Ricarda Huch
Das Leben des Grafen Federigo Confalonieri
Ricarda Huch

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Federigo glaubte zuerst, es wäre ein Druck von ihm genommen dadurch, daß der nicht mehr lebte, dessen Feind er war und dem er sein Leben verdankte; aber es zeigte sich, daß kein fühlbarer Unterschied da war; denn von der Gnade eines österreichischen Monarchen hing er doch ab. Glück hätte es für ihn, auch wenn Teresa lebte, nicht mehr gegeben; wenn die Nachricht vom Tode des Kaisers sich als irrtümlich 311 erweisen sollte, so dachte er, daß es ihm gleichgültig sein würde. Indessen das wiederholte Trauergeläut in der Stadt und die Gebete des Priesters bestätigten die Tatsache, die übrigens keinen Einfluß auf das Leben in der Festung hatte; es ging alles im gewohnten Gange weiter. Mit der Zeit drangen doch einige Gerüchte auf den Spielberg, so, daß der neue Kaiser sich in einem Edikt gegen die Todesstrafe für politische Verbrechen ausgesprochen, und daß er eine weitgehende Amnestie erlassen habe. Die Ankunft neuer Gefangener schien zu bedeuten, daß das frühere System sich dennoch nicht geändert habe, und erschütterte die Aussicht auf baldige Befreiung. Nach der anfänglichen frohen Erregung befiel alle Gefangenen eine bange Niedergeschlagenheit, auch Federigo wurde von Unruhe und Mißstimmung ergriffen. Der April wurde so ungewöhnlich kalt, daß seine rheumatischen Schmerzen wiederkamen, und daß er in seinem Zimmer mußte heizen lassen, nachdem er sich schon an Frühlingsluft gewöhnt hatte. Bald war es ihm zu heiß, so daß er das Feuer ausgehen ließ, worauf es ihm zu kalt wurde, und immer kam ihm die Luft schlecht und erstickend vor. Die bloße Vorstellung, daß er länger als elf Jahre in dieser Luft gelebt habe, konnte ihm Übelkeit erregen. Selbst wenn das Fenster offen gewesen war, blieb immer ein Rest faulen Stoffes zurück, weil niemals Zug entstand und niemals ein Sonnenstrahl hineindrang. Wenn er vom Spaziergange zurückkam und sich der Tür näherte, bewirkte die Angst, in diese Luft einzutreten, eine Beklemmung in seiner Brust. Was er aß, nahm einen ekelhaften Geschmack an, er fürchtete sich vor den Mahlzeiten, und wenn er etwa Hunger hatte, verschwand er beim Anblick der Speisen. Seine Sehnsucht, in der Sonne zu sein, sich in ihren Strahlen zu baden, nahm so zu, daß er sich nicht mehr auf der Terrasse aufhalten konnte, ohne von dem Drange gequält zu werden, er müsse sich hinabstürzen 312 und, sei es auch sterbend, bis zu der besonnten Erde kriechen. In alle seine Gedanken mischten sich Bilder eines blauen, glänzenden, kühlen Meeres, in dem er badete, oder eines riesengroßen Abhanges, wo er zwischen Primeln und Anemonen in der Sonne lag, und hinderten ihn, sich zu irgendeiner geistigen Tätigkeit zu sammeln. Sein Abscheu gegen alles, was ihn umgab, erstreckte sich auch auf seine wenigen Bücher, die ihm, wenn er sie berührte, die Empfindung erregten, als seien sie mit einem Pelz von Schimmel überzogen. Die Angst, daß es ihm unmöglich, durchaus unmöglich werden würde, diesen Aufenthalt länger zu ertragen, der doch vielleicht niemals enden würde, steigerte seine Erregung.

