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19. Kapitel

»Ich bin hierher gekommen,« sagte sie mit Anstrengung, »weil wir hier sicherer vor Störungen sind als im Salon drüben. Sie – Sie haben mir geschrieben –«

Er schob ihr einen Stuhl hin, auf den sie sich wie gebrochen niederließ, die schwarzen Augen mit einem so flehenden, hilflosen Ausdruck auf ihn gerichtet, daß Hempel, alle Differenzen vergessend, nichts als Mitleid für sie empfand.

»Ja,« antwortete er, »ich habe die Frau gefunden, welche damals mit so großer Gewandtheit in den Park eindrang. Sie war auch heute nacht wieder hier bis an ihrer Wohnung.«

»Und – warum schonten Sie diese Frau, nachdem Sie ihr doch seit Wochen erbarmungslos nachjagten?«

Hempel blickte ernst auf Harriet nieder.

»Sie haben [Name unleserlich im Buch. Re] gestern einen Henker genannt, der nichts weiß von Menschlichkeit« sage er leise. »Mich, der ich mehr als einmal im Leben die Gerechtigkeit der Menschlichkeit opferte! Ehe ich jene Frau zur Verantwortung ziehe, möchte ich aus Ihrem Munde hören, warum ihr Schicksal Ihnen nahe geht und – ob Sie Gründe wissen, die ihre Schuld in milderem Licht erscheinen lassen.«

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille im Zimmer. Dann antwortete Harriet: »Sie ist meine Mutter, und mein Vater hat ebenso schmählich als grausam an ihr gehandelt!«

Hempel prallte zurück. Alles andere hätte er eher erwartet, als diese Antwort.

»Wie – Miß Gwendoline Webster –«

»Mrs. Gwendoline Henderson! Webster heißt nur Jane, ihre langjährige treue Dienerin. Aus Vorsicht gab sie meine Mutter hier für ihre Schwester aus, da sie sie der Obhut Dr. Ralph White's, eines jüngeren Bruders meiner Mutter, entzog und dessen Verfolgung aus England fürchtete.«

Hempel ging unruhig im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor Harriet stehen.

»Erzählen Sie mir die Geschichte Ihrer Mutter.«

Sie seufzte tief auf.

»Es ist eine sehr traurige Geschichte und ich kenne sie selbst bis jetzt nur in knappen Umrissen so wie sie Jane, diese einzig treue Seele, meinem Bräutigam unter vielen Tränen erzählte, als sie vor drei Wochen mit Mutter zu ihm kam.«

»Halt – kannte Herr Tiersteiner Ihre Mutter schon früher oder führte sie sich durch jenes Empfehlungsschreiben des alten Beastrock bei ihm ein?«

»Er sah sie und Jane zum erstenmal im Leben vor drei Wochen. Bis dahin wußte er von ihrer Existenz so wenig wie ich.«

»Ist Ihnen bekannt, wie Herr Beastrock dazu kam, jenes Empfehlungsschreiben auszustellen?«

»Richard erzählte mir darüber folgendes, das er aber auch erst durch Jane Webster erfuhr: Herr Beastrock, sein Großvater, stand früher, als er noch ein blühendes Juweliergeschäft in London führte, mit meinem Vater in geschäftlicher Verbindung. Später entzweiten sie sich derart, daß Beastrock meines Vaters bitterster Feind wurde –«

»Worüber entzweiten sie sich?«

»Das weiß ich nicht. Jane hat darüber nichts verlauten lassen. Sie erwähnte es nur, weil diese Feindschaft der Grund war, weshalb sie sich an Beastrock um eine Empfehlung wandte. Dies geschah bereits vor einem Jahr. Jane, deren ganzes Leben nur dem einen Gedanken geweiht war, ihrer Herrin Gerechtigkeit und Genugtuung zu verschaffen, wartete seit vielen Jahren auf den Moment, der es ihr ermöglichen würde, meine Mutter hierher zu bringen, wo sie, von mir unterstützt, meinen Vater zwingen sollte, sein Unrecht wenigstens teilweise gut zu machen. Aus diesem Grunde vertraute sich Jane Herrn Beastrock an und erbat dessen Hilfe. Denn sie wußte wohl, daß sie auf geradem Wege es nicht erlangen würde, von ihm auch nur empfangen zu werden. Im Gegenteil. Er würde, wie schon einmal, nur wieder zur Gewaltanwendung schreiten. Erst wenn ich auf meiner Mutter Seite stand, konnte man auf Erfolg hoffen. Beastrocks Sohn sollte nun zwischen mir und meiner Mutter insgeheim eine Verbindung anbahnen. Herr Beastrock empfahl denn auch seinem Sohne, alles zu tun, um meiner armen Mutter, die auch ein Opfer meines Vaters sei, wie er sich ausdrückte, nützlich zu sein. Richards Vater war bereits eine Woche fort, als meine Mutter mit Jane in Wien ankam. Sie wußte nicht, daß Richard mein Verlobter ist, und ahnten nicht, wie tief ihn eben darum die Leiden meiner armen Mutter erschütterten … Noch am Tage danach, als er mir deren Geschichte wiedererzählte, konnte er mehrmals vor innerer Bewegung nicht weiter sprechen, und zuletzt rief er, meine beiden Hände ergreifend und mir tief in die Augen sehend, leidenschaftlich aus: »Harriet, ein Stein müßte sich erbarmen beim Anblick dieser armen gequälten Frau, welche deine Mutter ist und der man grausam ihr Kind entrissen hat! Ich würde mein Leben hingeben, um ihr das ihre noch einmal zurückgeben zu können! Schwöre mir, daß du gleich mir fortan keinen heiligeren Wunsch haben wirst, als sie vergessen zu machen, was sie gelitten hat!«

