Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10. Die Kanne

Dasselbe Rauschen weckte sie am andern Morgen. Sie rieb sich die Augen und horchte auf das ungewohnte, einförmige Getöse. Dann sprang sie schnell und lief beim Ankleiden immer einmal an das kleine Fenster, um einen Blick zu tun auf die heute in ruhiger Majestät daherrauschende See. Dann holte sie ihr Neues Testament aus dem Koffer. Sie wollte nun, das hatte sie sich vorgenommen, jeden Tag einen Abschnitt daraus lesen; sie hatte es Tante Elfriede versprochen, aber schon längst nicht mehr gehalten. Sie bat Gott, ihr den rechten Weg, den sie so gerne wandeln wollte, immer klarer zu zeigen, und nachdem sie so den Tag in rechter Weise begonnen hatte, guckte sie in die Wohnstube, um zu sehen, ob die Tante wach sei. Ein lautes Schnarchen von der Kammer her belehrte sie eines anderen. Sie betrat leise das Zimmer und warf einen neugierigen Blick aus dem Fenster. Gegenüber lag ein hübsches Haus mit freundlichem, einladendem Aussehen, gleich dahinter die Kirche. Vor dem Hause war ein Garten, in den man von Ellis Fenster aus einen vollen Einblick hatte. Sollte das etwa das Pfarrhaus sein? Es schien schon volles Leben zu herrschen. Zwei saubere Mädchen trugen Wäschkörbe herbei, eine Leine war schon gezogen zur Seite des Hauses; jetzt kam rüstigen Schrittes eine jüngere Frau im Morgenhäubchen und mit den Worten: »Nun fix an die Arbeit!« machte sie sich mit den Mädchen ans Aufhängen der Wäsche. In kurzer Zeit flatterte dieselbe in der frischen Morgenluft. Was mochte nur das blau- und weißgestreifte sein, was in dem einen Korbe lag? Die junge Frau schüttelte es auseinander und hing es auf. Es waren kleine Hosen von verschiedener Größe. Eins, zwei, drei, Elli zählte weiter, vier, fünf, sechs, immer mehr, nun kam die zehnte dran, und das war die letzte! Jetzt gab es Jacken von demselben Stoff, wieder eine ganze Leine voll, und nun flatterten alle die kleinen Kleidungsstücke wie Fähnlein in der Luft. Der Wind blies hinein, das sah lustig aus. Elli mußte herzlich lachen in der Aussicht auf all die Jungen, die das Haus bergen sollte.

Jetzt ging es ho! und hallo! und dazwischen ertönte die energische Stimme der Frau Pastorin, die hineinrief: »Bis hierher und nicht weiter.« Es flimmerte Elli blau und weiß vor den Augen; im ersten Augenblick glaubte sie, die Anzüge hätten Leben bekommen. Und so war es auch. In fünf Zebrakostümen steckten fünf kleine Gestalten von verschiedener Größe mit frischen, roten Backen und blonden Haaren. Sie schauten mit den Augen keck in die Luft und schwangen die Haselruten so kühn und unternehmend, daß man glauben mußte, sie wollten den Waschplatz im Sturm erobern. Die junge Frau hob gebietend die Hand, zog mit dem Hacken eine tiefe Furche in den Sand und rief: »Wer sich untersteht, den Strich zu überschreiten!« Damit machte sie wieder eine nicht zu verkennende Gebärde, und die Jungen sausten davon. Sie stürzten alle wie auf Verabredung auf den Brunnen zu, der, in einer Ecke des Gartens befindlich, so gelegen war, daß Elli auch hier übersehen konnte, was sich weiter zutrug. Der größte von ihnen begann nach dem etwas hoch über der Erde sich befindlichen Pumpschwengel zu springen. Kaum hatte er ihn erfaßt, kam ein anderer, entriß ihm denselben und begann zu pumpen mit aller Macht seines Leibes. In dem Wasser, das sich in reichlicher Fülle in ein unter der Pumpe befindliches Faß ergoß, wurde nach Herzenslust geplätschert. Die Jungen spritzten einander naß und jubelten und schrieen, als müßte es so sein.

