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Am andern Morgen eröffnete ihr die Mutter, daß sie mit der Tante reisen solle. Dieselbe sei auf einer Badereise begriffen und wolle an ihr während des Aufenthalts im Seebade eine Gesellschafterin haben. Elli wagte Zweifel zu erheben, ob sie der Tante genügen werde, sie verstehe so wenig und wisse sich nicht zu helfen.
Die Mutter zuckte die Achseln und sagte, sie müßten der Tante zu Willen sein. Leicht sei es nicht, mit ihr auszukommen, aber es schade Elli nichts, wenn sie einmal andere Verhältnisse kennen lerne, zu Hause könne sie nicht immer bleiben.
Elli wußte nicht, sollte sie sich freuen oder traurig sein. Doch welches junge Mädchen liebt nicht die Veränderung? In ein Seebad gehen mit einer reichen Tante, war doch ein verlockender Gedanke. Was würde sie alles erleben! Es war ein Sonnenblick in dem düstern Grau des Alltaglebens.
Die Mutter machte der Tante gegenüber einen stillen und gedrückten Eindruck. Die letztere tat, als habe sie zu befehlen, als sei der Haushalt der ihrige.
»Morgen früh beizeiten geht's fort,« sagte sie zu Elli. »Mache nicht viel Wirtschaft mit Staat und dergleichen, aber alles ordentlich, wenn ich bitten darf. Meine Koffer habe ich schon vorausgeschickt, ich muß mehrere mitnehmen, da ich möglicherweise unterwegs altertümliche Gegenstände erwerben kann. Denke nicht, daß ich zum Vergnügen die Badereise unternehme. Ich habe verschiedene Krankheiten, einige ausgesprochene und mehrere noch nicht ergründete; das Baden soll mich heilen. Deine Aufgabe wird es sein, alle Aufregung von mir fernzuhalten, denn dergleichen verschlimmert meinen Zustand.«
Der Tag verging schnell unter mancherlei Vorbereitung. Abends war Ellis kleiner Koffer gepackt und sie selbst reisefertig. Sie überblickte noch einmal ihr kleines Stübchen, schloß ihr besonders liebe Gegenstände ein und sah dann, ob sich nicht unter ihren Büchern eins oder das andere zum Mitnehmen oder zum Vorlesen für die Tante eignen würde. Da fiel ihr Blick auf das Neue Testament, und plötzlich war es ihr, als hörte sie Tante Elfriedens Stimme: »Vergeßt im Gewirre des Lebens euren Heiland nicht.« Sie griff schnell nach dem Büchlein und steckte es zwischen die Kleider. Tante Elfriede hatte gesagt, Gottes Wort sei die wahre Lebensquelle, aus der man täglich trinken müsse, wenn die Seele nicht verkümmern solle. Wie lange hatte sie dessen nicht bedurft, ja sie hatte nicht einmal Durst danach empfunden!
Der Abschied von der Mutter war kurz, doch schien es Elli, als ob die Umarmung mit größerer Innigkeit als sonst geschehen sei. Lina stand an der Tür und weinte.
»Wenn Sie fortgehen, Fräulein, bleibe ich auch nicht. Sie waren immer gut gegen mich.«
»Ich will dir's geraten haben, daß du noch da bist, wenn ich wiederkomme,« sagte die Tante. »Ich will das Geschenk, das ich dir mitzubringen willens bin, nicht umsonst geschleppt haben.«
Lina, die gleichzeitig eine nicht zu kleine Silbermünze in ihrer Hand fühlte, trocknete schnell mit dem Schürzenzipfel die Tränen und wurde so eifrig und dienstbeflissen, daß sie sogar vergaß, noch einmal in den Spiegel zu sehen, bevor sie auf die Straße ging, um die Sachen in die Droschke zu befördern.
So, nun saßen sie, und fort ging's in die weite Welt. Elli bog noch einmal den Kopf zum Wagenfenster heraus. Da stand ihre Mutter am offenen Fenster und winkte ihr mit der Hand. Sie sah blaß und verweint aus und schien angegriffen zu sein.
