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Hempel blickte bestürzt in des alten Mannes bekümmertes Antlitz.
»Die letzte Nachricht? Wieso?« fragte er. »Hat Ihr Bruder die »Wilhelmina« nicht benutzen können? Ist er noch in Wien?«
»Nein. Aber ein merkwürdiger Zufall – ein Verhängnis – fügte es, daß auch er, der letzte, in dessen Händen sich jener verfluchte Stein befand, das Schicksal seiner Vorgänger teilte.«
Er zog eine Nummer der »Times« vom Tage zuvor aus der Tasche und wies auf eine kurze Notiz.
»Lesen Sie, mein Herr!«
Hempel las halblaut: »Bei der gestrigen Einfahrt der »Wilhelmina« von Vlissingen in den Hafen von Harwich ereignete sich infolge des herrschenden Nebels ein Unfall, dem ein Menschenleben zum Opfer fiel. Der Dampfer fuhr an eine Jacht an, welche den Hafen eben verlassen wollte, und hätte ohne die Geistesgegenwart des Kapitäns, der sofort Konterdampf geben ließ, wohl argen Schaden angerichtet. Durch den Anprall wurde ein am Vorderdeck stehender Passagier der »Wilhelmina« namens Stefan Hope über Bord geschleudert und konnte leider trotz sofort ausgesetzter Rettungsboote nicht mehr aufgefunden werden.«
Silas Hempel ließ das Blatt sinken und starrte kopfschüttelnd vor sich hin.
»Merkwürdig! So hat seine Ahnung sich erfüllt …! und das Meer, das den blauen Diamanten einst vor Jahrhunderten auf seinen Fluten nach England brachte, hat ihn nun für ewig in seinen Tiefen begraben.«
Hempel suchte unverzögert den Untersuchungsrichter Wasmut auf. Er fand ihn im Bureau und ließ sich gemütlich auf einen Stuhl nieder, schlug die Beine übereinander und fragte lächelnd:
»Nun, wie steht's mit unserem Fall? Haben Sie etwas Neues ermittelt?«
»Neues? Du lieber Gott, ich sagte Ihnen schon das letztemal: Die Sache ist klipp und klar erledigt.«
»Ach so. Sie halten Richard Tiersteiner noch immer für den Mörder des Obersten?«
»So sehr, daß ich die Voruntersuchung als abgeschlossen betrachte und soeben den Auftrag gab, die Akten zur Staatsanwaltschaft zu schicken.«
»Hm – sind die Akten am Ende schon fort?«
»Das weiß ich wirklich nicht. Der Auftrag ist jedenfalls gegeben.«
»Nun, ich werde Ihnen etwas sagen, Dr. Wasmut. Sie beehren mich seit Jahren mit Ihrer Freundschaft und ich will mich nicht undankbar zeigen. Als Freund gebe ich Ihnen den Rat: Requirieren Sie Ihre Akten schleunigst – ehe man sie der Staatsanwaltschaft übergibt.«
Wasmut riß die Augen groß auf.
»Wieso? Was soll das heißen? Haben Sie denn wirklich etwas Neues herausgebracht, das die Sachlage ändert?«
»Jawohl – einiges,« lächelte Silas mit unerschütterlicher Ruhe. Aber sehen Sie zuerst zu, daß Sie Ihre Akten wieder bekommen.«
Wasmut begriff zwar nichts, aber er wußte, daß Hempel nie ohne zwingende Gründe so sprechen würde. Darum klingelte er und atmete erleichtert auf, als der Diener auf sein Befragen antwortete, die Akten seien noch nicht an den Staatsanwalt abgeschickt worden.
»Sie sind vorläufig zurückzuhalten,« ordnete er an. »ich habe noch Ergänzungen hinzuzufügen.«
»Na, jetzt schießen Sie aber los mit Ihren Neuigkeiten, ich bin wahrhaftig gespannt, was Sie herausgebracht haben!«
Hempel wehrte bescheiden ab.
»Wenn ich ehrlich bin, so ist's diesmal nicht mein Verdienst, daß die Wahrheit an den Tag kam. Mein ganzes Verdienst besteht eigentlich nur darin, daß ich Ihnen da heute nacht die Geschichte aufgeschrieben habe. Der angeheftete Brief am Schluß enthält das Geständnis des Mörders – der übrigens gar kein Mörder war, da er in Notwehr handelte. Lesen Sie alles.«
Er legte ein sauber geschriebenes Heft vor Wasmut hin, der verwundert den Titel las: »Geschichte des blauen Diamanten.«
Dann vertiefte er sich in den Inhalt des Heftes. Auf der letzten Seite war die Notiz der Times über den Unfall im Hafen von Harwich aufgeklebt.