Harriet hielt inne. Sie hatte mit steigender Bewegung gesprochen, jetzt glitt ein stolzes, glückliches Lächeln gleich dem Abglanz eines fernen Lichtes über ihr Gesicht.

»Mußte ich Richard nach jenen Worten nicht tausendfach mehr lieben als zuvor? Ach, wir ahnten damals beide noch nicht, wie grausam das Schicksal unsere Opferbereitschaft auf die Probe stellen sollte! Wir träumten von einer glücklichen Zukunft zu dreien irgendwo in einem stillen Winkel der Erde, wohin meines Vaters Hartherzigkeit uns nicht folgen konnte …«

»Und worin bestand das Unrecht, welches Oberst Henderson an seiner Frau beging?« warf Hempel ein.

Harriets weiche Züge wurden plötzlich hart, und ein leidenschaftlicher Ausdruck trat in ihre Augen.

»Worin? In der größten Schmach, die ein Mann der Frau antun kann – in dem brutalen Egoismus, mit dem er ihr Leben zertrat, nachdem seine flüchtige Leidenschaft verrauscht war. Sie erwarten vielleicht sensationelle Begebenheiten – ach, es ist nur eine alltägliche Geschichte! Mutter war arm, aber von berückender Schönheit. Jane erzählte Richard, daß niemand meine Mutter ansehen konnte, ohne gerührt durch ihren Liebreiz, hingerissen durch ihre seelenvolle Güte zu werden. Sie war das Kind eines Drahtseilkünstlerpaares und noch ein halbes Kind – kaum sechzehn Jahre –, als mein Vater sie kennen lernte. Kurz darauf verunglückten beide Eltern und meine Mutter blieb mit einem jüngeren Bruder mittellos zurück. Mein Vater wollte anfangs nur ihr Herz gewinnen, als er aber einsehen mußte, daß ihre Tugend allen Lockungen widerstand, entschloß er sich plötzlich, sie zu seiner Frau zu machen. Er tat noch mehr. Er brachte ihren Bruder Ralph in einem Kollege unter und sorgte auch für dessen weitere Ausbildung. Ralph White ist heute ein gesuchter Arzt in London und derselbe, in dessen Obhut sich meine Mutter befand, nachdem – aber ich greife den Ereignissen vor. Zu jener Zeit empfand mein Vater eine große Leidenschaft für seine junge Frau. Auch sie liebte ihn unendlich, wie Jane, welche schon während ihrer Mädchenzeit in ihren Diensten stand, bezeugte. Leider gab er ihr bald Grund zur Eifersucht, und als ich geboren wurde, schien seine Liebe bereits ganz verraucht. Er behandelte sie schlecht und redete sich aus, die Eifersuchtsszenen, die sie ihm mache, vergällten ihm das Leben. Eines Tages schlug er sie und drohte ihr mit Scheidung. Meine Mutter war außer sich. Sie hatte niemand als Jane, der sie sich anvertraute. Diese suchte zu beschwichtigen, aber vergebens. Es wurde nur ärger mit jedem Tag. Meine Mutter bekam Nervenanfälle, welche Jane entsetzten, die aber mein Vater nur »Komödien« nannte. Als es damit nur ärger wurde, erschien er eines Tages in Begleitung eines Arztes, der, wie Jane schwört, bestochen war und meine Mutter für wahnsinnig erklärte.

Acht Tage später brachte man meine Mutter in eine Privatirrenanstalt trotz Janes Flehen, trotz ihrer energischen Vorstellungen, trotz ihrer drohenden Proteste. In dieser Anstalt blieb meine Mutter zwanzig Jahre lang …«

Ein Schauer lief durch Harriets Leib.

»Zwanzig Jahre lang unter den Irren, wenn man geistig gesund ist – wissen Sie, was dies heißt, Herr Hempel?«

Hempel schüttelte ungläubig den Kopf.