»Frau Pastorin,« horte Elli eins der Mädchen rufen, »die Jungen sind schon wieder an der Pumpe.«

»Wartet, ich will euch!« rief die also Angeredete. Sie verschwand im Hause. Nach etwa zwei Minuten wurde oben am Fenster ein männlicher Kopf sichtbar, und eine Stimme rief: »Wollt ihr im Augenblick« –

Der Satz war noch nicht vollendet, da waren die Jungen schon wie vom Erdboden verschwunden. Wohin sie so plötzlich geraten waren, konnte Elli nicht entdecken. Es flimmerte ihr nur noch eine Sekunde blau und weiß vor den Augen, dann war alles still.

Sie stand noch unter dem Eindruck des Erlebten, als die Tante hinter ihr sagte: »Du bist ja wie gebannt am Fenster, Elli, siehst nichts und hörst nichts. Das Mädchen hat schon den Kaffee gebracht, und ich bin längst fertig.«

Elli erzählte der Tante von dem lustigen Gegenüber; dieselbe trat nun auch ans Fenster und musterte das Haus. Plötzlich rief sie: »Elli, siehst du dort im unteren Stock das offene Fenster?« Elli bejahte es.

»Sieh einmal genau hin: dem Fenster gegenüber steht ein Schrank und auf dem Schrank prangt eine große alte zinnene Kanne; die muß ich haben.« – Wir haben schon im ersten Kapitel unserer Geschichte Bekanntschaft gemacht mit der alten Kanne. Wie merkwürdig würde sie für Elli gewesen sein, hätte sie geahnt, daß ihre Mutter oft Kaffee aus derselben getrunken hatte. Nun war sie auf Karl Kunze vererbt, den jetzigen Pfarrer des Badeortes.

Elli erschrak über die Äußerung der Tante. Nun, das wußte sie, würde dieselbe nicht ruhen, bis das Erbstück in ihren Händen sei. Wie viele Verlegenheiten und Auftritte würde das mit sich führen!

Einstweilen ließ die Tante die Sache fallen und labte sich mit Elli an dem trefflichen Frühstück. Dann gab's so viel zu sehen und in sich aufzunehmen, daß die Jungen und die Kanne und das ganze Pfarrhaus in den Hintergrund traten.

Wie schön war's, am Ufer des Meeres zu sitzen und auf die Wellen zu schauen, wie sie kamen und gingen, sich von ihnen erzählen zu lassen von zukünftigen rosigen Tagen. Oder am Strand spazieren zu gehen und Muscheln und Steine zu lesen, um sie zu Hause auf Schachteln und Kästchen zu kleben mit feinem Moos dazwischen. Wenn die Tante ruhte, nahm Elli diese Arbeit vor, sonst gab es Pflichten zu erfüllen. Sie mußte die alte Dame ins Bad begleiten oder ihr vorlesen, und die Tage eilten dahin, als flögen sie davon. Die Tante war im ganzen gut gegen Elli, aber sie klagte oft über deren Ungeschick und meinte, mit ihr müsse eine gründliche Kur vorgenommen werden. »Du bist noch jung,« pflegte sie zu sagen, »aus dir kann noch etwas werden bei Übung und gutem Willen. Deine arme Mutter hat leider nichts in ihrer Jugend gelernt, darum versteht sie nichts und weiß nicht mit Geld umzugehen. Elli, mein Kind, sei du ja sparsam, es können noch Zeiten kommen, wo ihr fürs trockene Brot danken werdet.« Solche Aussprüche der Tante erschreckten Elli, und die Zukunft, die sie sich so gerne hell und freundlich ausmalte, stand ihr düster und nebelgrau vor Augen.

Doch wenn sie traurig werden wollte, guckte sie in den Nachbargarten. Dort gab's immer etwas Lustiges zu sehen. Den Herrn Pfarrer hatte sie schon lieben und verehren gelernt durch die Predigt, welche sie am Sonntag von ihm gehört hatte. Die Tante hatte sie zwar nicht begleitet, weil sie sagte, die Kirchenluft schade ihr, aber Elli war froh, daß sie ihr erlaubt hatte zu gehen.

Oft hatte Elli Gelegenheit, Pastor Kunze als strafenden Vater kennen zu lernen. Die Brunnenszene wiederholte sich fast alle Tage, nur mit dem Unterschied, daß der Aufenthalt der Blau und Weißen an der Pumpe länger oder kürzer war, je nachdem es von den Eltern bemerkt wurde. Das längere Verweilen zog oft betrübende Auftritte nach sich, der Herr Pfarrer hielt auf strengen Gehorsam, und das war gut. Die kleine leichtsinnige Bande wollte wohl auch gehorchen, doch wenn die Versuchung lockte, war's bald vergessen, und es war nötig, bei den vor Jugendlust und Übermut sprudelnden Jungen die Zügel straff zu ziehen, sollte anders etwas aus ihnen werden.

