Ricarda Huch
Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri
Ricarda Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Beginne des Winters wurde Solera begnadigt und gleichzeitig Andryane wieder mit Confalonieri vereinigt. Dieser hatte sich so sehr an die Einsamkeit gewöhnt, daß er im ersten Augenblick mehr Bedauern als Freude darüber empfand; aber die maßlose Erregung Alexanders, der sich an der Brust des Freundes dem Leben wiedergegeben glaubte und ein ähnliches Gefühl bei ihm voraussetzte, verscheuchte die selbstsüchtige Regung sofort. Andryane hatte eine qualvolle Zeit durchlebt: Trotz des Widerwillens, den Solera ihm einflößte, versuchte er bei seiner geselligen Anlage immer wieder, sich mit ihm zu unterhalten und ihm eine gute Seite abzugewinnen, woraus aber, da gegenseitiges Mißtrauen und Verschiedenheit der Temperamente im Wege standen, nur 259 Mißhelligkeiten sich ergaben. Hatten sich beide zu Ungerechtigkeiten und verletzenden Worten hinreißen lassen, so pflegte Solera schließlich zu weinen und um Verzeihung zu bitten, was in Andryane Mitleid erregte, ohne den Widerwillen zu vermindern. Er sah gealtert aus und war reizbar und zum Widerspruch geneigt geworden, wenn auch seine leidenschaftliche Anhänglichkeit an Confalonieri eher zugenommen hatte. Die krampfhaft betriebene religiöse Betätigung Soleras, der ein besonderer Günstling des Paulovich gewesen war, hatte ihm das Katholische durchaus verleidet, so daß er auf den Gedanken gekommen war, Protestant zu werden. Er behauptete, die Verlogenheit und entsittlichende Wirkung des Katholizismus an Paulovich und Solera nun gründlich kennengelernt und eingesehen und an sich selbst erfahren zu haben, daß die Verdummung und Abstumpfung des Menschen sein berechneter Zweck sei. Federigo erwiderte, daß er an anderen anderes beobachten könne, daß er jedem abraten würde, das Bekenntnis, in dem er geboren sei, aufzugeben, daß er es aber für eine überflüssige und mutwillige Herausforderung halten würde, wenn Alexander es jetzt täte, wo er in der Gewalt des Kaisers sei. Hierauf entgegnete Andryane, daß er eben gerade darum verpflichtet sei, seine Überzeugung zu bekennen, weil ihm Gefahr daraus erwachse, wie er sich doch vorher nicht gescheut habe, die Taufe zu empfangen, obwohl es ihm Vorteil zu bringen versprach. Er war enttäuscht und unzufrieden, daß Federigo seinen Plan nicht billigte; dieser hingegen dachte, daß Schiller gesagt haben würde, unser Pfau muß wieder einmal ein Rad schlagen, und begnügte sich damit, einstweilen seinen Schwung aufzuhalten, indem er ihn mit der Entstehungsgeschichte des Protestantismus bekannt machte und ihm die protestantischen Dogmen sowie die Bedeutung der katholischen Symbole erklärte. Auch mit 260 Pellico, der lebhaften Anteil daran nahm, beredete Andryane schriftlich und mündlich diesen Gegenstand.

Es war nun schon monatelang auf den Befehl des Kaisers Leinwand gezupft worden, als seine Erwiderung auf die Bitte der Gefangenen, ihnen eine ihren Absichten besser entsprechende Arbeit zu gewähren, eintraf: nämlich, da sie mit dem Leinwandzupfen nicht zufrieden wären, sollten sie inskünftige Strümpfe stricken, wobei es nun aber zu verbleiben hätte. Es wäre dies zugleich eine nützliche, nicht anstrengende und die Nerven beruhigende Arbeit. Die Zahl der Strümpfe, die jeder in jeder Woche vollenden sollte, war vom Kaiser festgesetzt, ebenso Strafen für denjenigen, der weniger oder gar keine ablieferte.

