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4. Die Begegnung

»Elli, bist du fertig?« rief eine Mädchenstimme in einem großen Hause der Hauptstadt die Treppe hinauf in den zweiten Stock. »Wir müssen gehen, Elli! Tante Elfriede erwartet uns mit diesem Zug.«

Man hörte oben eine Tür zuschlagen, und eiligen Schrittes kam ein junges Mädchen von etwa sechzehn Jahren die Treppe hinabgesprungen. In ihrer Gestalt erinnerte sie an Elise, die dritte der Freundinnen, aber sie ist nicht dunkel wie diese, sondern hat lichtblondes Haar und schöne rehbraune Augen, die oft etwas träumerisch blicken konnten.

»Anna, hast du schon gewartet?« rief sie ängstlich, und Tränen traten ihr in die Augen. »Wir aßen wieder so spät, obwohl ich Mama bat, es früher zu machen. Ich glaube, Mama ließ mich nicht gern gehen,« fügte sie stockend hinzu.

»Sie hat es aber doch gestern erlaubt,« sagte Anna, sie mitleidig ansehend. »Doch nun komm schnell, der Zug wartet nicht.«

Die beiden jungen Mädchen eilten dem Bahnhof zu. Bald hatte Elli ihr sorgenvolles Gesicht mit einem fröhlichen vertauscht, und sie plauderte mit ihrer Freundin von lauter frohen und heitern Dingen. Am Bahnhof angekommen, lösten sie eine Karte nach Eichstädt, der übernächsten Haltestelle, und begaben sich dann in einen Abteil dritter Klasse, woselbst sie die einzigen Insassen zu sein schienen.

»Wie gut, daß es nicht so voll ist!« sagte Anna. »Zumal bei der Hitze wäre es unerträglich.«

»Wie reizend, daß wir allein sind!« – rief Elli aus. Doch kaum hatte sie das Wort gesprochen, ward die Tür aufgerissen, und zwei junge Leute, anscheinend Studenten oder Gymnasiasten der höheren Klassen, stiegen ein. Sie schienen die jungen Mädchen, die am andern Ende des Abteils saßen, kaum zu bemerken, denn sie begannen sofort eine flotte Unterhaltung, unbekümmert, ob sie gehört wurden oder nicht.

Die jungen Mädchen aber waren verstummt und schauten erstaunt auf die Jünglinge, die auf so unliebsame Weise ihr Alleinsein störten.

»Sollte mir einfallen, Theologie zu studieren,« rief der eine, ein auffallend langer Mensch, mit einer großen Nase und unregelmäßigen Gesichtszügen. »Wenn mein Vater Pastor gewesen ist, damit ist noch nicht gesagt, daß der Sohn es auch werden muß. Ich spüre bis jetzt durchaus keine Neigung zu diesem Studium. Was ich mit meiner Vernunft nicht fassen kann und mit meinem Verstand nicht ergründen, das glaube ich nicht.«

Der andere stimmte ihm bei, und nun ergingen sie sich des weiteren in ihren verschrobenen Ansichten. Und die jungen Mädchen saßen in der andern Ecke stumm und regungslos, aber sie folgten dem Gespräch mit Aufmerksamkeit.

Jetzt flüsterte Elli Anna etwas zu. Diese schien es nicht zu verstehen, denn sie zuckte mit den Achseln. Elli nahm flugs ein kleines rotes Notizbüchlein aus der Tasche, schrieb etwas hinein und hielt es Anna hin. Diese nickte zustimmend, als sie es gelesen hatte, und sah nach den Herren hinüber. Der Kleinere von ihnen hatte kurz zuvor dem Großen, als er mitten im Redefluß war, einen Stoß gegeben, so daß dieser sich umschaute und nun erst gewahr wurde, daß außer ihm noch jemand im Abteil anwesend sei. Sein Blick fiel auf die jungen Mädchen, gerade als Elli das Notizbuch hervorzog und etwas hineinschrieb. Und als Anna es gelesen hatte und unmittelbar darauf ihn ansah, wußte er, daß das Geschriebene mit ihm im Zusammenhang stehe, und hätte gern ergründet, was es sei. Dies zu erforschen war seinem hohen Verstande jedoch nicht beschieden, denn Elli hielt das Buch fest in der Hand und würde es ihm wohl am wenigsten zur Ansicht überlassen haben. Sich aber die Mädchen, die er bisher gar nicht beachtet hatte, anzusehen, konnte ihm niemand verwehren. Er lehnte sich zurück in die Ecke des Abteils, schlug die Arme zusammen und guckte halb trotzig, halb herausfordernd in die andere Ecke, wo die jungen Mädchen, die sich nun beobachtet fühlten, verlegen und errötend dasaßen. Dem andern Mann schien die Sache Spaß zu machen, er lächelte und sagte: »Otto, was hattest du doch sagen wollen, du bist mitten in deiner Rede stecken geblieben.«