Erst gegen das Ende des Jahres, als die Hoffnungen schon vergessen waren, wurde Confalonieri und seinen Gefährten eröffnet, daß der neue Kaiser willens sei, ihre Kerkerstrafe in Deportation nach Amerika zu verwandeln; sie würden auf einem Schiffe der Regierung dorthin gebracht werden und wären dort frei; falls sie sich in den österreichischen Staaten blicken ließen, behielte die Regierung sich vor, sie auf den Spielberg zurückzuführen. Es wurden ihnen mehrere Tage gelassen, um sich zu bedenken, ob sie darauf eingehen wollten; denn da ihnen nicht gestattet sein sollte, Vermögen mitzunehmen, außer dem, das sie zur Zeit besäßen, welches nichts war, gingen sie nicht geringen Schwierigkeiten entgegen. Der Direktor gestattete ihnen eine Zusammenkunft, um sich miteinander zu beraten; freilich war der Gedanke, auf dem Spielberg zu bleiben, keinem ernstlich in den Sinn gekommen. »Daß der Spielberg die Hölle ist,« sagte Borsieri, »steht fest; also muß es an jedem anderen Orte der Welt besser sein als auf dem Spielberg.« Castiglia klagte, er habe sich in früherer Zeit gerade Amerika wie die Hölle vorgestellt, worauf Federigo lachte und sagte, er stimme für 313 Abwechslung in jedem Falle, eine andere Hölle sei besser als immer dieselbe.

Diekmann freute sich, als er das Ergebnis der Beratung hörte; er habe eigentlich nicht daran gezweifelt, denn den Herren müßte doch die Freiheit in jeder Form erwünscht sein; auch wäre zu hoffen, daß dieser erste Gnadenbeweis der Vorläufer einer vollständigen Amnestie sei, die ihnen ermöglichte, in ihre Heimat zurückzukehren. Sein sonst so gestrenges und unzugängliches Gesicht drückte teilnehmende Freundlichkeit aus, und er ließ es sich angelegen sein, den Abreisenden angenehme Eindrücke zu verschaffen. Er erzählte ihnen, was ihm von Amerika bekannt war, von Auswanderern, die dort ihr Glück gemacht hatten, und von bewährten Mitteln gegen die Seekrankheit. Sowie der Befehl eintraf, wurden sie in geschlossenem Wagen nach Brünn gebracht und in dem dortigen Polizeigefängnis leidlich einquartiert, wo sie sich so lange aufhielten, bis sie mit bürgerlicher Kleidung versehen waren. Die Reise, die über Wien nach Triest ging, wo sie sich einschiffen sollten, war so eingerichtet, daß sie in Betracht ihrer Schwäche nicht übermäßig angestrengt würden, und der Beamte, dessen Aufsicht sie anvertraut waren, stellte sich mehr als liebenswürdiger Begleiter dar. Bis zur Abfahrt des Schiffes, die sich um Monate verzögerte, war ihnen in dem alten Kastell von Gradisca eine Wohnung angewiesen.

Während der Reise hatte Federigo sich eingebildet, wenn er erst ruhig in Gradisca wäre, in der Sonne säße und südliches Land sähe, würde sich ein gewisses Wohlgefühl einstellen; anstatt dessen entwich es ihm ferner und ferner. Während der Mahlzeiten, die er mit den Kameraden einnahm, war er liebenswürdig und heiter; sowie diese beendet waren, hatte er das Bedürfnis, allein zu sein; war er es aber, so kam nichts von dem, was er erwartete. Das Wetter war regnerisch, und 314 wenn es nicht regnete, so daß er in dem zum Kastell gehörigen Garten sitzen konnte, empfand er die Luft als schwül und beklemmend. Der Anblick der steifen Blattgewächse, der Oleander und Granatbäume war ihm nicht wohltuend; die Bilder der Birken und Pappeln und Ulmen, die er vom Spielberg aus zu sehen gewohnt war, drängten sich davor, wie die Bilder lieber, verlassener Freunde dem Fremdling die neuen Menschen verhaßt machen. Schon in Wien hatte er Briefe von seinen Schwägern Gabrio und Camillo erhalten, die mit zartem Gefühl die verstorbene Schwester ersetzen zu wollen schienen, deren Liebe den Zurückkehrenden nicht empfangen konnte. Diese Briefe las er wieder und wieder, jedes Wort einzeln in sein Herz drückend, um allen Duft und Klang herauszusaugen. Er war ungeduldig, sie zu beantworten, und begann mit einem Gefühl, als könne er nie wieder aufhören zu schreiben; aber er war aufs äußerste erschöpft, bevor er nur einen kleinen Teil von dem gesagt hatte, was ihn bedrängte. Auch Bücher waren ihm zugeschickt worden, eine neuentstandene Literatur, in der viele von den Forderungen erfüllt waren, die er und seine Anhänger in ihrer Blütezeit gestellt hatten; er las die Titel und die Namen der Verfasser und ein paar Seiten und legte sie beiseite, weil er kein Interesse für das Dargestellte fassen konnte. Oft saß er lange und starrte auf seine gelben Hände mit einem seltsamen Gefühl, als ob sie fremde Wesen wären, die sich auf seinen Willensantrieb nicht bewegen würden. Trotz dieser unüberwindlichen Müdigkeit war eine Unruhe in ihm, als dürfe er keine Zeit verlieren, als müsse er sich eilen, um irgendein Ziel zu erreichen. Vielleicht, dachte er, würde sich alles ändern, wenn er seinen Schwager Gabrio gesehen hätte, der versprochen hatte, alles aufzubieten und zu opfern, um ihn bald besuchen zu können. Dies Wiedersehen schwebte ihm vor wie der Abschluß von etwas Gewesenem, das 315 ohne dasselbe nicht zu Ende kommen könnte und ihm nachgehen müßte. Er hatte Augenblicke, wo es ihm nicht anders war, als käme Teresa selbst, um ihm jetzt das einst verwehrte Lebewohl zu sagen.

