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Eine Reihe von Jahren ist dahin seit dem zuletzt Erzählten. Wir kehren in dasselbe Städtchen ein, das wir vor fünfzig Jahren zuerst betraten.
In Bergen hat sich manches geändert im Laufe der Zeit. Neue vornehme Häuser sind an Stelle der alten getreten, auch hat sich die Stadt erweitert, es sind Anlagen entstanden und ein großes Bahnhofgebäude zeigt, daß auch Bergen mit hineingezogen ist in das Eisenbahnnetz, das alle Städte miteinander verbindet. Doch erst seit einigen Tagen ist die Eisenbahn in Betrieb gesetzt. Der Dampf, der Beherrscher der Neuzeit, vertreibt alles, was der alten Zeit lieb und teuer war. Da kommt eben die alte, ehrwürdige Postkutsche angerumpelt. Sie hat ihre letzte Fahrt vollendet. Mit Blumen und Laubgewinden ist sie reichlich geschmückt. Der Postillon sitzt in Staatskleidung auf dem Bock. Mit wehmütig ernstem Blick bläst er ins Horn. Laut und feierlich ertönt es durch die Stadt: »Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom liebsten was man hat, muß scheiden – ja scheiden.«
Jetzt hält die alte, reichgeschmückte Kutsche vor dem Postgebäude zum letzten Mal. Es ist ein Abschied der alten Zeit behaglicher Gemütlichkeit von der neuen des rastlosen Vorwärtseilens.
Wen birgt denn die alte Post zum letztenmal in ihrem Innern? Ein altes ehrwürdiges Ehepaar. Herr Brown ist trotz seiner 76 Jahre noch rüstig und ritterlich. Er reicht seiner Gattin, der um einige Jahre jüngeren, würdigen Dame die Hand und läßt sie vorsichtig aussteigen. Niemand steht zu ihrem Empfang bereit, sie haben es nicht gewollt. Ihr Besuch soll eine Überraschung sein. Sie haben wohl gewußt, daß das Städtchen jetzt mit der Bahn zu erreichen sei, als sie aber in der Stadt, von wo seit Menschengedenken die Post nach Bergen abgeht, erfahren, daß dieselbe das letzte Mal dahin fährt, bittet die Gattin um der alten Jugenderinnerungen willen, noch einmal mit der Post in Bergen anzukommen.
Sind sie denn nur um der Erinnerung willen gekommen? Fast scheint es so. Elise mit dem feinen, blassen Gesicht und dem silbergrauen Haar redet sehr eifrig und angelegentlich mit ihrem Gemahl, und macht ihn bald auf dieses, bald auf jenes im Städtchen aufmerksam. Nun haben sie den Marktplatz erreicht. Da steht noch ein stattliches Haus, das sich vor den andren auszeichnet. Es scheint der alten Dame sonderlich beachtenswert zu sein. Sie stehen davor und betrachten es lange. Nach ihren Mienen zu urteilen, mochten Gedanken ernster Art sie bewegen. Sie gehen weiter und als sie um die Ecke biegen und das Pfarrgäßchen betreten, erhellen sich ihre Züge. Sie schreiten auf das düstere, große Haus zu, das der Kirche gegenüber liegt. Fünfzig Jahre älter ist es geworden, doch man sieht es ihm nicht an. Der dunkelgraue Ölanstrich ist erneuert und die alten, steinernen Mauern, die schon manchem Wetter getrotzt haben, stehen fest und sicher, als wollten sie sagen: »Wir trotzen noch manchem Jahrhundert.«
Die Alten treten über die Schwelle. Tiefe Stille herrscht im Hause; es ist ihnen recht so, da sie überraschen wollen. Während sie ablegen und im kühlen Zimmer etwas ausruhen, gehen wir über den Hof, wo eine Anzahl junger Leute, Gymnasiasten, Studenten usw. sich mit Turnen belustigen. Einige ältere Herren stehen dabei und ermuntern die Jugend zu Kraftproben, wie sie sie in ihren Jünglingsjahren geleistet haben. Wir gehen an ihnen vorüber in den Garten und schauen uns um. Dort auf dem Rasen, unter einem großen alten Apfelbaum, der unter seinen üppigen Zweigen Schatten für viele gewährt, sitzt eine alte ehrwürdige Dame, anscheinend eine Großmutter. Kinder in sonntäglichen Kleidern spielen um sie herum, auch sie selbst ist im Festgewande.
