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11. Kapitel.

Oberst von Henderson war begraben.

Im Flur der Villa standen Harriets und der Hofrätin Koffer gepackt, vor der Einfahrt wartete bereits der Wagen, der beide zur Bahn bringen sollte.

Hempel schritt unruhig im Salon auf und ab. Diese Abreise paßte ihm ganz und gar nicht. Er begriff sie nicht. Sie warf einen Schatten auf Harriets Charakter. Wenn sie Richard Tiersteiner wahrhaft liebte, dann durfte sie den Dingen hier nicht feige den Rücken kehren!

Gestern noch hatte er geglaubt, daß wichtige selbstlose Gründe hinter diesem plötzlichen Entschluß standen. Aber diese Annahme wurde hinfällig in dem Augenblick, als er erkennen mußte, daß es keinesfalls eine ihr besonders nahestehende Person war, der sie ihren Verlobten zu opfern bereit war.

Warum ging sie? Immer wieder legte sich der Detektiv diese Frage vor und immer wieder stieg gleichsam als Antwort derselbe peinliche Gedanke in ihm auf: Ist sie am Ende doch nicht so unbeteiligt an dem Verbrechen, wie ich anfangs glaubte? Treibt sie Schuldbewußtsein von hinnen und die Überzeugung, ihres Verlobten Schicksal doch nicht aufhalten zu können?

Wäre die Annahme des Staatsanwaltes von einer Flucht der jungen Leute, die der Oberst im letzten Moment verhinderte, wofür er von Tiersteiners Hand den Tod fand, denn nicht so ganz unwahrscheinlich?

Die heutigen Tagesblätter hatten, offenbar durch die Behörden inspiziert, eine bedeutende Schwenkung in dieser Richtung unternommen.

Verhüllt zwar noch, aber schon deutlich erkennbar tauchte diese Version überall auf.

Silas nahm ärgerlich eine Prise nach der andern. Wenn seine Menschenkenntnis ihn so lächerlich im Stich gelassen hätte!

Aber der Stern, Nr. 300! Die geheimnisvolle Frau im sandfarbenen Kleid! Alles Trugschlüsse?

Wie schwül es im Salon war!

Er trat hinaus auf die Terrasse und starrte in den Park hinab, der im Goldglanz der untergehenden Sonne zu seinen Füßen lag.

Plötzlich leuchtete es in seinen Zügen auf. Ein erleichterter Seufzer entrang sich seiner Brust, die schmalen Lippen verzogen sich zu einem befriedigten Lächeln.

An einem der herrlichen Trompetenbäume nahe dem Parktor lehnte ein junger, stutzerhaft gekleideter Herr und beobachtete scheinbar aufmerksam den Flug zweier Schwalben.

Aber – Hempel ahnte, daß Herr Max Bräuner keine ornithologischen Studien hier betrieb.

In diesem Moment sagte eine sanfte Stimme hinter ihm: »Ich möchte Ihnen noch Adieu sagen, Herr Hempel, und – Ihnen danken! Sie waren so gut zu mir … Wenn ich nun das Schicksal des Menschen, der mir am teuersten ist auf Erden, allein in Ihren Händen lasse, werden Sie es mir hüten?«

Er wandte sich rasch um. Harriet, schon in Reisekleidung, stand hinter ihm. Sein Blick grub sich vorwurfsvoll in den ihren, als er kühl antwortete: »Und warum gehen Sie, mein Fräulein? Wenn Ihnen jener Mann so teuer ist, wäre es edler und vielleicht auch – klüger, Sie ließen ihn nicht feige im Stich!«

Ein Schauer lief über ihren Leib. Angst, nackte Angst flackerte in ihren Augen auf, die sich langsam mit Tränen füllten.

»Sie haben recht,« flüsterte sie, »es ist feige … erbärmlich feige, aber – ich muß fort! Ich fürchte mich ja so jämmerlich vor dem, was kommen muß.«

Der Detektiv prallte bestürzt zurück.

»Fräulein Henderson!!!«

Sie drückte fieberhaft erregt seine Hand. »Still – fragen Sie nichts – ich darf, ich kann Richard ja nicht helfen! Und glauben Sie mir nur: So elend wie mir ist ihm lange nicht zumute!«

Und er machte noch einen letzten Versuch.

»Und die Schätze, welches dieses Haus birgt – wie dürfen Sie die so unbeschützt zurücklassen?«

Ein unsäglich bitteres Lächeln kräuselte ihre Lippen.

»Ach Gold – was liegt daran? Mag die Polizei sie schützen, mag man sie stehlen – mein Jammer wird dadurch nicht um ein Haar größer werden.«.

»Harriet?« rief die Hofrätin, die sich schon früher von Hempel verabschiedet hatte, von innen, »bist du bereit?«

»Leben Sie wohl!« flüsterte sie, drückte noch einmal seine Hand und verschwand hastig im Hause.