Am Vormittage eines heiteren Frühlingstages kam Gabrio an. Er hatte sich unterwegs in vergangene Zeiten zurückversetzt, wo Federigo der schönste und geistreichste Edelmann in Mailand war, den alle bewunderten, und den er oft beneidete und manchmal haßte. Nun, da er unglücklich und beklagenswert war, fühlte er nur noch Mitleid für ihn und sehnte sich danach, ihm, wie er auch Teresa versprochen hatte, seine Liebe zu beweisen. Nicht ohne lebhafte Erregung betrat er das Zimmer Federigos, zu dem er geführt worden war, in dessen Mitte ein großer magerer Mann stand, den er im ersten Augenblick nicht erkannte. Er ging trotzdem schnell auf ihn zu, da er ja wußte und dann auch sah, daß er es war, und umarmte und küßte ihn, indem er ihn liebevoll beim Namen nannte. Federigo legte den Kopf auf seine Schulter und weinte; er hatte sich nicht von der Stelle bewegt und kein Wort gesprochen. Nachdem das eine Weile gedauert hatte, wurde Gabrio unruhig; auch sein Herz klopfte, und seine Augen hatten sich mit reichlichen Tränen gefüllt; aber dies war etwas anderes: es war, als ob er an ein Gefäß gestoßen hätte, das dadurch gesprungen wäre, und dessen ganzer Inhalt nun zu Boden strömte, bis es leer wäre.

Er wollte ihm zureden, aber die Worte fehlten ihm, und er brachte nur unzusammenhängende Sachen vor. Schließlich sagte er, wie sehr Teresa leiden würde, wenn sie ihn so sähe; er brächte ihm ihre Liebe, die seine Begleiterin und Trösterin sein würde. Teresa habe ihn zum Hüter dieses Hortes gemacht, und soweit ein Mann es vermöchte, der nicht Priester eines Tempels, sondern voll irdischer Geschäfte, Sorgen und Freuden 316 sei, habe er ihn unvermindert bewahrt. »Betrachte mich«, sagte er, »als deinen Bruder, unzertrennlich mit dir vereint durch die Liebe eines Engels. Zähle künftig auf mein Herz, wie du auf ihres zähltest, ich werde zu dir halten, was auch geschehen möge, und was du auch tun mögest. Ich werde nie vergessen, daß sie mir empfahl, dir nicht zu zürnen, weil sie um dich gelitten hätte. Weil er der Liebe bedurfte, sagte sie, schenkte Gott ihm mein Herz. Es war alles Gottes Wille.«

