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21. Kapitel.

Silas scharfer durchdringender Blick ruhte einen Augenblick forschend auf den gutmütigen, aber etwas beschränkten Zügen der Engländerin, welche in diesem Augenblick nur einen Ausdruck trugen – den hilfloser, bestürzter Verlegenheit.

»Führen Sie uns zu meiner Mutter,« sagte Harriet, die ihre Sehnsucht kaum mehr bezwingen konnte, hastig, »und bereiten Sie indessen sofort alles zur Abreise vor. Es ist alles entdeckt, aber dieser Herr will so gütig sein –«

»Bitte, treten Sie erst hier bei mir ein,« unterbrach Jane Webster Harriet mit klangloser Stimme, »ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen.«

Betroffen folgten beide der Engländerin in ein schmales, einfach möbliertes Kabinett, wo Jane sie bat, Platz zu nehmen.

»Sie haben mich vorhin eine treue Seele genannt, Miß Harriet,« fuhr sie nun mit derselben müden klanglosen Stimme fort, und ich glaube wirklich, ich bin ihr all die Jahre her treu gewesen, meiner armen Herrin. Vielleicht zu treu – denn ich habe ihr immer alles geglaubt, auch daß sie ungerecht verfolgt und – gesund war …«

»Was soll das heißen? Jane, was reden Sie da zusammen?« stammelte Harriet, bis in die Lippen erbleichend. »Sie wollen doch nicht behaupten –«

»Daß Ihre Mutter, Miß Harriet, in der Tat wahnsinnig ist und, so viel ich jetzt beurteilen kann, es wohl auch immer war. Ja – das ist es, was ich Ihnen mitteilen muß, ehe Sie sie sehen.«

»Jane! O Gott – Jane!!?«

Die Engländerin nickte traurig.

»Es ist hart für mich, daß ich Ihnen dies eingestehen muß, nachdem ich zwanzig Jahre lang vom Gegenteil überzeugt war und noch am dreißigsten Mai morgens einen Eid darauf abgelegt hätte. Ich habe ihr eben alles geglaubt. Und wenn sie zuweilen übertrieben war, so schob ich es auf die Leiden, welche sie erdulden mußte. Jetzt aber, wo sie ihre Worte nicht mehr berechnen kann und alles heraussagt, was ihr durch den Sinn fährt, jetzt sehe ich wohl, daß sie selbst mich mit Absicht über vieles getäuscht hat. Nun haben freilich auch Dr. Whites Worte, der mich immer von Mrs. Hendersons Krankheit überzeugen wollte, einen ganz anderen Sinn. Selbst der Oberst scheint mir nun nicht mehr schuldig.«

Harriet preßte die Hände krampfhaft im Schoß zusammen.

»Aber wie – seit wann – o, Jane, wissen Sie denn auch, was Sie sagen?«

Jane nickte.

»Nur zu gut, Miß Harriet! Seit anderthalb Wochen lasse ich sie kaum eine Minute außer Auge und jede Minute beweist nur deutlicher, wie krank sie ist und daß sie es schon – früher war. Hundert Dinge, die sie mir als Quälereien des Obersten darstellte, erweisen sich jetzt als schlaue Bosheiten, die sie selber ihm antat. Sie weiß es nicht, was sie ausplaudert. Sie ist stolz darauf, ihn gequält zu haben, befriedigt, daß sie mit seiner Liebe ein grausames Spiel und ihn an den Rand der Verzweiflung getrieben hat, denn sie selbst hat ihn nie geliebt. Sie ist so froh, daß er tot ist, bloß weil sie dadurch den Torschlüssel erlangte und sich einbildet, ihren Trauschein bekommen zu können, den sie – zerreißen will. Dazu allein will sie ihn haben. Sie lacht auch darüber, daß ich ihr immer alles geglaubt habe – o, sie ist so ein armer, bejammernswerter Mensch, jetzt, wo sie nicht mehr die Kraft hat, sich zu verstellen und – gesund zu scheinen.«

In Hempel stieg plötzlich ein jäher Verdacht gegen Jane Webster auf. Wollte Sie vielleicht jetzt an den Wahnsinn ihrer Herrin glauben machen, um die Mörderin dem Gesetz zu entziehen?