Eines Tages, unsere Reisenden mochten etwa vierzehn Tage im Bade gewesen sein, stand Elli am Fenster und sah, wie die Jungen wieder ein großes Faß an die Pumpe schoben, es voll pumpten und ein Schiff darauf schwimmen ließen. Aber wie gewöhnlich hatten sie sich bald entzweit. Da keine andere Waffe zur Hand war, bedienten sie sich des Wassers zur gegenseitigen Abstrafung. War denn heute niemand da, der den Buben wehrte? Sie waren schon alle fünf zum Ausringen naß, und immer wieder ging das Begießen von neuem los.

Da tönte auf einmal der Frau Pastorin klagende Stimme aus dem Hause: »Karl, Karl, wo bist du denn? Ich stecke mit den Händen im Brotteig.« Keine Antwort erfolgte.

»Otto,« rief dieselbe Stimme, »wehre du doch den Knaben, mein Mann ist ausgegangen.«

Und sieh: »Es ragt das Übermaß des Leibes weit über Menschliches hinaus.« Eine hohe Gestalt wurde sichtbar; sie schritt mit gewaltigen Schritten durch den Garten, faßte mit kräftiger Hand die Buben beim Kragen, schüttelte sie der Reihe nach durch und sagte mit lauter Stimme: »Schämt euch! Marsch ins Haus.« Der große Herr faßte hierauf zwei der Buben mit der rechten, zwei mit der linken Hand; zappelnd und trappelnd liefen sie neben ihm her, während er selbst mit Riesenschritten dem Hause zueilte, wo er alsbald mit den Missetätern verschwand. Elli war sprachlos vor Erstaunen. Unter Hunderten hätte sie diesen Menschen wieder erkannt. Er kam ihr zwar nicht ganz so häßlich vor wie damals, er trug eine Brille und hatte ein sehr gelehrtes Aussehen, aber an der langen Gestalt und der etwas großen Nase erkannte sie ihren Reisegefährten, der damals so törichte Reden geführt hatte. Sie hätte ihn am wenigsten hier vermutet, viel eher auf Indiens Gefilden oder in Amerika und Afrika, um die Natur zu erforschen, wofür er damals so geschwärmt hatte. Oder hatte er dies bereits getan und war nun, von irgend einer Seefahrt zurück, hier gestrandet? Wie kam er aber in dies Pfarrhaus? Jedenfalls gab die Sache ihr sehr viel zu denken, sie war den Nachmittag über still und träumerisch und sah immer wieder verstohlen zum Fenster hinaus in den Pfarrgarten hinüber; doch nichts Außergewöhnliches zeigte sich.

Gegen Abend mußte sie die Tante, wie oft, ins Kurhaus begleiten. Da gab es jeden Nachmittag Konzert und viele geputzte Menschen. Die Tante hatte schon verschiedene Bekanntschaften gemacht, doch waren es meist ältere Damen. Elli schloß sich schwer an, war auch zu schüchtern, die jungen Mädchen anzureden. Sie betrachtete sie nur sehnsüchtig aus der Ferne, wenn sie Arm in Arm zusammen gingen und schwatzten oder in den Strandkörben saßen mit hübschen Handarbeiten oder einem Buch. Die Hoffnung, herzliche Bekanntschaft mit einer oder der andern anzuknüpfen, schwand immer mehr. Sie gedachte ihrer lieben Freundin Anna, und es überkam sie inmitten der Menschenfülle ein Gefühl der Einsamkeit und Öde, wie sie es bisher nie gehabt hatte.