Dieser Befehl des Kaisers wurde von allen nicht nur als Enttäuschung, sondern als unerträglicher Hohn empfunden. Auch Silvio Pellico, der sich mit Ergebenheit jedem Leiden zu unterziehen pflegte, konnte die Empörung und den inneren Widerstand nicht überwinden. Da, wie es sich von selbst versteht, keiner von ihnen stricken konnte, war vom Vorsteher der Ausweg getroffen, daß zunächst Kral es lernen mußte, um dann seinerseits die Gefangenen darin zu unterweisen. Obwohl er dies mit unermüdlicher Willigkeit tat und selbst bekümmert und erstaunt war, daß seine Herren zu einer solchen Arbeit gezwungen wurden, so konnte doch Pellico, der besonders ungelehrig und ungeschickt war, sich nicht mit derselben Geduld fassen, sondern wurde heftig und unfreundlich gegen Kral, dessen bloße Nähe ihm unerträglich wurde. Er klagte gegen Confalonieri, daß er unfähig sei, die Demut zu empfinden, die das Christentum vorschreibe, daß, wenn er glaube, seinen Feinden verziehen zu haben, bei jeder neuen Beleidigung eine Erbitterung in ihm sich rege, die das Gegenteil beweise. Wäre sein Haß früher eine Natter 261 gewesen, so sei er jetzt eine Riesenschlange, ein Scheusal, dessen Übermacht er mit Entsetzen seinen Willen beherrschen fühle. Das Gift des zurückgedrängten Hasses habe seine Seele krank gemacht, so daß er oft sogar diejenigen anspeien möchte, die ihm wohlwollten und wohltäten.

Confalonieri sagte, er solle nicht versuchen, seine Feinde zu lieben, sondern ihren Standpunkt zu verstehen oder die verhältnismäßige Unwichtigkeit solcher Verhältnisse und Leidenschaften einzusehen. Was das Strümpfestricken anbelange, so dürfe es einem vernünftigen Menschen nicht allzu schwer fallen, sich in Notwendiges zu fügen. Außerdem sei keine Arbeit an sich entwürdigend und sei es besonders nicht deswegen, weil es eine Arbeit der Frauen sei; sie könnten vielmehr von den Frauen lernen, das Niedrige mit Größe und Anstand zu verrichten. Kral habe ihm erzählt, daß alte Schäfer die Gewohnheit hätten, während sie ihrer Herde folgten, Strümpfe zu stricken, und diese Tatsache könne einem die untergeordnete Arbeit ehrwürdig machen. Durch solches Zureden gelang es ihm endlich, Pellico das Gleichgewicht des Gemütes wiederzugeben.

Andryane war weniger seinetwegen unglücklich, als daß er Confalonieri Mägdearbeit tun sehen mußte. Zuweilen, wenn er zusah, wie die schönen, starken und schlanken Hände des Grafen mit der Wolle hantierten, die sehr derb und mit einem üblen Geruch behaftet war, brach er in Tränen aus; denn dies sei trauriger, als ein edles Kriegspferd auf der Straße vor einen Karren gespannt zu sehen. Pallavicino weigerte sich bestimmt, zu stricken; wenn Kral es ihm zeigen wollte, zerriß er die Fäden, verdarb, was schon fertig war, mutwillig und gebärdete sich in jeder Weise so, daß jener davon abstehen mußte. Auf die Bitte des Vorstehers, der, um Pallavicino zu zähmen, ihn auf eine Zeitlang von seinen Gefährten getrennt 262 und in ein schlechteres Zimmer einquartiert hatte, der aber ungern zu schärferen Mitteln greifen wollte, schrieb Federigo dem Widerspenstigen, er möge sich fügen, sowohl um seiner selbst wie um des Hauptmanns willen, der sich ihnen immer wohlgesinnt erwiesen habe. Wie weit er es treiben wolle? Ob er nicht wisse, daß der Vorsteher ihn könne peitschen lassen? Zum Sklaven mache man sich, wenn man gezwungen gehorche; sich zum Notwendigen entschließen, sei nicht schimpflich.

