Ricarda Huch
Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri
Ricarda Huch

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Am letzten Tage des Jahres drückte Riboni dem Grafen einen kleinen Papierstreifen in die Hand, worauf stand: »Alles ist vergebens. Du mußt sterben; ich folge dir bald nach;« darunter erkannte er die Initialen der Mathilde Dembowsky. Er schloß daraus, daß der Kaiser Teresa abgewiesen habe, wie Salvotti ihm vorausgesagt hatte, und ferner, daß der Zustand der Dembowsky gefährlich geworden war, so daß sie ihr Ende voraussah. Er beklagte, daß Teresa gerade jetzt die Freundin verlieren sollte; aber sie hatte Gabrio, und sie hatte Gott, der sie trösten würde. Es war schon Nacht, als Federigo durch ein starkes Geräusch von Schritten und Waffen erwachte und zwei Männer gewahr wurde, die sich, das Gewehr neben sich stellend, an seine Tür setzten. Er besann sich, daß dies die Totenwache sein müsse, die nach der Sitte einen zum Tode Verurteilten bis zum Augenblicke der Exekution nicht mehr verlassen durften. Beim Schein der Laterne, die die Soldaten mitgebracht hatten, konnte er die 146 Gesichtszüge einigermaßen erkennen: der eine war noch jung und leidlich hübsch, wenn auch roh aussehend, der andere älter, brutal und stumpfsinnig. Er dachte, was sie antworten würden, wenn er sie anspräche und ihnen erklärte, sein Verbrechen sei kein anderes, als daß er Italien habe befreien wollen, sie möchten sich mit ihren Kameraden vereinigen, um ihn zu retten. Es würde sein, als wenn er in einer fremden Sprache zu ihnen spräche. Während er mit geschlossenen Augen still auf dem Bette lag, sprachen sie halblaut untereinander; er wurde aufmerksam, als er den Namen Menghini hörte. Sie sprachen von seinem Begräbnis, und daß Caldi in bezug auf Salvottis finsteres Gesicht gesagt habe: Er ärgert sich, daß er den Menghini nicht mehr ärgern kann. So hatte der arme Mann das kleine Kind mit dem Schelmenlachen verlassen, das jetzt vielleicht weinte, weil es die väterlichen Liebkosungen vermißte.

Die ungewohnte Gegenwart von Menschen hielt ihn wach; nach einigen Stunden bemerkte er, daß sie eingeschlafen waren. Um zu erfahren, ob die Totenwache auch zu Andryane gekommen wäre, gab er ein leises Zeichen, das erwidert wurde. »So wirst du nicht sterben,« sagte er ihm, »gelobt sei Gott!« Vermutlich, fuhr er fort, werde er nach einigen Jahren der Haft freigelassen werden. Er solle dann den Kampf für Italien aufgeben und sich nie wieder mit geheimen Gesellschaften einlassen. Auch in seinem Vaterlande und offen vor allen Augen könne er nützlich wirken. Das Unglück, das er jetzt erleide, solle er so ertragen, daß es ihm zum Heile werde. Der Sturm könne wohl eines Baumes Früchte abschlagen, aber nicht eine gute Art in schlechte verkehren. Dann sagte er ihm Lebewohl, und daß sie nicht mehr miteinander sprechen könnten, da er unaufhörlich beobachtet werde.

In gewissen Zwischenräumen wurden die Männer von 147 andern abgelöst, die gleicher Art waren; Federigo versuchte ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen, aber sie schüttelten den Kopf oder brummten etwas Undeutliches, augenscheinlich mehr aus Gleichgültigkeit, als um den erhaltenen strengen Befehlen zu gehorchen. Anfangs hielt die Erwartung des Todes, dessen unmittelbare Herolde die Wächter waren, seine Nerven in Spannung; als jedoch mehrere Tage verflossen waren, ließ diese nach. Auch an die Gegenwart der Soldaten gewöhnte er sich allmählich so, daß er in seinen Gedanken und Träumen nicht mehr durch sie gestört wurde. Mit der ersten Woche des Januar hatte der Schneefall aufgehört, der Himmel war entwölkt, und aus heiterster Bläue strahlte das erwärmende Licht, das er so sehr liebte. Traf die Sonne sein Fenster, so begrüßte er sie, als wäre es Teresa, und ergoß das Bekenntnis seiner unendlichen Liebe in ihre goldene Brust. Entfernte sie sich, so erwartete er stürmisch ungeduldig den Augenblick ihrer Wiederkehr und füllte die Zeit mit Worten der Zärtlichkeit und der Sehnsucht aus. So waren fast vierzehn Tage vergangen, als er unter Kleidungsstücken und Wäsche zum ersten Male seit vielen Wochen wieder einen Zettel von Teresas Hand erhielt, auf dem sie ihm in wenig Worten mitteilte, die Todesstrafe sei aufgehoben. Er suchte sich zu überzeugen, daß Teresa nur von mitleidigen Freunden getäuscht sei; aber er konnte nicht verhindern, daß der neu erweckte Zweifel ihn beunruhigte.