»Nichts wollte ich sagen,« erwiderte der andere. »Wir wollen doch nur bis Eichstädt fahren und sind bereits da.«

Die Lokomotive pfiff, der Schaffner öffnete die Türen, und die jungen Mädchen schlüpften mit Windeseile hinaus. Die Herren nahmen sich mehr Zeit. Mit großer Ruhe legten sie ihre Regenmäntel über die Schultern und hingen die Pflanzentrommel um. Während der Kleinere eben bedächtig zum Abteil hinausschritt, sah der Lange unter der Bank etwas Rotes leuchten. Er schoß zur Erde, als hätte er den größten Schatz entdeckt, hob ein kleines Notizbuch auf und steckte es ein.

»Die Mädchen sind doch unbezahlbar,« sagte er, nachdem sie den Bahnhof verlassen und die Richtung nach dem Walde, wo sie botanisieren wollten, eingeschlagen hatten. »Erst tun sie, als ob sie die wichtigsten Staatsgeheimnisse zu verzeichnen hätten, und dann lassen sie das Buch zu jedermanns Einsicht daliegen.«

»Die Kleine hat's verloren,« sagte der Freund, »wir müssen es ihr wieder zustellen.«

»Das fehlte noch! Nein, Fahrlässigkeit muß bestraft werden,« antwortete der Lange. Mit diesen Worten öffnete er das Buch und murmelte: »Kein Name, weder hinten noch vorn, also ist es rein unmöglich, die Eigentümerin ausfindig zu machen. Es hat ja auch gar keinen Wert, sie wird es kaum vermissen.« Mit diesen Worten blätterte er in dem Büchlein. Plötzlich hielt er inne, stampfte mit dem Fuß auf und sagte: »Das ist ja riesig liebenswürdig!«

Der andere guckte ihm über die Schulter und las: »Was für ein häßlicher, gottloser Mensch!!!« Er brach in ein schallendes Gelächter aus und sagte: »Das geht auf dich; denn mir hat man immer gesagt, daß ich leidlich hübsch bin.« Dabei schüttelte er seinen braunen Lockenkopf und fuhr fort: »Nimm es mir nicht übel, aber recht hat das junge Mädchen. Augenblicklich bist du nichts weniger denn hübsch.« Und dabei lachte er wieder und konnte sich gar nicht fassen. Der Lange lachte schließlich auch gezwungen mit. Zeigen wollte er dem Freund auf keinen Fall, wie verstimmt er war. Er steckte das Buch ein und sagte: »Dummes Zeug, ich werde mir doch aus dem Mädchengewäsch nichts machen. Laß uns nur die versäumte Zeit einholen, denn trügen mich meine Augen nicht, gibt's heute Regen. Auch möchte ich bei guter Zeit wieder daheim sein.«

Die Burschen schritten rüstig dem Walde zu, während die beiden Mädchen nach der entgegengesetzten Richtung der fünfzehn Minuten von der Bahn entfernten Stadt zuwanderten.

»Anna,« sagte Elli, nachdem sie sich über die unliebenswürdigen Jünglinge genügend ausgelassen hatte, »ich fürchte mich etwas vor der kranken, mir ganz fremden Tante.«

»Du wirst sie lieb haben, wenn du sie siehst. Ich liebe sie so sehr! Als meine Eltern noch in Eichstädt wohnten, bin ich als Kind täglich bei ihr gewesen und verdanke ihr sehr viel. Ich freue mich, daß du mich einmal zu ihr begleiten darfst. Es wird dir nicht leid sein.«

Unter diesen und ähnlichen Gesprächen langten die jungen Mädchen in der Stadt an, durchschritten dieselbe, gingen an den Landhäusern mit ihren schönen Gärten vorüber und standen bald auf einem großen freien Platz, der zur Rechten mit Linden bepflanzt war, zur Linken aber ein Häuschen zeigte, das man sich nicht schmucker denken konnte. Es hatte weißen Anstrich und grüne Läden; an der rechten Seite kletterten Heckenrosen bis ans Dach hinan, und da es Rosenzeit war, so blühte und knospete es überall an dem Häuschen, und die Blümlein nickten zum Fenster herein und grüßten die liebe Kranke. An der linken Seite, doch etwas abseits vom Hause, stand eine Linde, die wohltätigen Schatten gab.

