabei mache, und sich weniger die Miene eines Mannes von großen Geschäften gebe.« Man sieht mitten durch die ziemlich transparenten Farben dieses Lobes ungefähr, was für ein Mann dieser L. Piso sein konnte, welcher, mit einem Namen, der ihn immer erinnern mußte, was seine Ahnen in dem freien Rom gewesen waren, Geschmeidigkeit genug hatte, sich funfzig Jahre lang in dem Vertrauen eines Augusts und sogar eines Tiberius zu erhalten. Indessen gereicht zu seiner Entschuldigung, daß er die freie Republik nie gesehen hatte; und Seneca selbst, der keinem Verstorbenen schmeichelte, gibt ihm das Lob: daß er, ungeachtet seiner unrömischen Gewohnheit, die Nächte durch zu zechen und dafür den ganzen Morgen zu verschlafen, ein sorgfältiger Polizeimeister gewesen sei, und die Stadt in sehr guter Ordnung gehalten habeEpistol. 83..
Unter den kleinen Gedichten des Antipater von Thessalonike, die sich in der Anthologie erhalten haben, befinden sich verschiedene an unsern L. Piso, aus welchen man schließen kann, daß er ein besondrer Patron dieses griechischen Dichters gewesen sei. In einem derselben, womit Antipater ein Gedicht zu Ehren seiner Siege über die Thrazier, das er ihm zuschickte, begleitet, kommt ein sehr feiner Zug vor. Die Muse, sagt er, kann bei dir nie zur Unzeit kommen: so beschäftigt du auch sein magst, so hat dein Ohr immer Muße für sie. Wer den Text selbst nachschlagen willS. Brunckii Analecta, Vol. II. p. 112 n. XIV., wird finden, daß dies, wiewohl in weit mehr Worten, als der Grieche braucht, der Sinn seines letzten Pentameters ist. Dieser Zug, mit einem andern verbunden, womit Horaz im 366sten Verse dieser Epistel dem Geschmack des Vaters Piso ein Kompliment zu machen scheint, erklärt uns, wie ein alter Scholiast in seiner Vorstellungsart und Sprache sagen konnte: nam et ipse Piso poeta fuit, et studiorum liberalium antistes – welches ich in die Sprache der Leute, die es mit dem Sinn ihrer Worte etwas genauer nehmen, so übersetze: Piso hatte, wie damals in Rom jedermann Verse machte, sich, bei Gelegenheit, auch einige ganz artige Sachen in dieser Art entrinnen lassen; und er war überhaupt ein Freund der Literatur, und ein allgemeiner Gönner und Beschützer der Gelehrten, ungefähr wie es Mäcenas vor ihm gewesen war.
Man kann die eigentliche Zeit, wann Horaz diese Epistel an die Pisonen geschrieben hat, nicht bestimmen; indessen ist eher zu vermuten, daß sie vor als nach dem KonsulatBald nach seinem Konsulat wurde Piso Gouverneur in Pamphilien, und vom Jahre 743 bis 46, in welchem Horaz starb, beschäftigte ihn der Thrazische Krieg. des L. Piso, und also vor dem Jahre 739 geschrieben worden. Dieser edle Römer war damals noch selbst ein junger Mann, und seine Söhne nicht viel mehr als Knaben; denn das Wort Iuvenes (patre digni) darf uns nicht irre machen, weil es hier nicht Jünglinge, sondern Söhne bedeutet; in welcher Bedeutung iuvenis (wie die Sprachgelehrten wissen) bei den besten römischen Schriftstellern öfters vorkommt. Wenn man bedenkt, daß L. Piso, der Vater, im Jahr 783, da Vellejus seine Geschichte schriebDodwelli Annal. Vellei., noch Praefectus Urbi war: so ist nicht zu vermuten, daß sein ältester Sohn im Jahr 738 die togam virilem schon getragen habe; und er befand sich also just in dem Alter, wo das Studium der schönen Wissenschaften (wie wirs nennen) die Hauptbeschäftigung junger Römer von Stand oder Erziehung war.