Als er in der folgenden Nacht etwa um zwei Uhr Schritte im Gange näherkommen hörte, überlief ihn mit dem Gedanken, daß die Entscheidung nun da sei, ein Schauder, der seinen ganzen Körper lähmte, während seine Seele verhundertfacht zu leben schien. Er sagte den Männern, die eintraten und ihn barsch aufforderten, ihnen zu folgen, daß er krank sei, seit vierzehn Tagen zu Bett liege und allein nicht 148 würde gehen können; worauf sie untereinander flüsterten und einer von ihnen sich wieder entfernte. Gleich darauf drängte sich durch die Tür, die er nicht verschlossen hatte, ein junger Mann, der sich an Federigos Brust warf und unter Tränen ausrief, er sei Andryane und würde mit ihm sterben. Die beiden Aufseher, die ihm nachgeeilt waren, zogen ihn so höflich, wie es unter den Umständen möglich war, aus dem Zimmer fort, so daß er nur mit einem innigen Blick Abschied nehmen konnte. Federigo hatte sofort gesehen, daß Andryane eine gewisse Ähnlichkeit mit jenem Engeljüngling auf dem Bilde des lombardischen Meisters wenigstens insofern hatte, als sein weiches blondes Haar gelockt und in seinen blauen Augen schwärmerisches Feuer war; auch hatte die lange Haft sein blühendes Gesicht blaß und mager gemacht. Seine Gestalt jedoch war, wenn auch noch jugendlich schlank, männlich breit und kräftig angelegt. Mehr noch als die Schönheit nahm der offene, freundliche Ausdruck seiner Mienen für ihn ein. Federigos Mitgefühl für den armen Fremdling war so lebhaft, daß es ihn unwillkürlich drängte, sich zu eilen, um ihn gegen die bevorstehende Gefahr zu beschützen. Inzwischen war der eine der Polizisten mit einem Arzte zurückgekommen, der bei dem Transport zugegen sein sollte für den Fall, daß Federigo etwas zustieße. Als er angekleidet war, führten ihn die Männer an einen Wagen, der im Hofe des Gefängnisses wartete; obwohl er sich fest in einen Mantel eingewickelt hatte, schlugen ihm vor Frost die Zähne aufeinander. Er bemerkte, als er am Ziele der Fahrt ausstieg, daß er sich im Justizpalaste befand, und daß er nach der Kapelle geführt wurde, wo der Sitte gemäß die zum Tode Verurteilten sich die drei Tage, die bis zur Hinrichtung verliefen, aufhalten mußten. Indem ihn ein Gefühl von Mut und Kraft durchdrang, richtete er sich auf und versuchte allein 149 vorwärtszugehen; aber sowie er die Kapelle betrat, erfaßte er mit einem Blick ein anderes Bild, als er erwartet hatte, und blieb, von streitenden Empfindungen überwältigt, regungslos stehen. Im Hintergrunde des hohen Raumes brannte in einem Kamin ein Feuer, das die Kälte milderte, und von den Wänden her loderten Fackeln in die Dunkelheit. Nahe beim Kamin standen mehrere Männer im halblauten Gespräch, unter denen er Pallavicino, dessen Freund Gaetano Castiglia, Borsieri und Andryane sofort erkannte, die ihrerseits bei seinem Eintritt stutzten und starr nach ihm hinblickten. Er wollte in ihre Arme eilen und sagen: Da bin ich, ich verlasse euch nicht, seid ohne Furcht; zugleich empfand er seine Ohnmacht und das Eitle seines Willens. Kaum hatte er gewaltsam einige Schritte vorwärts getan, so verlor er das Bewußtsein und sank in Andryanes Armen zusammen, der ihm entgegengeeilt war. Man legte ihn auf eine Matratze, die nahe beim Kamin für ihn aufgestellt war, und der Arzt bemühte sich, nachdem die krampfhaften Zuckungen aufgehört hatten, ihn zu wecken, was aber erst nach Verlauf einer halben Stunde gelang. Wie er zu sich kam, sah er sich von den weinenden Freunden umdrängt, von denen besonders Pallavicino und Borsieri, deren Aussagen verhängnisvoll für ihn geworden waren, unter bitteren Selbstanklagen seine Verzeihung erflehten. Er schüttelte den Kopf, zog sie an sich und küßte sie; als er zu sprechen vermochte, sagte er, daß er wisse, ihr Herz sei treu, und sie hätten ihm nicht mit Absicht geschadet; daß einzig ihre Unerfahrenheit und ihre Unbekanntschaft mit den Ränken dieses Gerichtshofes ihnen zum Fallstrick geworden sei. Wenn er sterben müsse, sollten sie nicht um ihn sorgen, er sei darauf vorbereitet; schmerzen tue ihn nur, daß er der Befleckung seines Namens durch seine Feinde nicht wehren könne; wenn sie jemals frei und in der Lage sein sollten, möchten sie für 150 sein Andenken eintreten. Während die andern es versprachen, umschlang ihn Andryane zärtlich und sagte: »Kann ich dies auch nicht für dich tun, so bin ich doch glücklich, mit dir zu sterben.« Bevor noch Confalonieri etwas erwidern konnte, verlor er zum zweiten Male das Bewußtsein, das er erst nach einer Stunde wiedererlangte, als der Tag zu grauen begann. Er horchte erstaunt auf ein dumpfes Brausen, das draußen das Gebäude umwogte, und erfuhr von Andryane, der bei ihm auf der Matratze saß, es komme von der Volksmenge, die der Ausstellung der Verurteilten beiwohnen wolle; es sollte nämlich in ihrer Gegenwart vor dem Justizpalast das Urteil öffentlich verlesen werden, damit sie in ihrer Erniedrigung dem Volke zur Abschreckung dienten. Mit dem Gedanken, daß dies den zum Tode Verurteilten vermutlich erspart sein würde, schlief Federigo ein und erwachte erst, als einige Beamten eintraten, um die Gefangenen vor den versammelten Gerichtshof zu führen. Sie hatten nur wenige Schritte bis zu dem Saale zu gehen, wo die Richter im Halbkreis um einen Tisch zu beiden Seiten des Präsidenten saßen, der sie mit verdrossener Miene musterte und sie aufforderte, das Urteil in Ehrfurcht zu vernehmen, das er nach kurzer Pause zu verlesen sich anschickte. Er las zuerst, daß alle, als des Hochverrates angeklagt und geständig, zum Tode verurteilt seien, worauf er anhielt, um sie der Tatsache recht innewerden zu lassen; dann fuhr er fort, daß die unerschöpfliche Milde des Kaisers sie habe begnadigen wollen, Confalonieri und Andryane zu lebenslänglichem schweren Kerker, die anderen zu abgemessener Kerkerstrafe, die sie alle auf dem Spielberg abzubüßen hätten.