Als Anna dies als der Tante Heim bezeichnete, rief Elli erfreut aus: »Wie reizend, wie entzückend ist es hier!«

»Gefällt es Ihnen bei uns?« sagte eine freundliche Stimme, und schon umschlang Anna Tante Auguste mit beiden Armen und rief: »Guten Tag, liebe Tante! Hier bringe ich noch jemand mit, der dich und Tante Elfriede kennen lernen möchte. Wir dürfen doch heute zu ihr?«

»Gleich noch nicht, aber in einem halben Stündchen. Erst gibt's Kaffee.« Mit diesen Worten zog sie die jungen Mädchen ins Wohnzimmer, wo köstlicher Kaffeeduft und ein großer Teller Kuchen sie empfing.

Tante Auguste war eine liebenswürdige Wirtin, die es jedem behaglich zu machen wußte. Sonderlich gut verstand sie mit der Jugend zu Verkehren.

Nachdem die jungen Mädchen es sich trefflich hatten schmecken lassen, mußte Anna von den Eltern daheim erzählen; auch an Elli wandte sich Tante Auguste mit freundlichen Fragen, lobte sie, daß sie Anna begleitet habe, um die fremde Tante kennen zu lernen, und als diese schüchtern dankte für die ihr gewordene Erlaubnis, mitkommen zu dürfen, sagte Tante Auguste: »Du mußt uns beide ›Tante‹ nennen und ›du‹. Das ›Siesagen‹ ist in unserem Häuschen verboten. Nun will ich euch den Garten zeigen, und dann geht's zu Tante Elfriede.« Auguste führte die jungen Mädchen zu ihren Lieblingsblumen, zeigte ihnen junge Obstbäume, die sie sich neu hatte anpflanzen lassen, und pflückte ihnen Rosen zum Mitnehmen.

Dann betraten sie das Krankenzimmer. Nachdem Tante die Tür geöffnet hatte, verschwand sie, um die beiden mit Elfriede allein zu lassen. Elli blieb schüchtern und verlegen vor der Tür stehen, während Anna schon vor dem Bett der Kranken kniete und von derselben geliebkost wurde.

»Komm nur näher, mein liebes Kind, und fürchte dich nicht,« sagte Tante Elfriede. »Ich bin keine schlimme Kranke. Schau mich nur an, ich kann auch fröhlich sein und habe die jungen Mädchen sehr lieb.« Sie streckte Elli die Hand hin und sah sie lange an. Es war Elli, als ob die Tante ihr bis ins Herz sehen müsse mit ihren klaren, durchdringenden Augen. Sie fühlte sich wunderbar angezogen durch den Blick, es lag unbeschreibliche Liebe und Güte in demselben.

»Nun setzt euch so, daß ich euch in die Augen schauen kann, und dann erzählt mir,« sagte Elfriede. »Seht, ich liege hier Tag für Tag, Jahr für Jahr, und sehe und höre nichts von der schönen Gotteswelt. Aber es wäre undankbar, wenn ich klagen wollte. Ich habe ein liebes Stübchen, eine treue Pflegerin, Vögelein, die mir singen, Blumen, die mir blühen, und die Linde dort an der Ecke ist meine gute Freundin. Wenn ihre Blätter sich leise im Winde bewegen, ist mir's, als flüsterten sie mir zu und erzählten mir von vergangenen Tagen. Und seht nur die vielen Liebeszeichen, die mich umgeben.« Die jungen Mädchen schauten sich um. Da gab es Bilder und gestickte Sachen, gemalte Sprüche und was sonst die liebe Kranke erfreuen konnte. Sie erzählte von jedem Stück, wo es hergekommen sei, und wurde so lebendig und frisch dabei, lachte auch mit den jungen Mädchen, so daß Elli immer zutraulicher wurde, auch anfing, zu erzählen und sie, wie sie es gern hatte, »Tante Elfriede« nannte. Elfriede, die das junge Mädchen immer wieder forschend angesehen hatte, sagte plötzlich, ihre Hand ergreifend: »Elli, es ist mir, als müßte ich dich kennen, du hast mir bekannte Züge. Doch es kann ja nicht sein; ich habe dich nie vorher gesehen und habe auch deine Eltern nicht gekannt. Weiß wenigstens nichts von einer Familie Braun.«

»Mein Vater ist schon tot,« sagte Elli leise.