Langsam, ein seltsam gespanntes Lächeln auf den Lippen, folgte ihr Hempel.

Die ganze Dienerschaft stand um den Wagen versammelt, den die Hofrätin bereits bestiegen hatte, als derselbe junge Mann, dessen Anwesenheit im Park Hempel zuvor mit so großer Genugtuung begrüßt hatte, höflich den Hut lüftend, auf Harriet zutrat und sagte: »Darf ich um eine Unterredung von zwei Minuten unter vier Augen bitten, Fräulein Henderson?«

»Jetzt?« fragte sie verwundert, den ihr gänzlich fremden Mann ansehend.

Er überreichte ihr mit einer stummen Verbeugung seine Karte, auf welcher gedruckt stand:

»Max Bräuner, Kriminalkommissär.«

Schweigend kehrte Harriet in das Haus zurück. Als sie mit dem Kommissär allein in dem Salon stand, sagte er höflich, aber bestimmt: »Sie stehen im Begriff, abzureisen, mein Fräulein, aber ich muß Sie leider bitten, diese Reise vorläufig aufzugeben. Das ist es, was ich Ihnen zu sagen hatte.«

Harriet stand einen Augenblick regungslos da und starrte den jungen Mann verständnislos an. Dann rang es sich mühsam von ihren bleich gewordenen Lippen: »Soll das heißen, daß … daß ich Ihre Gefangene bin?«

»O nein,« beeilte er sich abzuwehren, »so weit erstrecken sich die Intentionen der von mir vertretenen Behörde durchaus nicht. Wir haben nur ein Interesse daran, daß Sie gegenwärtig Ihren Aufenthaltsort nicht verändern. Wir müssen immer in der Lage sein, Sie um vielleicht notwendige Aufklärungen ersuchen zu können. Auch habe ich den Auftrag, mich über jeden Schritt zu unterrichten, den Sie unternehmen. Ich werde mein Amt so diskret als möglich ausüben, mein Fräulein, und bitte Sie nur, mich nicht entgelten zu lassen, was schließlich nur meine Pflicht ist.«

Er sprach rücksichtsvoll, ja selbst mit einem Anflug von Wärme, vielleicht gerührt durch das Bild völliger Hilflosigkeit, das sie bot, jedenfalls aber auch fasziniert von ihrer außerordentlichen Schönheit.

Harriet aber hörte nur das Brutale der Maßregel heraus. Wie zerschmettert war sie auf einen Stuhl gesunken.

»Also unter polizeilicher Aufsicht!« stöhnte sie leise. Dann mit einer gewaltsamen Anstrengung nach der Tür deutend: »Gehen Sie! Ich will allein sein. Verständigen Sie meine Freundin, daß die Reise unterbleibt.«

Herr Bräuner entfernte sich.

Als Harriet wieder aufblickte, stand Silas Hempel vor ihr. Da sprang sie auf, flammende Entrüstung in Blick und Mienen.

»Das ist Ihr Werk! Auf so schmachvolle Weise wollten Sie verhindern, daß ich abreise!«

»Sie täuschen sich,« antwortete er sanft, »die Maßregel ging allein von der Untersuchung aus. Ich hatte keine Ahnung davon, bis ich vor einer Viertelstunde den Kriminalkommissär zufällig im Park unten erblickte.

»Ist das – wahr?«

»Ich schwöre es Ihnen! Aber ich will nicht leugnen, daß ich Genugtuung darüber empfinde! Ihre Flucht wäre feige, und wenn Sie unschuldig sind, mindestens sehr unklug gewesen. Seien Sie versichert, daß, wenn ich nur den Schatten eines Rechtes dazu besessen hätte, ich Sie selbst zurückgehalten haben würde«

Harriet hörte nur halb hin. Unruhig ging sie im Gemach auf und nieder, bis sie plötzlich vor Hempel stehen blieb und herrisch fragte: »Aber warum tut man mir das an? Welcher Verdacht ruht auf mir?«

»Eine Frau hat beobachtet, wie sie in jener Nacht mit Tiersteiner den Park verließen, um sich in einen bereitstehenden Wagen zu begeben. Man weiß nicht, was Sie beabsichtigten, und Sie werden sich nun, offiziell befragt, wohl endlich darüber äußern müssen!«

Er sah, wie sie heftig erschrocken zusammenfuhr. Aber schon im nächsten Augenblick warf sie den Kopf stolz zurück und sagte mit herber Verachtung: »Sie irren! Ich werde einfach schweigen, was immer auch daraus entstehen mag!«

»Und wenn Sie gleich Ihrem Bräutigam des Mordes angeklagt werden?«

Eine Art Fanatismus leuchtete aus ihren schwarzen Augen.