Die Sonntagshaube mit dem weißen Atlasbande steht ihr so hübsch zu dem silbergrauen Haar und gibt dem Gesicht, das den Stempel der Gotteskindschaft trägt, eine besondere Weihe. Die braunen Augen leuchten immer noch in jugendlichem Glanz, besonders wenn sie auf die Enkel schaut, die der Herr ihr gegeben. Jetzt kommt ein kleiner blondgelockter Knabe mit einem Buch auf sie zu. »Großmama, ich will dir etwas vorlesen, suche dir eine schöne Geschichte heraus.« Sie nimmt das Buch und blättert, dann zeigt sie lächelnd auf eine, die alte Erinnerungen zu wecken scheint. Der Knabe setzt sich zu ihren Füßen und beginnt zu lesen, unbeirrt, ob sie zuhört oder nicht. Großmütterchen nickt manchmal bei dem eintönigen Lesen. Der Wind spielt leise in den Blättern des Apfelbaumes oder treibt lose Rosenblätter in ihren Schoß, die warme Sommerluft macht sie müde.
Aus der alten, großen Lindenlaube aber tönt fröhliches Lachen. Dorthin scheint sich die weibliche Jugend zurückgezogen zu haben. Junge Mädchen mit braunen und blonden Zöpfen schäkern und lachen zusammen, ihre Mütter sitzen daneben und freuen sich der fröhlichen Kinder. Jetzt tritt der Hausherr in die Laube, ein stattlicher, langer Herr ist's in den besten Mannesjahren. Vor einem halben Jahr ist er zum Superintendent in Bergen ernannt worden. Es ist Otto Rost, der Enkel des hier einst im Segen wirkenden Superintendent Kunze. Seine Gattin geht ihm entgegen. Sie sieht ihn an mit strahlendem Blick. Man merkt, sie ist mit ihm und durch ihn glücklich geworden.
Elli ist eine glückliche Gattin und Mutter. Sie hat das Glück nicht gesucht in den vergänglichen Dingen dieser Welt, sie hat es gefunden in dem Glauben an ihren Heiland. In diesem gemeinsamen Glauben stehen die Gatten treu zusammen, er verkündigt ihn der Gemeinde; sie predigt ihn in ihrem Hause durch Wort und Wandel. Ihre Kinder werden erzogen in der Zucht und Vermahnung zum Herrn.
Heute ist große Familienzusammenkunft. Es ist Großmütterchens siebenzigster Geburtstag, den sie alle begehen. Wie gern hätte Elli ihre Eltern hier gehabt, doch die Mutter war leidend gewesen und sie hatten abschreiben müssen.
Es war nur gut, daß Anna und Heinrich gekommen waren und ihr Töchterchen mitgebracht hatten. Es ist besonders für Lorchen, die älteste Tochter des Hauses, eine große Freude. Ebenso sind Johanna und Martha, die beide längst verheiratet sind, mit einigen Kindern gekommen, auch die Brüder Ottos haben es möglich zu machen gesucht. Sogar Onkel Karl und seine Frau haben die weite Reise nicht gescheut, auch von den Fünfen sind drei auf dem Hof zu sehen. Sie sind in gelehrtem Wortwechsel mit den Vettern, aus den wilden Jungen sind tüchtige Männer geworden, und über die Mutter ist seitdem eine große Ruhe gekommen. Während die älteren Damen in der Lindenlaube sich angelegentlich unterhalten, stehen die jungen Mädchen vor der großen Linde in der Ecke und betrachten immer wieder die dort eingeschnittenen Buchstaben. Sie wissen alle, was dieselben zu bedeuten haben, doch immer wieder wollen sie mehr darüber hören. Dann sehen sie nach der Großmutter hinüber, die damals jung und frisch gewesen ist wie sie, und bedauern, daß die andere Großmama nicht hat kommen können.