»Hast du Geschwister?«

»Nein, ich bin die einzige Tochter –«

»Dann mußt du recht deiner Mutter Trost und Erquickung sein, wenn du ihr alles bist.«

Elli errötete. Ob sie's war?

Auf einmal faßte Tante Elfriede Ellis Hand fester, schaute sie wieder an und fragte: »Elli, hast du deinen Heiland lieb?«

Das junge Mädchen, das gar nicht auf die Frage vorbereitet war, stotterte verlegen: »Ja – das heißt wohl nicht so, wie ich sollte. Ich möchte gern –«

»Ich meine, tust du deinem Heiland etwas zu lieb, bist du ihm dankbar für das, was er an dir getan hat?«

Elli schwieg.

»Meine lieben Kinder,« sagte Elfriede und ergriff nun auch Annas Hand, »übt ihr an euch Zucht? Ich meine, bringt ihr täglich eurem Heiland eure Herzen zum Opfer dar? Opfert ihr ihm gern alle Tage eure Lieblingssünden und Neigungen, jaget ihr nach der Heiligung? Das heißt den Heiland in der Tat und Wahrheit lieben, wenn wir ihm das ganze Herz schenken und Zucht an uns selber üben und zwar ganz im verborgenen, daß es nur des Heilandes Augen sehen.«

Die jungen Mädchen sahen die Tante an, als möchten sie mehr darüber hören, und nun malte sie ihnen das Leben mit dem Herrn so köstlich vor die Seele, daß die beiden, noch unter dem Eindruck der vor einigen Monaten stattgehabten Konfirmation stehend, willig waren, sich von ganzem Herzen dem zu ergeben, der Tante Elfriede so glücklich machte auf ihrem Krankenlager.

Nachdem Elfriede länger gesprochen hatte als gewöhnlich, legte sie sich erschöpft in die Kissen, und Anna bat sie, nun zu ruhen, damit der Besuch ihr nicht schade.

»Die jungen Mädchen sollen jetzt ihren Tee haben und du deine Ruhe, Elfriede,« sagte Tante Auguste eintretend.

Sie schüttelte der Kranken die Kissen zurecht, legte sie bequem, drückte leise einen Kuß auf ihre Stirn und winkte Anna und Elli, ihr zu folgen. »Wenn ihr zum Gehen fertig seid, schlüpft ihr noch einmal hinein und sagt der kranken Tante Lebewohl, jetzt kommt!«

Wie hatte Tante Auguste wieder prächtig gesorgt. Ein Teller mit Obst und schön belegte Butterbrote luden zum Vesper ein; dazu brachte sie Tee und Zuckerkringlein.

»Tante Gustchen macht alles, wie man's gern hat,« sagte Anna und gab ihr einen Kuß.

»Unsere Anna kommt gern zu uns, das weiß ich. Elli, wirst du denn die alten Tanten auch einmal wieder besuchen?«

Elli, deren Gesicht strahlte von allem Guten, das sie heute genossen hatte, sagte, wie sehr gern sie jede Gelegenheit benützen würde, wieder zu kommen, daß sie aber nicht wisse, ob sie der Mutter Erlaubnis dazu bekommen werde.

Die Zeit des Aufbruchs nahte.

»Ich will euch nicht aufhalten,« sagte Tante Auguste, indem sie prüfend nach dem Himmel sah. »Es hat schon gedonnert, und ein Regen ist unausbleiblich.«

Sie machten sich reisefertig. Ehe sie gingen, durften sie noch einmal die Tür zum Krankenstübchen öffnen. Elfriede streckte ihnen beide Hände entgegen.

»Gott behüte euch, meine lieben Kinder. Behaltet Tante Elfriede lieb und vergeßt im Gewirre des Lebens euren Heiland nicht. Gott schütze euch und segne euch!«

Von diesem Segenswunsch begleitet, eilten die jungen Mädchen der Bahn zu. Sie hatten wenig Zeit zum Plaudern, das nahende Gewitter mahnte zur Eile. Ihre Herzen waren bewegt von allem, was sie gehört hatten; vorzüglich Elli war es, als sei ihr eine andere Welt aufgegangen, ihre Gedanken hatten eine andere Richtung bekommen. Sie ahnte nicht, daß die kranke Tante eine Jugendfreundin ihrer Mutter gewesen war, denn Elli war Elisens Tochter.


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