»Dann hat Mrs. Henderson also ihren Gatten im Wahnsinn erschossen?« warf er ein, Jane scharf ansehend.

Aber ruhig, ohne einen Moment zu zögern, antwortete sie: »Nein, Herr, sie hat ihn überhaupt nicht erschossen, wenn sie den Mord auch wahrscheinlich mit ansah und darüber ihr letztes bischen Verstand verlor. Sie hat nur den Parktorschlüssel an sich genommen, den der Mörder stecken ließ.«

Hempel sprang aufs höchste betroffen auf.

»Wie wissen Sie dies? Es ist unmöglich …«

»Aus ihren Reden, die sich immer in der gleichen Weise wiederholen, und aus dem Umstand, daß sie den Revolver, welchen sie damals mit sich nahm, noch genau ebenso geladen zurückbrachte, wie ich ihn von London mitnahm.

Jane stand auf, ging an einen Schrank und kehrte mit der Waffe zurück, welche sie vor Hempel niederlegte.

»Überzeugen Sie sich selbst! Ich kaufte ihn bei Clayton, Oxfordstreet 45. Er ist völlig ungebraucht. Sie werden sich ja gewiß auf derlei verstehen.«

Hempel sah vor allem auf den ersten Blick, daß es ein ganz anderes Kaliber war, als die Waffe haben mußte, aus welcher die tödliche Kugel kam.

»So haben Sie also Ihre Herrin überhaupt nie für die Schuldige gehalten?«

»Doch. Als ich am nächsten Tag von dem Morde hörte, war ich von ihrer Schuld sogar überzeugt, weil ich den Revolver nicht gleich fand. Später aber fand ich ihn achtlos von Mrs. Henderson in den Papierkorb geworfen und inzwischen hatte ich bereits aus ihrem Gebahren entnommen, daß sie keinesfalls die Mörderin sein konnte.«

Hempel ging erregt herum.

»Aber wer – um Gotteswillen – wer kann denn dann das Verbrechen begangen haben?«

Er war tief entmutigt. So hatten alle Aufregungen und Arbeiten nur dazu geführt, Mrs. Hendersons und Nebes Unschuld an dem Mord zutage zu fördern! Nicht um einen Schritt war er weiter gekommen in diesen Wochen, dunkler als je lag die Tat begraben unter rätselhaften Geheimnissen.

»Warum sind Sie nicht zu mir gekommen. Jane, in diesen Tagen? Warum schrieben Sie mir nicht wenigstens?« fragte Harriet. »Sie hätten mir viel Leid erspart«

Die alte Dienerin senkte apathisch den Kopf.

»Es ist wahr,« murmelte sie, »ich hätte daran denken sollen, daß Sie vielleicht auch Ihre Mutter für die Mörderin hielten. Aber ich habe an nichts anderes gedacht in diesen Tagen als an den furchtbaren Irrtum, dem ich zwanzig Jahre meines Lebens zum Opfer brachte. Ich habe sie beobachtet und studiert – unausgesetzt bei Tag und Nacht, bis ich endlich nicht mehr – zweifeln konnte! Dann habe ich an Ihren Onkel geschrieben, ihm die Schuld bekannt, die ich unwissentlich auf mich lud, und ihn gebeten, sofort herzukommen, denn Mrs. Henderson ist gutwillig nicht von hier fortzubringen.«

»Und hat Dr. White schon geantwortet?«

»Ja. Ich erwarte ihn heute. Der Expreßzug von Paris kam vor einer halben Stunde, Dr. White kann jeden Augenblick hier sein.«

Harriet erhob sich.

»Führen Sie mich zu ihr,« bat sie mit erstickter Stimme.

Jane zögerte.