»Dann werde ich sein Schicksal teilen und glücklich dabei sein! Ja – ich wollte fliehen, eben um seinetwillen, weil ich fürchtete – schwach zu werden. Jetzt werde ich stark sein, verlassen Sie sich darauf!«

Hempel betrachtete sie schweigend. Sie war berauschend schön in diesem Augenblick. An Stelle der sanften liebreizenden Weiblichkeit war etwas Dämonisches getreten, das einen Mann wohl um Verstand und Ueberlegung bringen konnte.

Hatte sie Richard Tiersteiner darum gebracht? So sehr, daß er vor dem Verbrechen nicht zurückschreckte, wenn es ihm nur ihren Besitz verhieß!

»Sie vergessen dabei nur eines, mein Fräulein,« sagte er endlich kühl, »daß ich noch da bin. Auch gegen Ihren Willen werde ich die Wahrheit ans Licht bringen!«

»Nun wohl – dann wird es wenigstens nicht meine Zeugenschaft sein, welche dazu geholfen hat. Ich bin zu schwach, das Schicksal aufzuhalten, aber – schweigen kann ich.«

Sie wandte sich ab und verließ den Salon.

Eine Stunde später verlangte ein kleiner Knabe Herrn Hempel zu sprechen. Es war das Söhnchen des Wirtes »zur blauen Katze«, welches meldete, daß ein Fiakerkutscher an der Wirtschaft seines Vaters vorgefahren und von Herrn Hempel dorthin bestellt worden sei.

Sogleich machte sich der Detektiv auf den Weg nach der nahen Schenke. Das konnte nur der von Kata herausgeschickte Kutscher sein, welcher in der Nacht vom 30. Mai Harriet und Tiersteiner gefahren hatte. Endlich eine Hoffnung auf etwas Licht!

Indessen das Schicksal schien sich gegen Silas Hempel erklärt zu haben. Wohl war es der Kutscher, den Harriet zu ihrer nächtlichen Ausfahrt benutzt hatte, aber was er wußte, war blutwenig.

Ein junger eleganter Herr hatte ihn am 30. Mai abends 9 Uhr angerufen, als er leer durch die Dornbacher Straße fuhr. Knapp unter dem Parktor von Monplaisir mußte er halten. Der Herr entfernte sich und kehrte schon nach etwa fünf Minuten mit einer anscheinend jungen, tief verschleierten Dame wieder.

Als Ziel der Fahrt wurde der Mildeplatz im 16. Bezirk angegeben, wo seine Fahrgäste ausstiegen und ihm zu warten befahlen.

Er sah nur noch, wie sie Arm in Arm die Degenstraße hinabgingen. Die Dame schien sehr aufgeregt, der junge Mann suchte sie zu beruhigen. Der Kutscher hielt beide für ein Liebespaar.

Fast zwei Stunden mußte er auf dem Mildeplatz warten, ehe das Paar zurückkehrte. Beide waren sehr niedergeschlagen. Beim Einsteigen sagte die Dame:

»Aber sie wußte doch – wie erklärst du es dir, Richard?«

»Ich kann es mir gar nicht erklären,« antwortete er, »es ist völlig unbegreiflich! Du hast gesehen, daß auch Jane in großer Aufregung darüber war!«

Das war alles, was der Kutscher wußte.

»Würden Sie die beiden wieder erkennen?« fragte Hempel.

»Den Herrn bestimmt, die Dame keinesfalls, da sie so dicht verschleiert war, daß ich überhaupt nichts von ihr sah.

»Es ist gut,« seufzte Hempel, »hier haben Sie ein Trinkgeld und sprechen Sie vorläufig zu niemand über die Sache. Wenn man Ihr Zeugnis braucht, werden Sie vorgeladen werden. Ihre Nummer ist 279, wie ich sehe. Wo wohnen Sie?«

»Hernalser Gürtel 63, Tür 21.«

Eines hatte Silas doch gewonnen: er konnte nun ein unanfechtbares Zeugnis dafür erbringen, daß weder Tiersteiner noch Harriet zur Zeit des Mordes in Monplaisir gewesen waren. Sollte er es Wasmut sogleich mitteilen? Er beschloß, vorläufig noch zu warten.

Wenn die beiden ihren Entschluß, zu schweigen, aufrecht erhielten, war schließlich zur Klärung des Verbrechens wenig durch dieses Zeugnis beizutragen. Auch fürchtete Hempel Brandners plumpen Eifer, der die schwache Spur am Ende nur verwischen könnte. Die geheimnisvolle Frau war sehr schlau. Der leiseste Schritt konnte sie warnen und in die Flucht treiben.

Endlich trieb Hempels Ehrgeiz ihn dazu an, seine Entdeckungen vorläufig für sich zu behalten. Wasmut und Brandner hatten sich mit so überlegener Sicherheit ihm gegenüber gebärdet, daß er ihnen nur mit der völligen Lösung aller Rätsel entgegentreten wollte.

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