Doch siehe da, neben der einen Großmama sitzt ja eine zweite. Sie haben die Hände ineinander gelegt und sehen sich liebevoll an. »Heute konnten wir nicht fern bleiben,« sagte Elise. »Ich mußte ja kommen, um ein altes Versprechen einzulösen. Lorchen, heute vor fünfzig Jahren saßen wir hier auch.«
»Und waren lebenslustiger,« fügte Lorchen hinzu.
»Und wähnten glücklich zu sein, waren es aber in der Tat weniger wie heute.«
Lorchen sieht auf die Schar ihrer Lieben, drückt wieder Elisens Hand und sagt: »Dies alles hat uns der Herr gegeben. Dazu hat er uns innerlich reich gemacht und uns seinen Frieden verliehen. Das ist mehr wert als alle Schätze dieser Welt.«
»Und unsere Elfriede, die vor fünfzig Jahren so fröhlich auf dem Rasen herumtanzte, die hat er in seinen lichten Himmel hinaufgezogen, wo sie ihn schaut, den ihre Seele hier geliebt. Wie viel verdanken wir ihr. Was ist sie unsern Kindern gewesen,« setzte Elise leise hinzu.
Sie schauen auf die verschiedenen Gruppen im Garten. Elli und Otto haben ihren treuen Vater in die Mitte genommen und begrüßen nun jubelnd die Mutter. Die jungen Mädchen sind wieder in der Laube verschwunden, die Buchstaben haben zu viel Anziehungskraft. Die Knaben verschiedenen Alters laufen im Garten umher. Anna und Heinrich sitzen in der Tannengrotte, der kleine blondlockige Enkel aber hat sein Buch wieder aufgenommen und liest unbeirrt, ob jemand zuhört oder nicht, aus seinem von der Großmutter gewählten Märchen. Jetzt kommt er an die Worte:
»Ich liebe die Rosen in ihrer Pracht, doch mehr noch den Heiland, den Heiland, der selig uns macht.«
Otto, der mit seiner Elli in der Nähe steht, sieht sie bedeutungsvoll an.
»Die Worte haben einmal großen Eindruck auf mein Herz gemacht.«
»Ich weiß es,« sagte Elli, ihn liebevoll anschauend, »du hast es mir erzählt.«
»Es war an jenem Tage, wo du mich in deinem Büchlein so scharf getadelt hast.«
Sie drückte wieder seine Hand und sah ihren Mann innig an.
»Jetzt bist du mit mir zufrieden,« sagte er lächelnd.
»Nein, du böser Mann, nie,« ist ihre Antwort. Aber ihr Blick straft sie Lügen, denn es liegt darin: »Jetzt kannst du tun und sagen, was du willst, ich weiß, was ich an dir habe, du bist und bleibst der liebste und der beste Mann.«
Jetzt kommt ein geschäftiges Mädchen mit Tassen in den Garten. Sie ist auch älter geworden, die treue Lina, aber rüstig und geschäftig bleibt sie. Sie ist die rechte Hand der Superintendentin. Ihre Treue ist Goldes wert, darum wird sie auch von allen Gliedern der Familie hochgehalten. Sie und die jungen Mädchen ordnen den Kaffeetisch im Freien. Es ist eine fröhliche Gesellschaft, die dort beisammen sitzt. Die beiden Großmütter obenan. Mitten auf dem Tisch prangt stolz die blank gescheuerte Zinnkanne, das Erbstück der Familie, das hoch in Ehren gehalten wird, sonderlich von dem Hausherrn und seiner Gattin, denn es knüpfen sich Erinnerungen eigener Art daran. Was würde die Urgroßmutter sagen, wenn sie sie sähe!
Ja, was würden die Alten sagen, könnten sie herabschauen auf das jüngere Geschlecht, das nun ihre Plätze hier einnimmt. Sie würden sich freuen, wie alles von ihnen Ererbte in Ehren gehalten wird. Aber das köstlichste Erbstück der Alten ist der Glaube und die Gottesfurcht, die auf das jüngere Geschlecht vererbt ist. Doch nicht vererbt, es ist ihr innerstes, teuer erkämpftes Eigentum geworden, das sie glücklich macht, worauf sie leben und sterben wollen.