Die Antwort Pallavicinos enthielt bittere Vorwürfe, daß Federigo die neue und unerhörteste Quälerei veranlaßt habe, indem er den Kaiser um die Erlaubnis, zu arbeiten, gebeten habe. Anstatt sie zu ermahnen, sich zu fügen, hätte er zuerst das Beispiel des Widerstandes geben sollen, dies würde vielleicht gefruchtet haben. Nicht jedem sei es gegeben, seine Wandlungen mitzumachen, nicht jeder habe den kläglichen Mut, seine Vergangenheit zu verleugnen. »Einst,« so hieß es am Schlusse, »als du uns Jünglinge auffordertest, mit Gefahr unseres Lebens das Vaterland zu befreien, beteten wir dich an. Du warest unser Gott auf Erden, auf einen Wink von dir hätten wir Gut und Blut geopfert. Jetzt, da du mich ermahnst, einem Tyrannen zu gehorchen, der mich entwürdigen will, entziehe ich mich deiner Herrschaft. Ich entthrone dich, Idol meiner Jugend, ich breche dich in Scherben und verbiete meinen Augen, über dem vergötterten Staube Tränen zu vergießen. Wie teuer du mir warest, ich zerreiße das Band der Freundschaft, der treuesten Ergebenheit. Daß ich durch dich Freiheit und Zukunft verlor, habe ich dir niemals vorgeworfen, daß du mich der Liebe zu dir beraubtest, das kann ich dir nicht verzeihen. Wärest du unerschrocken in den Tod gegangen, den du herausgefordert hattest, ich hätte dich unter die Sterne versetzt; frohlockend hätte ich mich im Kerker begraben lassen in der Hoffnung, einst zu dir emporgehoben 263 zu werden. Aber du entwandest dich deinem Schicksal: du nahmst das Leben als ein Gnadengeschenk aus der Hand des Tyrannen, den du hattest stürzen wollen, und der edlen Frau, deren Liebe du mit Undank vergolten hattest, und verbirgst dein erschlichenes Dasein in den Lumpen schweigender Unterwürfigkeit. Nenne Giorgio Pallavicino nicht mehr deinen Freund, er war der Jünger eines Federigo Confalonieri, der nicht mehr ist.«

Sonst pflegte Confalonieri die Briefe, die er erhielt, zwei- oder dreimal zu lesen, bevor er sie zerriß; allein diesmal konnte er sich nicht dazu entschließen. Das ganze Schreiben stand mit jedem Satz und mit jedem Wort so vor ihm, als wäre es ein einziges und wäre mit Feuer mitten in seinen Kopf eingebrannt. Während er das Papier in Stückchen riß und aus dem Fenster warf, erfüllte sein Herz unnennbare Traurigkeit: er mußte an den Schmerz denken, den der unglückliche junge Mensch litt, den er durch und durch begriff, und in dem er ihn nicht trösten konnte. Sie mußten es beide einsam in ihrem Kerker durchkämpfen. Es schien ihm natürlich, daß es so gekommen war. Was konnte er denen noch sein, die einst sein Ansehen, sein Glück und sein Wahn geblendet hatte? Er fühlte deutlich, was er ihnen hätte bleiben können, wenn er gestorben wäre, stolze Worte auf den Lippen, das Gedächtnis eines Helden und Märtyrers zurücklassend, und er verglich sich und sein Los mit dem reinen Glanze, der sein Bild umstrahlt hätte. Er war wie einer, der dem Feinde sein Schwert übergeben hatte, bevor er als ein Schatten in die Unterwelt hinabstieg; es war gut, wenn ihm niemand nachblickte, wenn niemand seine geknechteten Hände Wolle stricken sähe. Sein Herz bäumte sich gegen das Gefühl unsäglicher Bitterkeit, das ihn ersticken wollte: dies konnte, es konnte das Ende nicht sein. Einst würde sein Weg wieder aufwärts führen, und da, wo 264 er ans Licht träte, würde sein Schwert liegen, blinkend und schneidend, wie es einst gewesen war, und würde freudig in seiner Hand zucken, der die Kraft und Ehre der vergangenen Tage wiederkehren würde.

Indem dieser Gedanke wie ein Gesicht in ihm aufleuchtete, verlor er das Bewußtsein, nachdem er seit beinah zwei Jahren keinen Anfall mehr gehabt hatte. Unter Andryanes Pflege, den sein Aufschrei herbeigerufen hatte, erholte er sich bald, wenn auch sein Gesundheitszustand, wie jedes Jahr, bis zum Frühling ungünstig blieb.

Als der Schnee geschmolzen war, fielen den Gefangenen mehrere Maurer auf, die einige Meter von der Burg entfernt einen Vorrat von Backsteinen aufrichteten, Erde ausgruben und sich anschickten, irgendein Bauwerk aufzuführen. Den an ihn gerichteten Fragen wich Kral anfangs aus; endlich jedoch erklärte er, daß auf Befehl des Kaisers im Norden der Burg eine Mauer errichtet würde an Stelle einer alten, die sich auch früher dort befunden habe, die aber durch die Franzosen im Kriege zerstört worden sei. Da dies bezweifelt wurde, gab er, obwohl augenscheinlich ungern, zu, daß die Maßnahme auf einen Bericht des Paulovich zurückzuführen sei, als könnten die italienischen Staatsgefangenen von ihrem Fenster aus mit im Burggraben befindlichen Personen in Verkehr treten, was durch die Mauer hintertrieben werden sollte.

