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5. Der Kranken Einfluß
oder: »Suche Jesum und sein Licht«

Tante Auguste stand am Fenster und sah den Mädchen nach. Jetzt waren sie um die Ecke. »Wenn sie schnell gehen, erreichen sie noch den Bahnhof, eh's losgeht,« sagte sie vor sich hin. Schon sauste der Wind in den Blätterkronen, einzelne große Regentropfen fielen zur Erde. Und dann ergoß sich ein gewaltiger Regen, der die durstigen Fluren tränkte und den Staub in den Straßen und auf den Plätzen löschte. Als Auguste an das offenstehende Fenster trat, um dasselbe zu schließen, sah sie eine lange Gestalt ohne Schirm über den Platz laufen. Es war ein junger Mann, der, gewiß vom Regen überrascht, seiner Wohnung zueilen mochte. Sie ging zu Elfriede. Da sie dieselbe schlummernd fand, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Sie stellte sich wieder ans Fenster und sah dem niederströmenden Regen voll banger Besorgnis zu im Gedanken an die jungen Mädchen, die zwar Schirme, aber wenig schützende Kleidungsstücke mit hatten. Was regte sich nur unter der Linde? Auguste sah näher hin, da stand der junge Mann, triefend von oben bis unten. Es war doch zu unvernünftig! Warum hatte er nicht Obdach gesucht in einem der nahen Landhäuser? Schon hatte sie die Haustür aufgerissen.

»Kommen Sie schnell unter Dach und Fach, junger Mann, Sie können sich ja bis zum Tode erkälten,« rief sie.

Die Gestalt näherte sich. Der leichte graue Sommerrock war zum Ausringen naß, der Hut ganz eingeweicht, an den Stiefeln klebten Spuren des lehmigen Erdbodens. »Es ist sehr freundlich von dir, Tante Auguste.«

Auguste stutzte beim Ton der wohlbekannten Stimme. Sie faßte die Gestalt näher ins Auge und rief:

»Du bist es, Otto? Es ist doch nicht möglich, du stehst vor Tante Elfriedens Tür und kommst nicht herein? Bist du denn ein Fremdling geworden? Ist das recht von dir?«

Otto, dem der Regen nicht nur die Kleider eingeweicht hatte, der auch durch die de- und wehmütige Stellung weichmütig geworden war, stotterte verlegen:

»Ich wollte immer schon einmal kommen –«

»Mach mir nichts weiß,« sagte Tante Auguste entschieden. »Wenn du hättest kommen wollen, wärst du nicht erst unter den Baum gelaufen, sondern wärst gleich zur Haustür hereingekommen. Du hast nicht kommen wollen, und nun hast du dich geschämt.«

Jetzt wußte er die Wahrheit und nun war's gut. Auguste hielt nicht hinter dem Berge; die Wahrheit mußte heraus, aber nachtragen war nicht ihre Art. Darum ließ ihre warmherzige Natur ihm nun volle mütterliche Liebe und Fürsorge angedeihen.

Sie ließ ihn in die Stube treten und stieg auf den Boden, wo ein Kleiderschrank ihres verstorbenen Vaters stand. Dort kramte sie lange herum, bis sie endlich fand, was sie suchte. In stolzer Freude kam sie mit einem bequemen Hausrock herunter.

»Es ist doch gut, wenn man für alle Fälle eingerichtet ist,« meinte sie. »Hier hast du einen Rock; der Vater war zwar kleiner als du, aber du mußt nehmen, wie es ist. Da sind ein Paar Schuhe, die du mit den nassen Stiefeln vertauschen kannst. Ich will dir eine Tasse Tee holen, unterdes wechsle die Kleider.«

Als sie mit dem Tee wieder hereinkam, sagte sie lachend: »Es ragt das Übermaß des Leibes weit über Menschliches hinaus.«

»Wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen,« brummte Otto mit erzwungenem Lächeln. Er sah wunderlich aus in dem Röckchen des verstorbenen Hauptmanns, überall war's zu kurz, sonderlich standen die langen Arme in sehr ungleichem Verhältnis zu den Ärmeln, auch machten die Beine durch die Kürze des Rockes einen noch längeren Eindruck als gewöhnlich. Denkt man sich dazu, daß die hohe männliche Gestalt in diesem beschnittenen Anzug auf Filzpantoffeln durch die Stube huschte, so kann man es Tante Auguste nicht verdenken, daß sie ihre scherzhaften Bemerkungen nicht unterdrücken konnte.

»Nichts für ungut, Otto,« sagte sie treuherzig und lud ihn freundlich ein, sich in Vaters Lehnstuhl zu setzen und tüchtig zu essen von dem, was sie aufgetragen hatte. Während er aß, verließ sie mit dem nassen Rock das Zimmer.