Sie saßen heute im Freien, das war angenehmer als im Saal, wo die Luft oft so drückend wurde. Eine alte Dame hatte sich zu ihnen gesellt, und während die Tante mit ihr über alle ihre Leiden und Krankheiten verhandelte, blickte Elli um sich und stellte Betrachtungen an über die verschiedenen Familiengruppen, die an den Tischen verteilt saßen. Da gewahrte sie ganz in ihrer Nähe zwei Herren sitzen, mit dem Rücken gegen sie. Sie sprachen laut, und sie erkannte sie beide. Der eine war der Lange aus dem Pfarrgarten, der andere der junge Herr, den die Tante so schmählich aus dem Postwagen getrieben hatte. Sie schienen sehr befreundet miteinander zu sein, nannten sich »Otto« und »Heinrich« und tranken einander zu. Von der Unterhaltung, die später halblaut geführt wurde, konnte Elli nur einzelne Worte verstehen. »Anstellung als Schiffsarzt«, »nach Südamerika« und dergleichen. Dann setzte die Musik ein, und alles lauschte.

Als Elli wieder nach dem Tisch hinübersah, stand der Herr Pastor da mit seinen hoffnungsvollen Söhnen. Dieselben waren in frisch gewaschenen Anzügen, glatt gescheitelt und hielten ihre Sonntagshüte artig in der Hand.

Der Lange stellte sie dem Freund vor. »Pastor Kunze, mein Onkel, und dies sind meine fünf kleinen Vettern.«

»Onkel Karl,« wandte er sich dann an diesen, »ich denke, wir gehen an den Strand; für die Jungens ist es besser, dort können sie nach Herzenslust plätschern.«

»Heute dürfen wir nicht, Vetter Otto, wir haben die Sonntagssachen an; wir suchen Muscheln!«

Sie mußten an dem Tisch vorüber, an dem Elli mit der Tante saß. Als der kleinere von den Freunden die Damen bemerkte, grüßte er außerordentlich höflich, doch wollte es Elli scheinen, als ob ein Zug feinen Spottes um seine Lippen spielte. Der Lange grüßte auch und sah Elli scharf an. Dann sah er den Freund fragend an, und dieser schien ihm im Weitergehen eifrig zu erzählen. Als sie schon ein gutes Stück entfernt waren, hörte Elli sie beide lachen; natürlich berichtete er von der Wagenfahrt; es war ihr sehr unangenehm.

Als die Tante abends zu Bett gegangen war, saß Elli noch an ihrem Kammerfenster und schaute auf die mondbeglänzte See. Wie wunderschön war sie, wie kräuselten sich die Wellen und glitzerten beim Sternenschein! Es war ein warmer, köstlicher Abend; sie hätte am liebsten noch am Meer gesessen und hätte die Wellen zu ihren Füßen spielen sehen. Da auf einmal ertönte eine leise, seine Musik durch die stille Nacht, so lieblich, wie sie sie nie gehört hatte. Es wurde auf der Zither gespielt und zwar in so meisterhafter Weise, daß es wohl der Mühe wert war, zu lauschen. Wo kam aber der Klang her? Entschieden von der andern Seite. Da gab's leider kein Fenster in der Kammer. Sie schlich auf Zehen in die Wohnstube, damit die Tante nicht erwache, und sah zum Fenster hinaus. Der Pfarrgarten lag im Mondscheinglanz da, tiefe Stille ringsumher, aber aus der Laube an der linken Seite des Hauses kam die zauberhafte Musik. Welch engelgleiches Wesen mochte sie hervorbringen? O, was dieses Haus alles barg, jeden Tag kam etwas Neues zum Vorschein. Als Schlußlied wurde gespielt: »Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit, klingt ein Lied mir immerdar, o wie liegt so weit, o wie liegt so weit, was mein einst war.«

Elli dachte an Anna, und still flossen ihre Tränen, so bewegte sie der rührende Klang der Zither. Längst war der letzte Ton verklungen, und sie saß immer noch und sah nach der Laube. Aber leider war deren Ausgang nach der andern Seite, und sie konnte nichts ergründen. Es war ihr, als sei sie selber in ein Feenmärchen versetzt. Sie hätte noch lange träumend dagesessen, wenn nicht die rauhen Stimmen vorübergehender Matrosen sie aufgeschreckt hätten. Sie schlüpfte schnell in ihr Kämmerlein, wo bald holde Träume der Nacht sie umfingen.