Dr. Wasmut las sie zwei Mal. Dann blickte er verwirrt auf Silas Hempel.
»Unglaublich! Und sind Sie überzeugt, daß diese abenteuerliche Geschichte – wahr ist?«
»Vollkommen, denn ich besitze eine Reihe von Beweisen dafür. Der blaue Diamant war als Stern Nr. 300 in den Sammlungen des Obersten verzeichnet. Die Witwe Fernandel, Dornbach, Anderngasse 6, existiert. Ich habe mit ihr und dem Arzt Dr. Kayser, der »Stefan Hope« behandelte, gestern gesprochen. Beide bestätigen alles, was William Beastrock über seinen Aufenthalt vor und nach dem 30. Mai in der Anderngasse angibt. Die Wunde befand sich in bedenklichem Zustand, als er am 17. Juni Wien verließ, um nach England zurückzukehren. In einer Kommode des Zimmers, welches er bei Frau Fernandel bewohnte, fand ich endlich diesen Dolch –«
Hempel legte einen hübschen indischen Dolch vor Wasmut hin.
»Sie werden bemerken, daß seine Klinge noch Blutspuren aufweist. Fräulein Henderson hat ihn bestimmt als Eigentum ihres Vaters agnosziert, das nebst andern alten Waffen stets über seinem Schreibtisch hing. William Beastrock hat ihn entweder bei der Abreise vergessen, oder überhaupt nicht mehr an die Waffe gedacht. Endlich habe ich Ihnen einen Mann mitgebracht, der bereit ist, jeden gewünschten Aufschluß über die Vergangenheit zu geben.«
Hempel stand auf und öffnete die Tür nach dem Vorzimmer.
»Darf ich bitten, Herr Tiersteiner? Sie haben doch die Zeitungen bei sich, welche über den genauen Verlauf jenes Prozesses berichten, dessen Opfer Ihr Bruder war?«
Frank Tiersteiner legte eine Anzahl alter Times-Nummern vor den Untersuchungsrichter hin.
Wasmut überflog deren Inhalt und legte sie dann schweigend zu dem Heft, das Hempel ihm übergeben hatte.
»Nun – zweifeln Sie noch?« fragte Silas.
»Nein. Das Material ist überzeugend. Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet.«
Wasmuts überlegene Herablassung hatte sich in das Gegenteil verwandelt. War er auch nicht ganz frei von bitteren Gefühlen bei dem Gedanken, abermals, wie schon so oft, Hempels seltenem Scharfsinn gegenüber unterliegen zu sein, so empfand er andererseits zu gerecht, um nicht einzusehen, daß er dem Detektiv zu großem Danke verpflichtet war.
Silas hätte ebensogut den Erfolg seiner Nachforschungen für sich allein ausnützen können. Daß er Wasmut noch in letzter Stunde an der Aktenübergabe an die Staatsanwaltschaft verhinderte und ihm großmütig das ganze Material zur Verwertung überließ, war eine edle Freundestat und bewies nur wieder, daß es diesem seltenen Mann mehr um die Lösung eines schwierigen Problems, als um äußere Ehren zu tun war.
Aus diesem Gefühl heraus drückte Dr. Wasmut Hempels Hand mit Wärme und murmelte:
»Ich danke Ihnen nochmals! Sie haben als wahrer, selbstloser Freund gehandelt!«
Dann klingelte er und ließ Richard Tiersteiner vorführen.
»Sie sind frei, mein Herr, man hat die Person ermittelt, welche Oberst Henderson erschoß, und ich bedauere nur, daß ein Irrtum Sie so lange der Freiheit beraubte.«
Richard zuckte zusammen und wurde blaß. Vielleicht wurde nie eine Enthaftung in den Mauern des grauen Hauses mit so viel Bestürzung entgegengenommen.
Ehe er aber noch eine Frage tun konnte, legte sein Vater die Hand auf Richards Arm und sagte: »Du brauchst nicht zu erschrecken, denn auch die Person, für welche du dich opfern wolltest, ist schuldlos. Ich werde dir alles erklären. Komme jetzt aber vor allem mit uns, denn es gibt einen Ort, wo du nötiger bist als in der Zelle der Untersuchungsgefangenen.«
Die gute Hofrätin Warmbach war schon fast verzweifelt. Harriets Zustand war trostlos. Obwohl der Arzt keinerlei örtliche Erkrankung finden konnte, lag sie, täglich bleicher und schwächer werdend, wie eine Schwertranke in den Kissen.