Wie wunderbar, daß er heute wider seinen Willen bei den Tanten, die er so vernachlässigt, hatte einkehren müssen! Er war mit seinem Freund Ernst Pflanzen suchen gegangen und hatte nicht im entferntesten an einen Besuch im weißen Häuschen gedacht. Er war in ärgerlicher Stimmung gewesen, weil Ernst ihn beständig wegen des Büchleins geneckt hatte. Deshalb hatte er sich absichtlich im Walde von ihm entfernt, ohne jedoch eine gänzliche Trennung von ihm zu beabsichtigen. Der Wald dehnte sich aber weithin aus, und er, in Gedanken versunken, geriet immer tiefer hinein. Als er einen Ausweg suchte, kam er am verkehrten Ende heraus, nicht in der Nähe des Bahnhofes, den er um fünf Uhr wieder erreichen wollte, sondern am andern Ende der Stadt, wo er, wie gesagt, vom Gewitterregen ereilt ins Haus der Tanten geriet, einige Minuten nachdem die jungen Mädchen dasselbe verlassen hatten.

»Was für ein häßlicher, gottloser Mensch!« Die Worte hatten mehr Eindruck auf ihn gemacht, als er sich zugestehen wollte. Häßlich läßt sich ein junger Mensch nicht gern nennen, doch störte ihn diese Bezeichnung bei seiner großartig angelegten Natur im ganzen weniger. Aber »gottlos«. Er versuchte darüber zu lächeln, doch es ging tiefer, als er glaubte. Es war, als ob jemand ihm einen Stachel ins Gewissen gegeben habe. Es war unvorsichtig gewesen, ein Gespräch im Abteil zu führen, ohne sich vorher umzusehen, ob jemand zugegen sei. Nun konnte er's nicht ändern. Was würde seine Mutter sagen, wenn sie es wüßte, und Tante Elfriede!

Auguste stand an Elfriedens Bett, um ihr von dem neuen Ankömmling zu berichten. »Du bist müde und angegriffen,« meinte sie, »und wirst Lorchens Sohn heute nicht sehen wollen?«

Elfriedens Gesicht strahlte. »Den hat mir unser Herrgott selber ins Haus geschickt,« sagte sie lächelnd. »Er muß auf jeden Fall zu mir kommen.«

»Otto,« begann Auguste, als sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt war, »Tante Elfriede möchte dich gern begrüßen.«

Er rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Es wird wohl kaum Zeit sein. Um 8 Uhr geht der Zug –«

»Jetzt ist es halb sieben. Du hast über eine Stunde Zeit. Du wirst doch die gute, liebe Tante nicht betrüben wollen!«

»Nein, nein,« sagte Otto, »ich gehe zu ihr.«

Er ging, sich seinen unterdes getrockneten Rock anzuziehen, und betrat leise das wohlbekannte, aber lange gemiedene Krankenzimmer.

»Otto, mein lieber Otto, bist du endlich einmal da!« sagte Elfriede, ihm beide Hände entgegenstreckend. »Hast du deine kranke Tante noch ein bißchen lieb?«

Hätte sie ihn mit Vorwürfen überhäuft, so würde sich sein Herz trotzig von ihr gewandt haben, als sie ihn aber so freundlich mit ihren schönen Augen ansah, konnte er nicht anders, als eine liebevolle Antwort geben.

»Otto, was bist du lang geworden! Ich kann ja kaum an dir hinaufsehen. Setze dich und erzähle mir von deiner guten Mutter und von den Geschwistern. Vor allen Dingen aber möchte ich von dir hören. Du bist nun ein stolzer Primaner und verläßt bald die Schule? –«

»Nächste Ostern hoffe ich fertig zu sein!«

»Hast du dich schon zu einem Lebensberuf fest entschlossen?«

Otto wurde verlegen. Er sagte, er sei sich noch nicht klar, ob er Medizin oder Naturwissenschaften studieren sollte, er wolle aber allen Fleiß daran setzen, einst ein berühmter Mann zu werden usw.

Elfriede hatte eine ausgezeichnete Art, mit jungen Leuten zu verkehren. Sie durchfuhr Ottos Pläne nicht in schroffer Weise, sondern sagte, daß es jedem freistehe, sich seinen Lebensberuf zu wählen, daß jeder seine Neigungen und Anlagen berücksichtigen müsse. Wenn sie auch glaube, daß seiner Mutter Lieblingswunsch es sei, ihn denselben Beruf ergreifen zu sehen, in dem sein seliger Vater glücklich gewesen, so werde ihm die Mutter am wenigsten hinderlich sein, wenn er keine Neigung dazu habe. Aber eins müsse sie ihm als treue Tante sagen, daß er zu allem Tun und Vornehmen seines Heilandes bedürfe. Den müsse er mitnehmen in seinen Beruf, wenn er anders wolle, daß derselbe Fortgang und Gedeihen haben solle.