Am andern Morgen, nach dem Kaffee, sagte die Tante, indem sie rasch ans Fenster trat: »Es wird nun Zeit, daß ich ans Einheimsen denke. Jeden Tag habe ich mir die Kanne durch das offene Fenster betrachtet, der Form nach muß es ein ganz altes Stück sein. Geh doch hinüber in jenes Haus, Elli, richte höfliche Empfehlungen von mir an die Herrschaften aus und setze sie von meinen Wünschen in Kenntnis. Bitte sie, mir die alte Kanne zur gefälligen Ansicht herüberzuschicken; gefällt sie mir, so werde ich es auch zu belohnen wissen.«

Dabei blinzelte sie nach einer fest vernagelten kleinen Kiste herüber, die sie auf dem Schrank stehen hatte, und die vom ersten Tage an Ellis Neugierde erregt hatte. Das Wort »Vorsicht« stand darauf, daneben war ein großes Glas gemalt.

Elli war sehr erschrocken. Sie sollte in das Haus hinübergehen mit einem so schwierigen Auftrag, gerade jetzt, wo der junge Herr dort weilte, der sie im Abteil so trotzig angesehen hatte! Nein, es war unmöglich.

Sie wagte also die schüchterne Bemerkung, daß die Kanne vielleicht ein altes Erbstück sei, welches die Herrschaften nicht hergeben würden.

Die Tante ließ sich nicht irre machen. Sie erklärte noch einmal auf das bestimmteste, heute, spätestens morgen solle Elli hinübergehen und ihren Auftrag ausrichten.

Elli wußte es: Widerreden half nichts. Sie schwieg, aber der Auftrag lag wie ein unübersteiglicher Berg vor ihr. Sie sah im Laufe des Tages mehr wie sonst in den Pfarrgarten hinüber, um sich zu überzeugen, ob der Lange nur einen vorübergehenden Besuch gemacht habe oder auf länger im Pfarrhaus wohnte.

Erst gegen Abend tauchte seine Gestalt auf. Er war nicht allein, sein Freund ging mit ihm im Garten auf und ab. Ihr Gespräch schien ernster Art zu sein. Sie standen oft still und sahen aus, als ob ihnen etwas Schweres bevorstände. Jetzt gingen sie ums Haus herum. Nach einigen Minuten sah man beide am Fenster stehen, an dem verhängnisvollen Fenster, durch das der Tante scharfe Augen die Kanne erspäht hatten. Elli zog sich zurück. Heute, das stand fest bei ihr, trieb keine Macht der Erde sie in das gegenüberliegende Haus. Die Tante sagte zum Glück nichts weiter und begab sich, da sie Kopfschmerzen hatte, bald zur Ruhe. Elli konnte noch nicht schlafen. Sie setzte sich in die Fensternische, in der Hoffnung, heute wieder die lieblichen Klänge, die ihr gestern das Herz gerührt hatten, zu vernehmen. Da zitterten die ersten leisen Töne durch die Luft. Was war das für eine Melodie? Sie kannte sie Wohl. Als sie den letzten Abend mit Anna zusammen war, hatten sie's gesungen, das Lied von Trennung und Wiedersehen. »Es ist bestimmt in Gottes Rat« usw. Sie sang es im Herzen mit. Und nun kam die Pause und dann der andere Vers: »Wenn Menschen auseinandergehn, so sagen sie auf Wiedersehn – auf Wiedersehn!« – Die letzten Töne waren verklungen, gesungen wurde nicht dazu. Elli wunderte sich, wer die Zither so schön und vollendet zu spielen verstand. Es mußte irgend ein zartbesaitetes Wesen im Gegenüber sein, das sie noch nicht ergründet hatte.

Da ertönten Schritte. Sie sah wieder die beiden Herren durch den Garten gehen; jetzt standen sie still und drückten sich die Hände. Dann umarmten sie sich schweigend. Als sie sich entfernten, war es Elli, als sagten sie zueinander: »Auf Wiedersehen!« Es stand ihnen also eine Trennung bevor.

Elli, die bei den Klängen der Musik das Fenster geöffnet hatte, saß noch lange in tiefes Nachdenken versunken da. Erst als der Tante Stimme scheltend ertönte, was das heißen solle, das Fenster bei Nacht und Nebel aufzureißen, daß der volle Zug sie treffe, was das Schwärmen im Mondschein bedeuten solle, schloß Elli schnell das Fenster, und bald herrschte tiefe Ruhe im Gemach.