Dies vorausgesetzt, stelle ich mir die Veranlassung zu dieser Epistel so vor. Der junge Piso zeigte im Lauf seiner Schulstudien eine besondre Liebe zur Poesie, und einen so starken Hang zum Versemachen, daß der Vater endlich unruhig darüber wurde. Man kann von einem unsäglichen Jücken für die Musenkunst geplagt werden, ohne mit einem wirklichen Talent geboren zu sein. Dies ist sehr oft der Fall bei jungen Leuten, und wars vielleicht bei dem kleinen Piso auch. Der junge Herr behandelte die Sache nicht etwa bloß als Knabenspiel, oder um die Mode mitzumachen; er machte Ernst daraus. Der Vater, ein Mann aus einem der ersten Häuser in Rom, der unter der neuen Regierung so viel immer möglich von seinem angeerbten Glanz behalten wollte, und dem es nicht anstand, seinen Sohn dem Ridicule einer zu seiner Geburt und Bestimmung so wenig passenden Leidenschaft ausgesetzt zu sehen, fand, daß es nötig sei, ihn mit guter Art davon zurückzuziehen. Die Calpurnische Familie hatte vermutlich seit ihrem ersten Ahnherrn Calpus, einem Sohn des Numa, keinen Poeten, weder guten noch schlechten, hervorgebracht: sollte sein Sohn der erste sein, der seinen Ruhm auf eine Kunst gründen wollte, worin es so schwer ist, den Besten gleich zu kommen, und worin Ansprüche ohne Talent eben so gemein als verächtlich sind? Nichts von dem schlimmen Eindruck zu sagen, den das erste schlechte Theaterstück, womit ein junger Calpurnius seinen Eintritt in die Welt gemacht hätte, im Publico zurücklassen konnte: wie nachteilig konnte eine so frivole und lächerliche Leidenschaft seinem Glücke beim Augustus sein, der aus dem jungen römischen Adel keine Dichter, sondern aufwartsame Höflinge und brauchbare Staatsdiener gezogen wissen wollte? Piso liebte zwar die Literatur; und, wenn er sie auch nicht aus Neigung geliebt hätte, so hätte er sich hierin dem allgemeinen Ton seiner Zeit gleichstellen müssen: aber er wollte darum eben so wenig, daß sein Sohn Profession davon machen sollte, als daß er ein Luftspringer würde, weil es ein Stück der Erziehung war, voltigieren zu können; und gerade weil er sich selbst, spielsweise, zuweilen mit Versemachen abgegeben hatte, war ihm so viel mehr daran gelegen, den Ruf der Poeterei in seinem Hause nicht erblich werden zu lassen.
Ich glaube, daß man diese Vorstellungsart bei einem Manne in L. Pisons Umständen ganz natürlich annehmen kann; und wenn auch die Gefahr, die sein Sohn, bei der Begierde poetische Kränze zu erringen, lief, nicht so wichtig in seinen Augen gewesen wäre: so war sie es doch immer genug, um seinen Freund Horaz zu vermögen, dem jungen Menschen richtigere Begriffe von der Dichtkunst und ihren Schwierigkeiten und Gefahren beizubringen. Piso stand (wie leicht zu erachten) mit unserm Dichter auf einem zu guten Fuß, als daß ihm dieser eine Gefälligkeit, die ihm so wenig kostete, hätte abschlagen können. Ein Aufsatz, worin die vornehmsten Regeln und gleichsam die Mysterien der poetischen Kunst entfaltet wären, schien das schicklichste Mittel, die erzielte Absicht auf eine indirekte Art desto gewisser zu erhalten. Vielleicht hatte der junge Calpurnius Horazen selbst um eine solche Anweisung ersucht; und so konnte dieser, unter dem Schein, als ob er ihn zum Dichter bilden wolle, den ganzen Diskurs darauf anlegen, ihn (ohne Miene zu machen, als ob dies seine wahre Absicht sei) davon abzuschrecken. Die Horazische Manier in seinen Sermonen und Episteln zu philosophieren, taugte hierzu ganz besonders. Die Freiheit, ohne Methode, sich bloß von seinen Gedanken führen zu lassen, die dieser Art von Komposition eigen ist, erlaubte ihm alle die kleinen Episoden und Abschweifungen, auf die ihn seine eigne Laune bringen mochte; seine Hauptabsicht fiel desto weniger in die Augen, und er konnte seinen Diskurs auch für andre Leser, als für die, an die er unmittelbar gerichtet war, interessant machen. Hauptsächlich aber gewann er dadurch eine neue, (wie es scheint) immer willkommne Gelegenheit, den Dichterlingen, von denen es um ihn her wimmelte, ihre Wahrheiten zu sagen, und sie, mit aller kaltblütigen lachenden Verachtung, deren sie so würdig waren, fühlen zu lassen, daß sie von der Kunst, die sie sich zu treiben unterstanden, nicht einmal die ersten Elemente begriffen hätten.