Die Beraubung des Ausblicks in die Landschaft traf Federigo noch um vieles härter als der Verlust der Bücher. Moretti sagte, dies wäre vom Standpunkte des Kaisers aus eine richtige Berechnung: die Tyrannen der alten Zeit hätten ihre Feinde in Löchern bei Schlangen und Molchen verfaulen lassen, er wolle unter dem Anschein veredelter Sitte einen ähnlichen Erfolg erzielen. Auch dem seelenlosen Barbaren sei wohlbekannt, daß die Natur jedem Menschen göttlich heilsam sei; 265 daß sie selbst dem angeketteten Sklaven, solange er in ihr ruhe, das Gefühl und die Wirkung der Freiheit geben könne. Wenn er seine Blicke ausgeschickt hätte, wie Adler über der Ebene von Austerlitz zu schweben, wären sie triefend von Himmelsluft zurückgekehrt. Er hätte sie nicht überwinden können, solange die Natur ihnen gesellt gewesen sei; nun wären sie verloren. Federigo entgegnete nichts, er konnte sich nicht vorstellen, woher er die Kraft nehmen sollte, dieser Entziehung standzuhalten. Es war ihm, als habe er sich von dem Anblick der Erde genährt, als wären diese Felder, diese Büsche, diese Wege seine einzige Speise gewesen. Besonders schmerzte es ihn, das Holunderhaus verlieren zu sollen, das er seinem Leben mit so viel Innigkeit verschwistert hatte.

Während des Winters hatte er wenig von den Bewohnern gesehen; er nahm an, daß der Mann oder die Frau den Schnee von der Haustür bis zur Gartenpforte fortkehrte; aber das geschah zu einer frühen Stunde, wo er im Zwielicht noch nichts erkennen konnte. Zuweilen kam das Kind in den Garten, anstatt des roten Kittelchens in einen Ziegenpelz gewickelt, so daß es einem drolligen kleinen Bären glich, und wenn die Mutter nachkam, warfen sie einander wohl mit Schneebällen, wobei er ihr ausgelassenes Lachen zu hören glaubte. Um die Mittagszeit hatte der Mann auch einmal einen Schneemann gemacht, dem ein alter Hut aufgesetzt und ein Stock in die Hand gegeben wurde.

Jetzt kam es Federigo so vor, als bewege sich die Frau nicht mit derselben Freiheit und Munterkeit wie sonst, und er brachte durch Kral in Erfahrung, daß sie in Hoffnung war. Obwohl dies im allgemeinen etwas Erwünschtes bedeutet, tat es ihm leid, weil in einem so glücklichen Zustande jeder Wechsel etwas Bedrohliches zu haben scheint, und auch weil er nicht wußte, ob der Zuwachs der Familie nicht etwa vermehrte Sorgen 266 mit sich brächte. Einmal war er Zeuge eines kleinen Auftritts, der ihn in dieser Mutmaßung bestärkte: die Frau nämlich nahm Äpfel ab, wobei ihr das Kind, so gut es konnte, behilflich war, indem es die umherrollenden Früchte auflas und in einen dazu bestimmten Korb legte. Wie es nun einmal einen Apfel für sich nahm und hineinbiß, gab ihm die Mutter einen Schlag auf die Hand, worüber es bitterlich zu weinen anfing, so daß die Mutter selbst sich bemühte, es zu trösten. Federigo dachte, daß die Äpfel zum Verkauf bestimmt wären, daß die Kleine vielleicht gewöhnt gewesen war, nach Belieben zu essen, daß aber jetzt eine größere Sparsamkeit befolgt würde und die Kleine, ohne es zu ahnen, durch das erwartete Geschwister beschränkt und verkürzt würde. Er hatte den Eindruck, als ob der Frau die Arbeit Mühe mache, und als ob sie reizbar und weniger fröhlich als sonst sei, und das alles bekümmerte ihn, obwohl er sich sagte, daß kein greifbarer Grund dazu vorhanden sei. Er konnte den lebhaften Wunsch nicht unterdrücken, hingehen zu können und seine Freundschaft und seine Hilfsbereitschaft anzubieten; aber er war ärmer und ohnmächtiger als ein Bettler, mit diesen einfachen Menschen verglichen.

 


 << zurück weiter >>