»Ja,« sagte Federigo, »ihr Herz war eine Gabe aus Gottes Hand, und ich zerbrach es. Das kann mir nicht verziehen werden.« Gabrio stellte ihm mit liebevollem Eifer vor, daß er, wenn je ein Mensch, seine Irrtümer gebüßt habe. Jetzt solle er sich nicht mit Reue quälen, die von ihm Gekränkte habe ihm längst verziehen, vielmehr ihm niemals gezürnt, und ihr einziger letzter Wunsch habe seinem Glück gegolten. Könne er auch nie mehr glücklich werden, so könne ihm doch das Bewußtsein Ruhe geben, mit der Verklärten in Gott vereint zu sein. Federigo sah ihn verständnislos an; er war so müde geworden, daß er sich hinlegen mußte und einschlief. Während des Mittagessens, das alle gemeinsam einnahmen, herrschte eine fröhliche Gesprächigkeit, obschon die Anwesenheit des österreichischen Kommissars Zwang auferlegte; indessen waren alle gewandt genug, um mit Laune eine Unterhaltung über unverfängliche Gegenstände zu führen, die keinen interessierten. Anfänglich fühlte sich Gabrio ein wenig unbequem zwischen den blassen Gesichtern, die entweder eingefallen oder in ungesunder Weise aufgedunsen waren; aber er gewöhnte sich daran. Sein Schwager kam ihm schon wieder so vertraut vor, daß er sich wunderte, warum er ihn zuerst nicht erkannt habe. Bei Tische kam die stolze Haltung und die fürstliche Liebenswürdigkeit wieder zur Geltung, die ihn sonst von den meisten Menschen unterschieden hatte; nur war kein Glanz 317 und keine Freiheit mehr darin. Es hätte sich auch ein Geisteskranker so benehmen können, dem die Gewohnheiten der gesunden Zeit noch anhingen.

Wenn die beiden Schwäger allein waren, erzählte Gabrio von Teresa, von ihrer Freundlichkeit gegen alle Menschen, von ihrer Hilfsbereitschaft für alle Leidenden, wie sie niemals andere mit Klagen belästigt habe. Sie, die Gequälte, langsam Hinsterbende, sei der Schutzengel der andern gewesen; nur er habe zuweilen ihre Tränen trocknen dürfen. Seit das Gerücht sich verbreitet habe, die Gefangenen auf dem Spielberg müßten Hunger leiden, habe sie nicht mehr essen mögen. Sie habe sich Mühe gegeben, sich gut zu ernähren, um sich für den Geliebten zu erhalten; aber es habe ihr nicht geschmeckt und sei ihr auch nicht bekommen. Zuweilen unterbrach er sich, weil es ihm grausam schien, Federigos Wunden immer von neuem aufzureißen; der jedoch erklärte sich begierig nach diesen Schmerzen, die einzig ihm das Bewußtsein des Lebens vermittelten.

Gabrio bestand darauf, in Federigos Nähe zu schlafen. Am Abend, als dieser sich schon hingelegt hatte, kam er in sein Zimmer, um noch ein wenig zu plaudern, eine Orange in der Hand. Er setzte sich an den Rand von Federigos Bett, zog mit dem Taschenmesser künstlich und säuberlich die Schale der Frucht ab und teilte sie mit ihm, während sie sprachen. Federigo sah ihm zu, wie er behaglich hantierte, die Kerne entfernte, ohne einen Tropfen Saft zu vergießen, und ihm die Spelte zutraulich aufmunternd hinhielt, und das Bild Teresas stieg vor ihm auf, die vor Jahren ihn auch einmal so gepflegt hatte. Nach seiner Krankheit war ihm geraten worden, des Morgens nüchtern eine Orange zu essen, und sie pflegte sich an sein Bett zu setzen, die Frucht zuzubereiten und ihm zu reichen, geradeso, wie Gabrio es eben machte. Er hatte dieselbe 318 langsame und sorgfältige Art dabei wie sie und denselben freundlichen Kinderblick in den großen, brombeerschwarzen Augen, wie sie hatte. Federigo sah ihn unverwandt an, wie um einen schönen Zauber mit dem Blicke festzuhalten, aber er stand bald auf und verabschiedete sich, weil er den Eindruck hatte, sein Schwager rege sich mehr auf, als ihm für die Nachtruhe gut sei.