Nimmt man diese Hypothese, über die Entstehung und die Absicht der Epistel an die Pisonen, an; so wird, deucht mich, alles darin hell, verständig und zweckmäßig; und diese sogenannte Horazische Ars poetica, welche, sobald man will, daß sie ein Kompendium der Dichtkunst sein soll, ein übel zusammenhängendes, flüchtiges, mit Nebensachen und Radotage angefülltes Sudelwerk wird; – wird, sobald man sie für das nimmt, was sie, dieser Absicht nach, sein sollte, nämlich für eine poetische Epistel, worin er den jungen Piso, vermöge einer mit seinem Vater genommenen Abrede, unter dem Vorwand, ihm die Geheimnisse der poetischen Kunst aufzuschließen, von seiner Liebe zur Ausübung dieser Kunst abziehen will, – ein Horazens würdiges Werk, und verdient unter seinen Sermonen die erste Stelle.
Nimmt man diese Absicht an, so begreift sich, warum er in seinen Regeln nicht vollständiger ist? – Er wollte keine Poetik schreiben.
Warum er nicht mehr Methode in seinen Plan gebracht? – Er schrieb einen Brief, und hatte keinen andern Plan, als seinen Hauptzweck, den er nie aus den Augen verliert.
Warum seine meisten Vorschriften in Warnungen vor Fehlern bestehen? – Der junge Piso bedurfte ihrer am meisten.
Warum diejenigen Stellen, in welchen wirklich die Mysterien der poetischen Kunst eingehüllt liegen, nur den Adepten verständlich sind, und warum bis auf den heutigen Tag noch kein Pfuscher aus dieser Epistel etwas gelernt hat? – Horaz dachte an nichts weniger, als den jungen Piso zu einem Dichter machen zu wollen
Warum endlich die Sarkasmen über die elenden Dichter seiner Zeit, die Warnungen vor den verführerischen Reizen der Musen, die Gefahren des poetischen Selbstbetrugs, die strengen und einem angehenden Poetaster ganz unerträglichen Bedingungen, die er dem jungen Piso auferlegt, und die bis auf die Knochen brennende Lauge, womit er die wahnsinnigen Dichter (wie er die elenden nennt) ohne Gnade übergießt, – warum alles dies beinahe die Hälfte des ganzen Diskurses ausmacht? – Es war das, was er mit dem ganzen Diskurs wollte.
Ich habe meine Meinung von dem Zweck dieser Epistel eine Hypothese genannt, und dadurch jedermann berechtigt, sie, wenn er will, für nichts mehr zu halten. Ich glaube aber, wenn man sich die kleine Mühe nicht dauern lassen wollte, unserm Dichter in seinem schlendernden Gang durch dieses Stück von Anfang bis Ende mit besonderer Aufmerksamkeit nachzuschleichen; so würde man vielleicht finden, daß sie wirklich wahr ist, und man könnte sich bis zur Evidenz überzeugen, daß er gleich von Anfang an darauf ausgeht, um zuletzt dahin zu kommen, wo er aufhört. Vielleicht ist es dem Leser angenehmer, diesen kleinen Spaziergang mit einem, der Horazen schon so lange nachschleicht, als allein zu machen.
In einem Werke, wo man eine Absicht hat, die bloß dadurch erreicht werden kann, wenn sie nicht angekündigt wird, ist es am besten, gar nichts anzukündigen. Horaz fängt also seinen Diskurs ohne allen Eingang, aber mittelst einer zu Erregung der Aufmerksamkeit des junge Piso sehr geschickten Wendung – in der Sokratischen Manier – damit an, den wesentlichsten Fehler, den ein Gedicht (und jedes andre Werk der Kunst) haben kann, in seiner ganzen Ungereimtheit darzustellen: und dies ist gerade der Fehler, womit alle Dichter ohne Genie und wahres Talent unheilbar behaftet sind. Sie können kein Ganzes machen. – Sie fangen anders an und hören anders auf; ihr Werk ist aus übel zusammenpassenden Teilen zusammengeleimt; anstatt, wie die schöne Menschengestalt, dem Auge beim Überblick einer Form darzustellen, an welcher die Einheit des Ganzen desto angenehmer frappiert, je mehr man die einzelnen Teile in ihrer Verbindung und gegenseitigem Verhältnisse betrachtet.
Die Einwendung, die er sich machen läßt: »wie? Ist denn etwa Poeten und Malern nicht immer erlaubt gewesen, alles zu wagen?« – konnte er nur von einem solchen Neuling, wie der junge Piso (nach unsrer Voraussetzung) war, erwarten: und er beantwortet sie ihm durch ein Bild, das die Wahrheit seiner Regel zwar sehr sinnlich macht, aber, weil die Anwendung lediglich von dem richtigen Urteil und feinen Gefühl des Dichters abhängt, ihm doch zu nichts helfen konnte.