Mit unverhohlener Teilnahme betrachteten die Richter Andryane, der höflich grüßend eingetreten war und in seiner Haltung achtungsvolle Bescheidenheit mit anständigem 151 Selbstbewußtsein zu vereinigen wußte. Alle waren der Meinung, daß ihn eine viel zu harte Strafe treffe, während Confalonieri unbilligerweise der Gerechtigkeit entzogen sei. Dieser hatte beim Eintreten nichts empfunden als den Wunsch, sich aufrechthalten zu können, solange der Akt dauerte; bei der Stelle des Urteils aber, wo es hieß, daß sie alle des Hochverrats geständig wären, vergaß er diese Sorge über der Entrüstung, daß man, wenigstens ihn betreffend, die Wahrheit entstellt hatte. Sein Blick, der hochmütig auf den Richtern ruhte, nannte sie lügnerische und feige Kreaturen; er bemerkte nicht, daß, als seine Begnadigung verlesen wurde, alle Mitgefangenen ihn ansahen, einige mit Tränen in den Augen, und daß Andryane, der neben ihm stand, seinen Arm an sich preßte. Erst als sie nach einer eindringlichen Empfehlung, sie möchten künftig versuchen, durch reuevolles Betragen die Milde des Kaisers zu verdienen, entlassen waren und Federigo wieder auf die Matratze gelegt war, kam ihm zum Bewußtsein, daß ihm das Leben geschenkt war, und er dachte an Teresa. Das Feuer im Kamine war erloschen, und zwischen den hohen Mauern der Kapelle wurde die Kälte schärfer, allein die jungen Leute bemerkten es nicht; nach der vorausgegangenen Spannung hatten sie Lust, miteinander zu plaudern und zu lachen. Sie sprachen halblaut, um Federigo, von dem sie glaubten, er sei eingeschlafen, nicht zu stören. »Die Milde des Kaisers«, sagte Pallavicino, »kommt mir vor wie der Teufel; jeder spricht davon, und keiner hat ihn gesehen.« »Vielleicht«, meinte Andryane, »lernen wir ihn auf dem Spielberg als liebenswürdigen Wirt kennen. Ich denke, er führt gute Weine, da es an geräumigen Kellern nicht fehlen wird.« »Gefehlt! Gefehlt!« rief Pallavicino, »der Spielberg ist eine Heilanstalt, wo alle mit Entfettungskuren behandelt werden. Manchen bekommen sie freilich nicht, einige 152 sollen sogar daran gestorben sein.« »Ist das wahr?« fragte der sanfte Castiglia, die Augen aufreißend; »ich hatte gerade den Beschluß gefaßt, den Idealismus abzuschwören, der uns ins Unglück gebracht hat, und mich der Völlerei zu ergeben.« Darüber gerieten alle ins Lachen. Andryane sagte: »Beruhigen Sie sich; in solch einem alten Schlosse müssen doch alte Weine lagern. Wer weiß, was für Schätze wir dort entdecken.« »Freilich,« sagte Borsieri, »die Ratten und Molche werden dort beständig betrunken sein. Um so leichteres Spiel werden wir mit ihnen haben, wenn sie uns anbeißen wollen.«