»Sie wird Sie vielleicht nicht anhören und das wird Ihnen wehe tun …« murmelte sie. Aber Harriet bestand darauf.

»Sie ist doch meine Mutter! Einmal wenigstens will ich sie in meine Arme schließen –«

Hempel folgte den beiden schweigend in das anstoßende Zimmer.

Dort stand die hagere große Frau mit den glühenden Augen in dem unheimlich weißen Gesicht, die er nachts im Park von Monplaisir beobachtet hatte, am Fenster und fingerte planlos in einem Stoß alter Papiere herum. Sie wandte kaum den Kopf nach den Eintretenden.

»Mutter!« rief Harriet mit bebender Stimme. »Mutter – ich bin Harriet –«

Keine Antwort.

Jane trat dicht an ihre Herrin heran.

»Mrs. Henderson hören Sie nicht? Harriet ist hier – Ihre Tochter!«

Mrs. Henderson wandte ein wenig den Kopf und sah Harriet flüchtig und gleichgültig an.

»So? Harriet? Es ist gut, aber bitte, stört mich nicht. Ich will den Trauschein endlich haben.«

»Den hat doch Mr. Henderson, Ihr Gatte!« warf Jane ein.

Gwendoline Henderson stampfte ärgerlich mit dem Fuß aus.

»Henderson ist tot, wie oft soll ich dir das noch sagen? Er liegt im Gebüsch – der alte Mann mit dem grauen Bart hat ihn doch erschossen! Ich stand gar nicht weit davon und sah zu … es ist ganz gut, es ist gut, daß er ihn erschossen hat, jetzt kann er nur nicht mehr lästig sein mit seiner albernen Liebe … und den Schlüssel habe ich doch auch …«

Und ohne sich weiter um die Anwesenden zu kümmern, begann sie wieder in ihren Papieren zu kramen.

Erschüttert schlich Harriet in das Nebenzimmer zurück, wohin ihr Hempel und Jane folgten.

Daß diese Frau wahnsinnig war, darüber konnte auch nicht mehr der leiseste Zweifel bestehen.

»Ich habe es schon nahezu gewiß gewußt, während Sie mir ihre Geschichte erzählen,« sagte Hempel. »Das klang alles so unglaublich phantastisch.«

»Aber Richard –«

»Das beweist gar nichts. Es gibt Formen von Wahnsinn, wo die Kranken anscheinend völlig vernünftig sind, ja noch klüger handeln als wirklich Gesunde. Aber der Mann! Der Mann mit dem grauen Bart – wer ist dies?«

Er versank in tiefes Grübeln.

Inzwischen hatte es draußen geklingelt und Jane war hinausgeeilt. Nun erschien sie wieder mit einem großen, schlanken Manne, dessen scharfer Blick die Anwesenden überflog und dann auf Harriet haften blieb.

»Meine Nichte Harriet Henderson?« wandte er sich an sie.

»Dr. Ralph White, Ihr Onkel,« stellte Jane vor und brach dann gleich in zerknirschte Selbstanklagen aus, bis ihr White das Wort abschnitt.

»Ich weiß, daß Sie es gut gemeint haben, Jane, dennoch luden Sie eine furchtbare Verantwortung durch jene unbesonnene Flucht auf sich und können Gott danken, daß unsere arme Gwendoline nichts Schlimmes anstellte. Die Form von hysterischem Wahnsinn, an welcher sie leider seit mehr als zwanzig Jahren leidet, bringt zuweilen unberechenbare Überraschungen. Sie hätten leicht am eigenen Leib gestraft werden können für den Unglauben, welchen Sie der wissenschaftlichen Diagnose entgegensetzten.«

Harriet sah ihren Oheim mit brennenden Augen an.