Sowie er die Tür hinter sich geschlossen hatte, stürzten die Tränen aus Federigos Augen. Er wußte nicht, was ihm geschehen war: Das verhüllte Feuer in seinem Herzen hatte, durch einen Hauch angeblasen, seine Eingeweide ergriffen und seinen ganzen Körper in Flammen gesetzt. Es war eine Kraft in der Glut, ihr Grab zu sprengen und sie mit ihm zu vereinen: er sah nach der Tür, als müsse sie sich öffnen und die geliebte Frau eintreten, voll kindlicher Würde, mit zaghaften Schritten, den treuherzigen Blick wehmütig fragend auf ihn gerichtet. Der er niemals die Antwort gegeben hatte, auf die sie hoffte, die er niemals besessen hatte, obwohl sie sein war; jetzt mußte sie kommen, um seine Seele zu empfangen, die er in ihre Hände geben wollte. Er hatte das Gefühl, daß nach diesem Augenblick kein anderer mehr kommen könnte; daß er bereits gelöst und in eine andere Form des Daseins übergegangen sei, und sowie er sie berührte, nur in ihr noch unvergänglich ruhen, nach seiner körperlichen Erscheinung aber verschwunden sein würde. Erst nach Mitternacht schlief er ein, und als er am anderen Morgen erwachte, war ihm so zumute, als sei in Wirklichkeit seine Seele ausgeströmt und habe seinen Körper leer zurückgelassen. Er fürchtete sich davor, irgend jemand und am meisten Gabrio sehen zu müssen; er wußte nicht, ob er ihn liebte oder haßte, in seinem Kopfe war es wie in einer Wüste, über die heißer Wind weht und den aufgewühlten feurigen Sand vor sich her treibt. 319

Es war an diesem Tage eine dürre Kälte um ihn her, die Gabrio zurückscheuchte; allmählich verlor sich das, und Federigo zeigte wieder, wie erkenntlich er für die Liebe seines Schwagers war, und wie sehr er ihrer bedurfte. Da er inzwischen ruhiger geworden schien, erzählte Gabrio ihm allerlei von persönlichen und öffentlichen Verhältnissen in Mailand.

Von dem alten Confalonieri, der jetzt etwa achtzig Jahre alt war, deutete er an, daß Teresa viel unter ihm zu leiden gehabt habe. Er sei eben immer der gleiche: denjenigen gegenüber, die mit Nachdruck zu ihm, zu Federigo hielten, spräche er wegwerfend oder bitter tadelnd über ihn; andererseits wurme es ihn aber, wenn jemand ihn angriffe. Er habe sehr unter Federigos Unglück gelitten, wenn er sich auch angestellt habe, als gehe es ihn nichts an, oder als sei er damit einverstanden, wenn ein Übeltäter die verdiente Strafe erlitte. Bis jetzt habe er erklärt, da nach dem Willen der österreichischen Regierung die Deportierten kein Vermögen nach Amerika mitnehmen dürften, werde er seinem Sohne nichts geben; dabei werde er aber gewiß nicht bleiben, es komme nur darauf an, daß Federigo sich recht entgegenkommend und nachgiebig zeige. Federigo war die Geldfrage gleichgültig; er meinte, das würde sich finden; nur darauf rechnete er, daß sein Vater diejenigen seiner Gefährten unterstützte, die arm wären und keine Aussicht auf anderweitige Hilfe hätten.

Nicht ohne Bangigkeit erkundigte sich Gabrio, wie sein Schwager sich jetzt zu den politischen Fragen stellte; er nehme an, die langen, schweren Jahre hätten ihn wohl etwas duldsamer und genügsamer gemacht. Zufrieden mit den bestehenden Verhältnissen sei wohl keiner, der sein Vaterland liebe; aber die Zeiten wären ungünstig, Federigos ganze Verwandtschaft, er besonders, würde scharf überwacht, die Vernunft erfordere große Behutsamkeit. 320

Federigo antwortete, Gabrio könne unbesorgt sein, er habe gelernt zu schweigen. Er denke nicht daran, sich ohne Zweck Quälereien auszusetzen; er bilde sich auch nicht mehr ein, daß man seiner bedürfe, und halte seine Ansichten nicht mehr für die einzig richtigen. Die irdischen Angelegenheiten müßten wohl auch geordnet und durchgekämpft werden; aber ihm stehe das nicht zu. Er sei fremd auf der Erde geworden.

Gabrio drückte ihm gerührt und sichtlich aufatmend die Hand. Ja, sagte er, ihm, nach seinen Erfahrungen, müsse freilich das irdische Getriebe kleinlich vorkommen. Glücklich sei der Weise, der sich ganz davon fernhalten und in Gott leben könne. Alle Verwandten und Freunde würden entzückt sein, von seiner maßvollen und versöhnlichen Gesinnung zu hören. Er selbst, Gabrio, habe eine dornenvolle Stellung; sein Herz sei italienisch, aber in seinem Kreise seien wenige, die ihn verständen. Warten sei die Losung. Glücklicherweise werde einem das durch die klugen Bestrebungen der neuen österreichischen Politik erleichtert.