Confalonieri hörte das Gelächter und Geschwätz mit Rührung, und eine warme Zärtlichkeit erfüllte sein Herz für die jungen Menschen, die auf einem schmalen, über den Abgrund des Todes hingespannten Sonnenstrahl wie Kinder scherzten. Zugleich empfand er selbst den Vorwurf, solche knabenhafte Jugend mit folgenschweren politischen Angelegenheiten betraut zu haben, und es schien ihm billig und eigentlich wünschbar, in einem längeren, von den lauten Zerstreuungen der Gesellschaft abgeschlossenen Zusammenleben Ideen mit ihnen austauschen und auf sie einwirken zu können. Der Aufenthalt in der einsamen mährischen Festung stellte sich ihm nicht unfreundlich dar: auch dort war Sonne, Himmel und Ferne, ein später Frühling würde anmutig schlank den Felsen umkränzen, und unter dem unermeßlich ausgebreiteten Schnee würde das verhüllte Leben desto glühender fortkeimen. Indem er daran dachte, kam ihm zum Bewußtsein, daß alles dies ihm wieder angehörte, die Sonne, der Himmel, die Hoffnung, und daß es ihm alles ein Geschenk Teresas war. Sein Herz und seine Augen füllten sich mit Tränen; er empfand es als eine niegekannte Süßigkeit, selbst den Atem, der ihn belebte, und den Gedanken, den er dachte, von ihr als eine Göttergabe zu empfangen und ihr zu danken. Er 153 fühlte sich still und sicher in ihren Händen geborgen und wünschte nichts weiter; an Wiedersehen und Trennung dachte er nicht.