Am folgenden Tage gegen 12 Uhr stand Elli am Fenster. Sie hatte den Hut auf und knöpfte sich seufzend die Handschuhe zu. Jetzt sollte sie sich des unangenehmen Auftrags entledigen. Die Fenster des Gegenüber waren alle weit geöffnet. Die alte, ehrwürdige Kanne stand ruhig auf ihrem Fleck, nicht ahnend, daß ein Mädchenherz ihretwegen schneller als gewöhnlich schlug. Da auf einmal ertönte ein entsetzliches Klirren, es war, als ob Teller und Tassen dutzendweise zur Erde polterten. Gleichzeitig ertönte ein fünfstimmiges Geschrei, dazwischen die klagende Stimme der Frau Pastorin, die scheltende des Hausherrn. Dann wurde hin und her gelaufen, Scherben aufgelesen, und als Elli sich fragend zur Tante wandte, im Begriff, ihren Hut wieder abzunehmen, stand dieselbe mit frohlockendem Gesicht da und sagte: »Das Unglück da drüben ist mein Glück, jetzt ist der günstigste Augenblick, geh gleich.«

Elli bekam auf einmal Mut, sie wußte selbst nicht woher. Möglicherweise dachte sie, daß aller Aufmerksamkeit jetzt anderweitig in Anspruch genommen sei und sich nicht lediglich auf sie und ihre Bitten richten würde.

Nach etwa fünf Minuten stand Elli auf dem Hausflur des Pastorats. Niemand beachtete sie, obwohl die Tür zum Eßzimmer, in dem das Unglück sich ereignet hatte, weit geöffnet stand. Die Mädchen schafften immer noch Scherben fort, während die Frau Pastorin eine Menge abgebrochene Henkel in der Hand hatte und laut jammerte: »Warum muß ich nur fünf so wilde Jungen haben?« Aus der Studierstube drang unterdrücktes Schluchzen, dazwischen eine ernst strafende Stimme. Jetzt kam ein Mädchen mit dem Besen aus der Küche und bemerkte Elli.

»Sie wollen gewiß den Herrn Pastor sprechen; bitte, treten Sie hier ein,« sagte sie und öffnete die Tür des Besuchszimmers.

Eben warf Elli einen Blick auf den Schrank, erwartungsvoll, wie die Sache ablaufen würde, da trat der Pastor eilig zur Tür hinein, gefolgt von Otto, der Hut und Stock in der Hand hatte. Der Pastor, der sehr erhitzt aussah, stutzte, als er die fremde Erscheinung sah. Elli ging mit Heldenmut auf ihn zu und brachte das Anliegen der Tante vor.

»Kanne, alte Kanne?« sagte der Pastor zerstreut und sah sich im Zimmer um.

Elli deutete stumm auf den Schrank.

»Ach, die alte Familienkanne! Otto, du bist länger als ich, reich doch einmal dem Fräulein die zinnene Kanne herunter. Sie verzeihen, mein Fräulein, mein Neffe will mit dem nächsten Dampfschiff fort, ich will ihn begleiten. Wir sind durch einen kleinen Familienunfall länger aufgehalten. Mit wem habe ich die Ehre? Otto, die Kanne! Das Fräulein wartet darauf!«

»Aber Onkel,« flüsterte der Lange, »die Kanne von der Urgroßmutter, das alte Erbstück –«

»Es wird schon seine Richtigkeit haben, gib sie doch herunter,« sagte der Pastor wieder zerstreut und eilte ins andere Zimmer, um Hut und Stock zu holen, während Otto mit seinen langen Armen die Kanne herunterhob und sie Elli halb lächelnd, halb kopfschüttelnd einhändigte. Er sah sie dabei prüfend an und wollte eben etwas sagen, als der Pastor rief: »Otto, es ist die höchste Zeit!« So zog er nur höflich seinen Hut und ließ das junge Mädchen allein in der Stube zurück.

Elli hatte, was sie begehrte – aber daß sie mit ganz gutem Gewissen dastand, kann man nicht behaupten. Sie wartete noch ein Weilchen, ob vielleicht Frau Pastorin käme, doch nichts regte sich. Mit der Beruhigung aber, daß ihr die Kanne auf Befehl des Hausherrn gereicht worden sei, machte sie sich davon, und nach einigen Minuten stand sie mit derselben vor der befriedigten Tante.