Es war Federigo so, als ob er dies und ähnliches, was Gabrio sagte, vor längst vergangener Zeit schon gehört hätte, und eine widerwärtige Empfindung war damit verbunden. Obgleich er es richtig fand, schämte er sich, es anzuhören, und vor allen Dingen, es durch Worte von ähnlicher Bedeutung hervorgerufen zu haben. Ein bitterer Geschmack stieg in seiner Seele auf, dessen Ursache er nicht eigentlich hätte bezeichnen können. Er erinnerte sich, daß er einmal, wenn die Sonne aufging, Lust in sich gefühlt hatte, den Tag wie eine Festung zu stürmen, daß er einmal ohne Maß gehofft und Kraft in sich gefühlt hatte, das Unmögliche zu wagen. Die Jugend hatte wie ein Adler auf seiner Schulter gesessen; der war jetzt fortgeflogen. Gabrio sah, daß ihn plötzlich, nachdem er eine Weile bewußtlos ins Blaue gestarrt hatte, ein leises Zittern überlief, und daß er zu weinen anfing. Dies erschütterte ihn 321 jedesmal, und er gab sich dann in liebevoller Weise Mühe, seinen Schwager zu zerstreuen. Es kam oft vor, daß Federigo ohne einen ersichtlichen Grund in Tränen ausbrach, die so hinströmten, als sei sein Herz schon lange allzu voll davon und lasse sie nun endlich fließen.

Nicht immer war ihm in solchen Augenblicken Gabrios Anwesenheit erwünscht; er hatte das Gefühl, als treffe der Balsam seines Trostes niemals den Mittelpunkt der Wunde, von der die Schmerzen ausgingen, sondern nur die Ränder und die empfindliche Umgebung. Er glaubte, das käme daher, daß Gabrio ihn liebhätte, ohne ihn zu kennen. Wenn Gabrio von der Güte Gottes und von dem Troste der Religion sprach, so drückte er damit nicht das aus, was Federigo darunter verstand; er würde niemals begriffen und vielleicht sich vor dem gegraut haben, was Federigo Gott nannte. Es hatte für Federigo etwas Ergreifendes, wenn Gabrio, der ein zärtlicher Vater war, von seinen Kindern erzählte, und wie sie ihren unbekannten, unglücklichen Oheim fast wie einen ihrer Heiligen liebten und verehrten; dennoch hätte er lieber gewollt, er hätte nichts von dem allen hören müssen, was ihm so fern, so unaussprechlich gleichgültig war. Es war ihm im Grunde so gleichgültig, wie wenn er Sand durch ein Sieb laufen sähe. Was hatte er mit dem durch langes Leiden verklärten alten Mann zu tun, für den diese Kinder vermutlich ihn hielten? Er dachte, daß der einzige auf der Welt, der ihn kennte, Andryane wäre, der auf dem Spielberg mit ihm gelebt hatte, und daß er diesem allein sich würde mitteilen können, weil er seines Verständnisses gewiß sei. Er klammerte sich an den Gedanken, daß Andryane irgendwo auf der Welt war, und daß er ihm schreiben und Briefe von ihm erhalten könne. Zuweilen wünschte er, Gabrio möchte wieder abreisen, damit er ungestört an Andryane schreiben könnte. 322