Diese friedlichen Minuten wurden durch Gerichtsbeamte unterbrochen, die den Verurteilten Ketten anlegten, um sie zu der öffentlichen Verlesung des Urteils vorzubereiten; sie taten es in höflicher Weise, ohne sich durch die kecken und ausgelassenen Bemerkungen Pallavicinos und Borsieris beirren zu lassen. Hinter den Sitzen der auf dem Gerüst Ausgestellten waren eiserne Ringe in der Mauer befestigt, mit welchen die Ketten verbunden wurden, damit Fluchtversuche unmöglich wären. Außerdem waren noch andere Sicherheitsmaßregeln veranstaltet, indem der Platz selbst und die angrenzenden Straßen durch ein großes Aufgebot berittener Soldaten besetzt waren. »Man überschätzt uns oder die Mailänder,« sagte Federigo lächelnd zu Andryane, als er, auf der Höhe des Prangers, die Menge der verteilten Truppen überblickte. Sie hatten den Blick in die enge Straße, die zum Platze des schönen Brunnens führt, dessen Marmorbecken von nixenartigen Gestalten getragen wird. Im Geiste ging er daran vorüber, am Dome vorüber, weiter der Kirche San Fedele und der Scala zu und stand dann nach einigen Schritten vor seinem Hause. Jene Straßen würden leer sein, und niemand würde den geisterhaften Schatten an den hohen Häusern entlang gleiten sehen; denn alles drängte sich auf diesem Platze zusammen, um dem Schauspiel seiner Schande beizuwohnen. Stundenlang hatten sie sich in der Kälte gedrängt und gestoßen, damit es ihnen nicht entginge; er wünschte zu wissen, was sie dachten und fühlten, ob sie Schadenfreude oder Mitleid oder bloße Neugier bewegte. Einige Frauen sah er mit Wohlwollen und Bedauern auf Andryane blicken; andere lachten und machten Witze, und 154 im ganzen schienen alle von der Unterhaltung sehr befriedigt zu sein. Es kam ihm sonderbar vor, daß dies das Volk war, das er bei seinen Zukunftsplänen im Auge gehabt, mit dem er gerechnet, auf das er gebaut hatte, und von dem er jetzt fühlte, daß es ihn so wenig anging wie das Volk von Rom oder von Wien und London, von dem zu ihm kein Verständnis, kein Band ging. Inzwischen hatte schon ein Beamter, auf einem Balkon neben dem Gerüst stehend, das Urteil zu verlesen begonnen und schrie, augenscheinlich von der Wichtigkeit seiner Aufgabe durchdrungen, so laut er konnte, um möglichst weithin vernommen zu werden. »Niemand klatscht,« sagte Borsieri zu seinem Nachbar, als er geendet hatte, »und der Mann hätte in der Tat ein Bravo verdient. Er hat wie ein Löwe gebrüllt; es muß eine Kabale oder Parteihaß im Spiele sein, daß das Publikum die Stelle nicht da capo verlangt.«

Als sie wieder im Saale versammelt waren, erzählte Federigo seinem jungen Begleiter, er habe gehört, wie die Leute sein blondes Gelock bewundert hätten, und fügte freundlich hinzu, indem er mit der Hand darüberstrich, es sei wirklich schön genug, um einen Mädchenkopf zu zieren. Andryane errötete und fragte, ob ihnen auf dem Spielberg die Haare abgeschnitten werden würden; in Frankreich würden die Sträflinge, soviel ihm bekannt sei, glatt rasiert. »Ich weiß es nicht,« erwiderte Confalonieri; »es wäre jedenfalls schade um deine Locken.« »Lieber den Kopf!« rief Andryane mit Entschiedenheit und gab damit den jungen Leuten Anlaß, ihm neckend auszumalen, wie er geschoren sich ausnehmen würde. Schließlich sagte Federigo, im Ernste wäre nicht daran zu denken; sie wären keine gemeinen Verbrecher, sondern Staatsgefangene, um deren Tun und Lassen innerhalb ihrer Abgeschlossenheit sich niemand bekümmern würde. Das 155 beruhigte Andryane, der mit liebenswürdiger Verlegenheit erklärte, seine verstorbene Mutter habe seine Locken so lieb gehabt, daß sie ihm selbst dadurch teuer und beinah etwas Heiliges geworden seien.