»Sage mir eins, Onkel Ralph: Bist du ganz sicher, daß meine arme Mutter schon früher wahnsinnig war? Kann sie nicht erst in jener Nacht?«

»Nein. Ihr Wahnsinn bestand so sicher, daß ich jederzeit einen Eid darauf hätte ablegen können. Die Ereignisse jener Nacht verwirrten sie und riefen ein Stadium ihres Zustandes hervor, das nun auch keinen Zweifel mehr darüber lassen kann. Ihr schaden oder sie ernstlich erschüttern konnten sie nicht, da ihr das Fassungsvermögen dafür fehlt.«

»Demnach ist alles, was sie meinem Vater zur Last legt – nur Einbildung?«

»Selbstverständlich! Man mag über manche Eigenheiten deines Vaters denken wie man will, Gwendoline gegenüber war er immer nur ein edler, warmfühlender Mann, den sie durch ihre Exaltationen und jahrelange Quälereien zum Märtyrer machte. Erst der strenge Befehl des Arztes, der keine weitere Verantwortung übernehmen wollte und konnte, bewog ihn, Gwendoline einer Anstalt zu übergeben. Er litt damals namenlos. Ich glaube, sie war und blieb seine einzige Liebe!«

»Und doch ließ er sich von ihr scheiden, um wieder zu heiraten, doch betrog er sie und vernichtete jede Erinnerung an sie – sogar den Trauschein.«

Dr. White sah seine Nichte erstaunt an.

»Aber dies ist ganz unrichtig! Nur Gwendolines Wahn oder – Bosheit kann diese Gerüchte erfunden haben. Er ließ sich niemals scheiden, dachte gar nicht an eine zweite Heirat und betrog sie niemals! Der Trauschein befindet sich in meinen Händen, seit Oberst Henderson sich entschloß, nach Indien zu gehen, um seinen Kummer zu vergessen. Dort begann er mit Leidenschaft zu sammeln, ein Sport, den sein großes Vermögen ihn erlaubte und der später sein ganzes Denken und Fühlen ausfüllte. Er wollte vergessen. Aus diesem Grunde, um den immer wiederkehrenden Fragen nach seiner Frau zu entgehen, ließ er die Welt bei dem Glauben, sie sei längst gestorben. Nach fünf Jahren kehrte er nach England zurück auf den Wunsch seines Oheims Lord Hinton, dessen Erbe er gewesen wäre. Er sollte fortan auf Rockyland bei Lord Hinton leben. Indessen zerwarf sich dieser schon am zweiten Tage mit dem Vater und seitdem lebten die beiden in bitterer Feindschaft.«

»Ist Ihnen etwas über den Grund dieses Zerwürfnisses bekannt, Dr. White?« warf Hempel, der aufmerksam zugehört hatte, ein.

»Nein – man sprach allerlei, aber ich habe mich um die Privatverhältnisse meines Schwagers nie bekümmert,« antwortete Ralph White zurückhaltend. »Für mich war er ein Mann, den ich nur von der besten Seite kennen lernte und dem ich viel Dank schuldete. Ich weiß nur, daß er Harriet in ein Schweizer Pensionat brachte und nicht wünschte, sie möge von dem traurigen Zustand ihrer Mutter Kenntnis bekommen. Dann ging er für lange Jahre auf Reisen, nachdem er seinen Abschied genommen hatte. Als ich ihn wiedersah, war er ein schweigsamer, verschlossener Mann, dessen Auge sich nur belebte, wenn er von seinen Sammlungen sprach. Er hatte vergessen und wollte durch nichts mehr an die traurige Vergangenheit erinnert werden. Eine Vergangenheit, deren Tragik, ich wiederhole das, nur durch die Krankheit meiner Schwester verursacht wurde. Daran konnte niemand zweifeln als diese arme törichte Jane, welche ihre Treue zu einem blinden Opfer ihrer Leichtgläubigkeit machte.«

»Armer Vater!« murmelte Harriet erschüttert. »Wie viel habe ich dir nun doch ins Grab hinein abzubitten!«

Jane Webster saß in sich zusammengesunken da und starrte trostlos zu Boden.

Aus dem Nebenzimmer hörte man das unheimlich kichernde Lachen der Irren, die immer noch in ihren alten Papieren kramte.

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