Man mußte ihr die nötige Nahrung fast mit Gewalt beibringen und wartete vergebens auf irgend ein Zeichen von Interesse an den Dingen, welche sie umgaben. Hörte sie überhaupt, wenn man mit ihr sprach? Die Hofrätin bezweifelte es.«
»Sie ist wie ein Licht, das langsam erlischt,« klagte sie dem Arzt, so oft er vorsprach. Der zuckte die Achseln.
»Eine tiefe, seelische Depression, die allerdings sehr bedenklich werden kann, wenn man sie nicht bald daraus aufrütteln kann«
Ach, die Hofrätin begriff diese Depression, jetzt, nachdem sie durch Silas Hempel über alle Ereignisse aufgeklärt worden war, ja nur zu gut.
Gestern war Dr. White bei seiner Nichte gewesen, um Abschied von ihr zu nehmen, da er mit seiner kranken Schwester und Jane nach England zurückkehren mußte.
Auch er hatte bedenklich den Kopf geschüttelt.
Harriet hatte während seines Besuches mit keiner Wimper gezuckt, sondern starr und ausdruckslos vor sich hingesehen wie alle die Stunden zuvor.
»Reisen Sie mit ihr,« riet er, »sie braucht andere Umgebung.«
Die Hofrätin seufzte.
Reisen – in dem Zustand!
So standen die Dinge in Monplaisir, als Frank Tiersteiner mit seinem Sohne dort erschien. Die Hofrätin stieß einen Freudenschrei aus, als sie Richard erblickte.
»O, jetzt wird alles gut werden! Ihr Anblick wird sie doch aus ihrer Apathie reißen!«
Richard bat, allein zu Harriet gehen zu dürfen, die auf einer Chaiselongue in ihrem Zimmer lag.
Er erschrak, als er in die bleichen Züge blickte und den glanzlosen Blick der schönen, schwarzen Augen auf sich gerichtet fühlte.
»Harriet – liebe Harriet,« stammelte er, sich neben ihrem Lager auf die Knie niederlassend, »kennst du mich denn nicht?«
Sie schwieg. Als er aber ihre schlaff herabhängende Hand ergriff, lief ein Zittern durch ihren Körper.
»Mein Lieb,« murmelte er mit weicher Zärtlichkeit, »du darfst nicht so schwach sein! Sieh, nun bin ich wieder bei dir und die Liebe ist so stark – sie wird dich alles vergessen machen, sie wird dir alles ersetzen, was du verlorst …«
Harriet richtete sich plötzlich auf und sagte mit klangloser Stimme: »Still. Sprich nicht von Liebe. Ich kann keines ehrlichen Mannes Frau werden. Mein Vater … o, weißt du es denn noch nicht? Mein Vater war ein Dieb … ein Mörder …«
Er streichelte sanft ihr Haar, ihre blassen Wangen, ihre armen, müden Hände, die wie welke Blüten in den seinen lagen. Dann sagte er ernst:
»Du sprichst von deinem Vater, der tot ist. Warum sprichst du nicht von unserer Liebe, die lebendig und unendlich ist wie das All ringsum? Hast du aufgehört, mich zu lieben?«
Und mit einer energischen Bewegung ihren Oberkörper aufrichtend und den Blick tief in den ihren senkend, sprach er weiter:
»Weißt du nicht, daß die Liebe etwas Heiliges ist und daß du dich versündigst an ihr, wenn deine Gedanken um andere Dinge kreisen? Ich will dich gesund sehen! Ich will dich stark sehen! Ich will das süße, hingebende Leuchten in deinen Augen wiedersehen, das mir mehr gilt als die ganze Welt! Harriet – komm zu dir! Wir haben beide schwer gelitten, aber über der Vergangenheit baut sich leuchtend eine goldene Zukunft auf, in der nichts Raum haben soll als du und ich allein!«
Er hatte in steigender Bewegung gesprochen. Jetzt riß er sie in wilder Zärtlichkeit an seine Brust und stammelte: »O, du – Liebste, Süßeste – weißt du denn nicht, wie rasend ich dich liebe?«
Unter seinen stürmischen Küssen brach die Starrheit, welche Harriet im Bann gehalten hatte. Mit einem Schrei seinen Nacken umklammernd, brach sie in heißes Weinen aus.
Als Richard eine halbe Stunde später glückstrahlend seinen Vater und die Hofrätin im Nebenzimmer aufsuchte, sagte er: »Sie hat eingewilligt, morgen mit Ihnen, gnädige Frau, und mir die Reise nach Tirol anzutreten und im Herbst will sie in Val Modonna mein Weib werden!«