Einige Tage vor der Abreise der Verurteilten nach dem Spielberg wurde dem Grafen mitgeteilt, daß er den Besuch seines Vaters und seiner Frau erwarten dürfe. Seine Sehnsucht nach dem Augenblick des Wiedersehens verwandelte sich, nun er herannahte, in Angst, die sich fortwährend steigerte, bis es ihm war, als würde ein Herzschlag ihn töten, wenn nicht ein Zufall das Unerträgliche abwendete. Als zwei Wächter kamen, um ihn zu dem Zimmer zu führen, wo die Begegnung stattfinden sollte, glaubte er, seine Glieder nicht bewegen zu können. Beim Eintreten fiel sein Blick sofort auf Teresa, deren große Augen angstvoll auf die Tür gerichtet waren; sie war in Schwarz gekleidet und sehr bleich, und über ihr zu ihm hingewendetes Gesicht flossen Tränen. Sowie sie seiner ansichtig wurde, lächelte sie und schrie auf: »Mein Federigo!« und lag in seinen Armen. Sie ließen sich gleichzeitig los in dem Gedanken, daß sein Vater sich nicht zurückgesetzt fühlen sollte; diesen aber, der seinen Sohn seit mehr als einem Jahre nicht gesehen hatte, erschreckte sein krankes Aussehen, und sein Groll schwand vollends, als Federigo, ihn umarmend, seiner Reue Ausdruck gab, ihm so viel Kummer bereitet zu haben, und um seine Verzeihung bat. Er ermahnte den Sohn, in Zukunft sich so zu betragen, daß der Monarch sich von seiner Besserung überzeugen könne, wovon allein jede Hoffnung abhänge, und Federigo versprach zu tun, was in seiner Macht stehe, und was die Ehre ihm gestatte, um den Kummer zu mildern oder aufzuheben, den seine Angehörigen durch ihn erlitten, und der ihn schwerer belaste als seine eigenen Leiden. Wie er dabei nach Teresa 156 hinsah und diese den Kopf schüttelte und lächelte, wollte ein Gefühl glückseligen Friedens über ihn kommen; da jedoch näherte sich der Beamte, der der Begegnung hatte beiwohnen müssen, und erinnerte daran, daß die Zeit abgelaufen sei. Es schwindelte Federigo, und er fühlte sich schwach werden; aber er hielt sich desto gefaßter, umarmte seinen Vater und Teresa und sagte zu ihr, indem er sie fest ansah: »Wir werden wieder vereinigt werden, hier oder bei Gott.«

Auf seinem Zimmer wurde er bewußtlos und hatte im Laufe dieses Tages noch mehrere Anfälle, wodurch er so schwach wurde, daß es zweifelhaft schien, ob er die Reise werde antreten können. Ein Arzt, der gerufen wurde und Fieber feststellte, erklärte eine Reise unter diesen Umständen für lebensgefährlich; ein anderer dagegen sagte, daß nichts im Wege stehe, da die Erscheinungen nervöser Natur seien; nach diesem Urteil richteten sich die Behörden, denen es darauf ankam, gerade ihn, der der Gegenstand der lebhaftesten Aufmerksamkeit war, so schnell wie möglich aus Mailand zu entfernen. Bevor der Morgen dämmerte, setzte sich der Zug der vielen Wagen, in welchen die Gefangenen mit ihren Wächtern verteilt waren, in Bewegung. Federigo saß ermattet mit geschlossenen Augen in eine Ecke des Wagens gedrückt; ein unerklärliches Gefühl jedoch, als ginge Teresa neben dem Wagen her, zwang ihn, sich aufzurichten und einen Blick aus dem Fenster zu werfen: die Straße lag leer und still in dem lautlos niederrieselnden Regen, die hohen Paläste standen zu beiden Seiten wie alte Diener, die in stummer Treue dem gestürzten Gebieter die letzte Ehre erweisen. Beim Anblick der Gendarmen, die am Zuge entlang ritten, verschwand die Einbildung vollends; sowie er sich aber zurücklehnte, kam das Gefühl von der dunklen Gestalt wieder, die mit leisen Schritten unverscheuchbar neben dem Wagen hinglitte, und ließ ihm 157 keine Ruhe. Erst als jenseit der Stadt der trübe Tag aufging, blieb das unsichtbare Geleit zurück.

 


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