»Ein schönes Stück,« sagte diese, die Kanne liebkosend, »ich werde mich der liebenswürdigen Familie erkenntlich zeigen.« Elli schwieg. Sie hielt den Besitz noch nicht für gesichert und ahnte, daß sie nicht so leichten Kaufs davonkommen würden. Am Nachmittag bemerkte sie denn auch, wie die Frau Pastorin, was sie nie getan hatte, die Blicke zu ihren Fenstern erhob. Und täuschte sich Elli nicht, sah die Dame ziemlich entrüstet aus.

»Tante,« sagte sie, »Frau Pastorin ist nicht zufrieden mit der Freigebigkeit ihres Gemahls, sie sieht so verhängnisvoll zu uns herauf und kommt gewiß, die Kanne zu holen.«

»Das wird sie nicht,« erwiderte die alte Dame, »denn soeben habe ich ihr eine Kiste mit Gegengeschenk und einen Dankesbrief hinübergeschickt.«

Frau Pastorin war allerdings außer sich, als sie hörte, was sich zugetragen hatte, während sie auf den Trümmern ihres Porzellans Klagetöne ausgestoßen hatte: »Wie konntest du das tun, Karl!« rief sie einmal über das andere aus, »deine Zerstreutheit fängt an, mir Sorge zu machen. Was wird Philippine sagen, wenn sie das hört! Ein altes Erbstück von der Großmutter mir nichts an fremde Badegäste, die eine Sucht für alte Gegenstände haben, zu verschleudern; es ist unverantwortlich.«

»Wenn du das Ding in Gebrauch genommen hättest, wie ich dir so oft geraten habe, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, es wegzugeben. Aber so steht es nutzlos von Jahr zu Jahr, während ich jeden Monat eine neue Kaffeekanne kaufen muß, weil die alte zerbrochen ist.«

»Gestehe es doch, Karl! Wärest du nicht so zerstreut gewesen, du hättest die Kanne, die seit 1740 im Familienbesitz ist, nicht hergegeben –«

Es pochte. Die Wirtstochter von gegenüber trat ein. »Eine Empfehlung von der Frau Merker, und sie erlaube sich der Frau Pastor dies zu schicken.« Das Mädchen lieferte den Brief nebst Kiste ab und war verschwunden, bevor die erstaunte Frau ein Wort zur Erwiderung hatte sagen können.

Voll Neugierde öffnete sie den Brief und las:

»Geehrte Frau Pastorin!

Der Herr des Hauses war so gütig, meinen Wunsch zu erfüllen. Ich erlaube mir anstatt der Kanne etwas anzubieten, indem ich hoffe, damit den Wert des alten Gefäßes zu decken.«

Die Kiste wurde geöffnet und wertvolles Meißener Kaffeegeschirr kam zum Vorschein.

»Was ich mir seit Jahren gewünscht habe, aber nie zu erreichen hoffte!« rief die Pastorin entzückt aus. »Und gerade heute, wo meine Tassen als Scherben auf dem Hof liegen! Sieh nur, Karl, ein ganzes Dutzend feiner Tassen, nebst Kaffeekanne, Zuckerdose und Sahnekännchen! Mein Lieblingswunsch ist erfüllt!«

»Und die Kanne?« fragte ruhig der Pastor.

»Wir wollen es uns noch einmal in Ruhe überlegen, Karl. Die Dame wohnt uns gegenüber. Unser Mädchen hat das Fräulein mit der Kanne dort verschwinden sehen. Wir wollen ihr einen Besuch machen.«

Es war nicht nötig. Gegen Abend erschien die Tante selbst mit Elli, sie konnte es wagen nach den Vorboten, die sie entsandt hatte. Mit größter Liebenswürdigkeit wurde sie aufgenommen. Die Damen stritten lange hin und her, obwohl von vornherein Frau Pastorin das Porzellan um keinen Preis fahren lassen wollte und die Tante fest entschlossen war, die Kanne um nichts in der Welt wieder herauszugeben. Endlich war man handelseinig. Die Kanne verblieb der Tante, das Porzellan der Frau Pastorin. Man schied in herzlichem Einverständnis.

Dem Hausherrn, der wieder in ruhiger Gemütsverfassung war, tat es nun fast wieder leid um die Kanne. »Ich habe einmal nicht den Sinn, alte Sachen herumzustellen,« sagte er vor sich hin, »und kann es nun nicht ändern. Hätte Großmutter sie lieber Philippinen vermacht!«

Hiermit beruhigte er sein Gewissen und vertiefte sich in eine gelehrte Abhandlung.


 << zurück weiter >>