Als Gabrio fort war, vermißte er ihn bitterlich: es war eine frostige Leere um ihn herum. Allmählich bildete sich jedoch ein gewisser, regelmäßiger Gang des gemeinsamen Lebens heraus, der erträglich war. Er hatte ein solches Grauen vor Amerika, daß der Aufenthalt in Gradisca dadurch fast zu etwas Wünschbarem wurde. Schon im Mai wurde die Hitze sehr stark; es regnete niemals und gab auch keine Gewitter. Die kahlen, rötlichen Berge, die blankblättrigen, bestaubten Bäume, die blendenden Häuser und die bleichen Wege, die Zeit selbst, alles stand festgezaubert vom Schlangenblick der Sonne, lautlos in ihrem weißen Feuer verbrennend. Im Kastell hinter den geschlossenen Läden war es kühl und still; man hörte nichts von draußen als zuweilen das rhythmische Geschrei der Leute, die, mit ihren Waren herumziehend, sie feilboten. Borsieri und Castiglia belustigten sich damit, den österreichischen Kommissar zu necken, einen wohlwollenden, höflichen Mann, der nicht imstande war, etwas abzuschlagen, was mit guter Manier von ihm erbeten wurde. Castiglia hatte sich schon am ersten Tage in eine junge Dame verliebt, die am Schlosse vorübergegangen war und mit dem Augenglas hinaufgesehen hatte, und er überredete den Kommissar, ihn in die Stadt zu begleiten, damit er die schöne Unbekannte aufspüren könne. Da dieser die noch immer Gefangenen eigentlich gar nicht, geschweige denn allein durfte ausgehen lassen und doch den zur Schau getragenen Liebeskummer Castiglias nicht ungetröstet lassen mochte, entschloß er sich, ihn zu begleiten, und ließ sich von ihm zu immer neuen Entdeckungsfahrten überreden. Zwar wurde die erste nicht gefunden, anstatt dessen aber entzündete der Anblick einer anderen, der wieder zu begegnen die lästigsten Opfer gebracht wurden. Kamen die beiden Abenteurer schweißbedeckt ins Schloß zurück, so plagten die Zurückgebliebenen den ohnehin bedenklichen und reuevollen 323 Kommissar mit Andeutungen, was für unliebsame Folgen es für ihn haben könnte, wenn sie bemerkt würden, oder wenn sein Schutzbefohlener ihm etwa gar entwischte. Zwischendurch kamen für alle Stunden der Erschöpfung: sie schliefen oder lasen oder lagen gelangweilt und doch unfähig sich zu beschäftigen da, wie sie es auf dem Spielberg sich angewöhnt hatten.

Einen Brief zu schreiben, war für Federigo eine Anstrengung; doch sehnte er sich danach, es zu tun und Briefe alter Freunde zu erhalten. Wenn er eine Handschrift wiedersah, die ihm früher vertraut gewesen war, traten ihm Tränen in die Augen und hinderten ihn oft lange, zu lesen, was auf dem Bogen stand, der in seiner Hand zitterte. Die herzlichen Worte, die ihm die Gewißheit gaben, daß er nicht vergessen war, daß unveränderte Gesinnungen ihm entgegenkamen, ließen sein Herz hoch schlagen und erregten ein Gefühl in ihm, als wolle die Verödung in seiner Brust voll werden; aber immer kam es so, daß er nach einer Weile das Blatt sinken ließ und die Hand auf die Augen legte. Es war nichts; ein Tropfen Tau war auf eine verdorrte Pflanze gefallen und glitzerte dort, ohne daß das tote Blatt sich aufrichtete.

Seine Vermögenslage ordnete Metternich, indem er dem alten Grafen Confalonieri brieflich vorstellte, der Kaiser würde es natürlich finden, wenn er seinen Sohn standesgemäß versorgte, ja, er wünsche es; denn die ehemaligen Gefangenen würden den Anerbietungen zweifelhafter Parteigänger zugänglich gemacht, wenn man sie mittellos ließe. So hatte Federigo dem Wiener Hofe nicht nur sein Leben, sondern auch den Genuß seines Vermögens zu verdanken. Es war bedeutend genug, daß er sich alle äußeren Bequemlichkeiten des Lebens dadurch verschaffen und die weniger gut Gestellten unter seinen Gefährten unterstützen konnte. 324

Kurz vor dem Abgange des Schiffes, das die Staatsgefangenen nach Amerika befördern sollte, erkrankte Federigo, so daß er in Gradisca zurückbleiben mußte. Da jedoch die österreichische Regierung sich nicht allzu lange gedulden wollte, mußte er sich entschließen, im November, der Zeit der ärgsten Stürme, zu Schiffe zu gehen. Unterwegs litt er noch mehr als durch körperliche Leiden durch das Verhalten des Schiffskommandanten, eines venezianischen Grafen Bandiera, der seiner Anhänglichkeit an Österreich durch hochfahrendes Benehmen gegen den ehemaligen Rebellen Ausdruck gab. Einen besonders empfindlichen Schaden fügte er ihm zu, indem er die Briefe unterschlug, die Federigo an Bord des Schiffes, in der Meinung, nunmehr endgültig frei zu sein, an seine nächsten Freunde, namentlich an Andryane, geschrieben hatte. Aufs äußerste erschöpft kam er nach langwieriger Reise in Neuyork an.

 


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