Nach dem Kaffee wird von der Jugend eine Fahrt auf dem See vorgeschlagen. Alle sind dafür, sogar der Großpapa hat sich bereit erklärt, mit hinüber zu fahren in den schönen Wald. Es entsteht ein Geschwirre und ein Zurüsten, alles will mit, auch der kleine Siebenjährige, nur die beiden Großmütter bitten, man möchte es ihnen erlassen, sie wollten unterdes im Garten sitzen bleiben.
Und nun ist's ruhig und still geworden. Aus der Ferne tönt Gesang der fröhlichen Jugend. Die Großmütter lauschen und sitzen wieder Hand in Hand unter dem Apfelbaum. Lorchen erzählt Elise von den verschiedenen Führungen ihrer Kinder und sagt, wie sie sich freue, ihren Lebensabend im Hause ihres ältesten Sohnes beschließen zu können. Sie rühmt Ellis, ihrer Schwiegertochter, Liebe und Zartheit gegen sie, die alternde Mutter, wie sie sie auf den Händen trage und ihr nur Liebes tue. Elise hört es gern, wiewohl sie weiß und immer wieder bekennt, daß sie kein Verdienst daran hat.
Elise und ihr Gatte leben immer noch in Seehausen, es ist ihnen der liebste Ort, weil sie sich zum zweitenmal dort gefunden haben. Doktors sind heimgegangen, doch ihr Andenken steht im Segen. Elli vergißt nie, was sie der prächtigen Frau zu danken hat. Ihr Haushalt legt Zeugnis davon ab. Tante Berta, die alte kränkliche, wohnt im Landhaus Elise und wird von Elise in selbstloser Liebe gepflegt.
Und so sitzen die Alten, und ihr Mund fließt über von allem, was das Herz bewegt. Es ist Abend geworden und der Tag hat sich geneigt. Die Abendsonne wirft durch die Zweige des Apfelbaums goldene Strahlen und erleuchtet ihre Angesichter. Sie sehen beide jugendlich verklärt aus. Sie schauen nicht mehr sehnsüchtig ins irdische Leben hinaus wie vor fünfzig Jahren, nein, ihre Angesichter schauen verlangend nach oben, wo ihnen Gott der Herr bald die ewige Heimat bereiten soll. Und nun stehen sie auf und gehen Hand in Hand nach der alten Linde. Schweigend stehen sie davor und betrachten das dreifach verschlungene ›E‹. Sie gedenken beide der ernsten Worte, die der junge Geistliche damals zu ihnen gesprochen. Jetzt verstehen sie sie in ihrer vollen Bedeutung, sie möchten es Kindern und Enkeln zurufen:
Erbauet euer Glück nicht auf den vergänglichen Gütern dieser Welt, erbauet es auf den Fels, welcher ist Christus. Sammelt euch Schätze, die weder Motten noch Rost fressen, reiset alle der Ewigkeit entgegen.
»Vor fünfzig Jahren standen wir beide am späten Abend auch hier,« sagte Elise zu Lorchen, »Elfriede war nicht dabei, ihr Vater hatte sie schon heimgeholt.«
»Jetzt hat der himmlische Vater sie heimgerufen. Aber sie schaut von oben verklärt zu uns herab,« erwiderte Lorchen bewegt. »Unser Lebensschifflein hat die Fahrt nun auch bald vollendet, wir werden in kurzer Zeit mit Gottes Hilfe in den Hafen der ewigen Ruhe einlaufen.«
»Zur seligen Ewigkeit,« sagte Elise.
Fern vom See her tönt Gesang. »Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?« Wie lieblich klingt es durch den stillen Sommerabend.
»Nein, nein, nein, nein, hier ist sie nicht, die Heimat der Seele ist droben im Licht.«
Lorchen und Elise, die beiden Großmütter, wiederholen leise, sich bewegt ansehend:
»Die Heimat der Seele ist droben im Licht.«