»In unseren Tagen – es ist unmöglich!«

»Es war möglich. Mein Vater brachte ärztliche Atteste … er setzte die Scheidung durch – er sprengte das Gerücht aus, seine Frau sei gestorben. Er erzog mich in dem Glauben, meine Mutter sei längst tot, und brachte mich, um Jane jede Möglichkeit zu nehmen, mir die Wahrheit zu sagen, in ein Schweizer Pensionat. Und in all diesen Jahren hatte meine Mutter nur eine einzige treue Seele auf der Welt, nur eine, die an ihre Gesundheit glaubte und unentwegt dafür eintrat: Jane Webster!«

»Und Dr. White, der Bruder von Mrs. Henderson?«

»O, er! Er glaubte, was alle Welt glaubtet Mein Vater hatte ihm ein Kapital übergeben, aus dessen Zinsen alle Auslagen für meine Mutter bestritten werden sollten, denn er selbst wollte durch nichts mehr an die Frau erinnert werden, die er geliebt und die einst seinen Namen trug.«

»Was geschah weiter?«

»Jane, die unermüdliche Treue, setzte es endlich durch, daß man meine Mutter in die Obhut ihres Bruders gab. Man gab vor, ihr Zustand habe sich gebessert … in Wahrheit wagte man wohl nicht, die Komödie noch länger fortzusetzen.«

»Und wie benahm sich Dr. White?«

»Er soll sehr gut und liebevoll gegen seine Schwester gewesen sein – aber die Fiktion einer geistigen Erkrankung hielt er trotzdem aufrecht und gab nicht zu, daß meine Mutter oder Jane sich mir irgendwie näherten. Jane aber hatte nur einen Gedanken, mir die Mutter, ihrer Herrin das Kind wiederzugeben und es mit meiner Hilfe durchzusetzen, daß sie wieder die ihr gebührende Stellung in der Welt einnahm. Nicht an der Seite meines Vaters natürlich, sondern an der meinen. Da mein Onkel seiner Schwester nur innerhalb seines Hauses Freiheit gewährte, mußte Jane sehr vorsichtig zu Werke gehen, ehe es ihr gelang, mit meiner Mutter zu entfliehen.«

»Ah – sie entfloh?«

»Ja – zu mir! Darum mußten sie so vorsichtig sein, unter falschem Namen hier auftreten und sich durch Richard mit mir in Verbindung sehen. Hätte mein Vater eine Ahnung von all dem bekommen, er hätte die Ärmste ja abermals eingesperrt!«

Hempel sah immer ungläubiger drein.

»Die Macht der Suggestion ist zwar groß,« sagte er endlich kopfschüttelnd, »dennoch wundere ich mich, daß Ihnen nicht einmal die Möglichkeit vor Augen schwebte, Jane könne in ihrer fanatischen Treue einer – Illusion so große Opfer gebracht haben! Sind Sie denn fest überzeugt, daß Ihre Mutter wirklich geistig gesund ist?«

Harriet sah Hempel einen Augenblick sprachlos an, dann runzelte sie finster die Stirn.

»O – Sie zweifeln daran?«

»Ich zweifle nicht, ich ziehe nur die Möglichkeit in Betracht. Ich habe Ihre Mutter heute nacht beobachtet, als sie vergebens versuchte, ins Haus zu dringen. Sie lachte. Kann ein geistig gesunder Mensch – eine Frau – lachen an dem Ort, wo er einen Mord begangen hat?«

»Ein Mensch, der zwanzig Jahre litt, was meine Mutter gelitten hat, muß ihn nicht ein brennender Durst nach Rache verzehrt haben, und kann er nicht in einem Augenblick der Erregung lachen – daß dieser Durst endlich gestillt wurde? Richard ist doch kein Kind! Er hat mit meiner Mutter wiederholt gesprochen und nie einen Augenblick an ihrer geistigen Gesundheit gezweifelt!«

»Nein – er ist kein Kind,« murmelte Hempel, »aber ein Mensch von ungewöhnlich weichem Herzen und seltenem Idealismus. Aber fassen wir die Tatsachen zusammen, wie Jane Webster sie darstellt: Ihr Vater suchte sich danach seiner Frau, als die Leidenschaft vorüber war, zu entledigen, indem er sie für wahnsinnig erklären und in ein Irrenhaus stecken ließ. So etwas kommt nur in Kolportage-Romanen vor. In Wirklichkeit begnügt man sich mit der Scheidung. Nur ein Ungeheuer oder einer, der selbst wahnsinnig ist, könnte tatsächlich so handeln.«

»Mein Vater war bestimmt nicht wahnsinnig!« erklärte Harriet leise mit einem Seufzer.

Hempel begann wieder im Zimmer herumzuwandern.

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