Jetzt trat er gegen Tante Elfriede mit seinen irrigen Anschauungen heraus. Früher habe er auch so gedacht, das seien aber kindische Anschläge, dazu habe man seinen Verstand und seine Vernunft, welche, recht gebraucht, den Menschen zu Glück und Ansehen bringen. Sein Lehrer habe solches auch gesagt, und seine Mitschüler dächten wie er. Es wäre überspannt, wenn man anders dächte, usw.

Tante Elfriede ließ ihn ruhig ausreden. Dann sah sie ihn mit den klaren Augen forschend an, faßte seine Hand und sagte:

»Otto, glaubst du, daß ich es aus eigener Kraft oder durch meine Vernunft und meinen Verstand fertig bringe, hier jahraus jahrein auf meinem Schmerzenslager zu liegen, ohne zu verzagen? Ich glaubte früher auch, es ginge ohne den Heiland, und versuchte mir das Leben angenehm zu machen, fand auch an diesem und jenem große Freude, aber nicht dauernde Befriedigung. Als ich krank wurde und das ganze lange Leben trostlos vor mir lag, überkam mich Elend und Verzweiflung. Ich suchte nach etwas, das mir Ersatz böte für die Gesundheit, etwas, das mir dauernde Befriedigung gewähre, fand es aber nicht. Da kam dein Vater, der Gatte meiner geliebten Freundin. Er hatte schon früher versucht mich auf den aufmerksam zu machen, der allein dem Leben Halt gibt; aber ich hatte weder Zeit noch Lust, darauf zu hören, da die Dinge dieser Welt mir mehr zusagten und mir wichtiger schienen. Ein Verslein aber hinterließ tiefen Eindruck bei mir. Es lautete: ›Suche Jesum und sein Licht, alles andre hilft dir nicht.‹ Dann wies er mich auf Gottes Wort hin als den wahren Lebensquell, an dem die Seele allein gesunden könne. Nun ging mir im Leiden das Leben auf. Seit ich Jesum und sein Licht gefunden habe, bin ich glücklich, ganz glücklich; ich meine, ihr müßt es alle spüren, alles ist verklärt durch ihn. An seiner Lebensquelle trinke ich mich täglich satt und habe volles Genüge. Otto, ich rufe dir heute dasselbe Wort zu, mit dem dein Vater mich für die Ewigkeit gewonnen hat: ›Suche Jesum und sein Licht, alles andre hilft dir nicht.‹ Und wenn du ihn gefunden hast, dann geh ins Leben hinaus, wähle dir einen Beruf, welchen du willst, es wird dir wohl gelingen in allem, was du tust. Glaube mir, wie ich deinem geglaubt habe, und laß dich durch dasselbe Wort ziehen zu dem, der da will, daß wir alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.«

Sie sank erschöpft ins Kissen zurück, und Otto war, wie es schien, ergriffen. Er hatte etwas gehört, was ihm bisher unbekannt war. Sein verstorbener Vater war Ursache gewesen, daß Tante Elfriede das gefunden, was, wie sie sagte, auch in der Not des Lebens fröhlich und getrost macht. Er sah sie an, und gerade jetzt ruhte ihr Blick mit unbeschreiblicher Liebe und Fürsorge auf ihm. Dieser Blick, sowie die eben gesprochenen Worte trafen sein Herz. Er ergriff ihre Hand und sagte: »Ich will über das, was du mir gesagt hast, nachdenken. Nun darf ich dich nicht länger stören, meine Zeit ist um, ich habe heute abend noch zu arbeiten.«

Sie entließ ihn mit den Worten: »Otto, laß deine kranke Tante nicht wieder so lange auf einen Besuch warten, grüße mir die Mutter tausendmal. Gott behüte dich und führe dich seine Wege!«

Als er aus dem Krankenzimmer kam, merkte Auguste, daß es ernst hergegangen war. Er war still und einsilbig. Nur als er an der Tür stand und ihr die Hand zum Abschied reichte, rief er: »Das weiße Häuschen birgt die besten Tanten der Welt. Tante Gustchen, ich komme bald wieder.«

Elfriede aber schloß dankend ihre Hände. Für heute war ihr Tagewerk beendet. Hatte sie umsonst gelebt? Nein, die Arbeit, die sie heute vollbracht hatte, war eine gesegnete, die Samenkörner, die sie in die jungen Herzen ausgestreut hatte, sollten zu ihrer Zeit aufgehen und Früchte tragen. Ihr Leiden war nicht nur ein Stillehalten, nein, sie durfte mitarbeiten im Weinberg des Herrn.


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