Der Regen war vergangen, und ein frischer Wind wehte. Die sechsstündige Bahnfahrt war deshalb nicht so unerträglich, als man gedacht hatte. Die Tante war infolgedessen gesprächig und munter. Wenn ihr alles nach Wunsch ging, war es nicht schwer, mit ihr auszukommen, bei der geringsten Sache aber, die ihr zuwider ging, regte sie sich auf. Widerspruch duldete sie nicht. So kam es, daß sie sich oft mit den Leuten entzweite. Bis jetzt war, wie gesagt, alles nach Wunsch gegangen. Die Bahnfahrt war beendigt, und im Wirtshaus des kleinen Städtchens wartete man auf den Postwagen, der die Gäste in das eine Stunde entfernte Seebad bringen sollte.
Es schien heute großer Andrang zu sein. Der August war ein beliebter Monat, und nach der langen Regenzeit erwartete man einen beständigen Hochsommer. Viele zogen es vor, das Dampfschiff, welches den Fluß abwärts bis zur Mündung fuhr, zu benutzen. Man sah ganze Scharen von Reisenden an den Strand hinunterziehen, gefolgt von Dienstmännern oder Kofferträgern, die das umfangreiche Gepäck der Badegäste beförderten. Wer sich aber vor dem Wasser scheute oder wer den näheren Landweg mehr liebte, bediente sich des Postwagens, der ein Dutzend Menschen zu bergen vermochte, es sei denn, daß einige noch auf dem breiten überdachten Sitz des Kutschers, ihm zur Seite, Raum begehrten. Die etwas starke Tante musterte scharfen Auges die Gesellschaft. Allzu einladend und allzu fein schien dieselbe nicht zu sein. Doch lieber hier etwas gedrängt sitzen, als auf dem Wasser in beständiger Angst zu sein.
»Elli,« flüsterte sie ihrer Großnichte ziemlich laut ins Ohr, »gib acht, daß wir einen hübschen Platz in der Mitte bekommen, ich mag mich nicht nach hinten quetschen lassen, und vorne zieht es.«
Jetzt kommt der alte, ehrwürdige Rumpelkasten angewackelt. Er scheint mit seiner Ruhe noch ganz der alten Zeit anzugehören. Da ist kein Jagen und keine Überstürzung. »Komm' ich heute nicht, komm' ich morgen, nur Geduld, ich nehm' euch alle mit,« scheint er zu sagen. Die Gäule sehen so ruhig und opferfreudig aus; sie wissen es: wenig wird nicht aufgepackt, und das Unmögliche wird möglich gemacht. Der Kutscher, auch einer von der langsamsten Art, knotet nachdem er die Pferde zum Stehen gebracht hat, verschiedene Stricke mit Engelsgeduld auseinander, zieht die Koffer mit äußerster Behaglichkeit auf das Dach des Postwagens und überläßt es den Reisenden, sich nach Belieben einzuschachteln. Diese machen Umstände wegen des Einsteigens, nicht aus Höflichkeit, sondern weil jeder weiß, daß die beiden hintersten Plätze die unbequemsten sind, insofern für die Füße wenig Platz vorhanden ist. Zwei bescheidene Mädchen, anscheinend Schneiderinnen, steigen endlich ein und machen den Anfang. Nun folgen die andern schnell. Die Tante hat mit Elli einen hübschen Mittelplatz erwischt, und bald ist der Wagen gefüllt.
»Ah!« seufzte die Tante, »das wird beklommen. Müssen denn heute auch alle Plätze besetzt sein!«
»Je mehr, desto besser, Madamchen,« lachte der dicke Hauswirt, der mit der kurzen Pfeife im Mund und dem Troddelkäpplein in gestickten Hausschuhen vor der Tür auf und ab ging, um den Wagen und seine Verladung zu beaufsichtigen. »Da kommt noch jemand angedampft,« rief er, »nur ruhig Blut, es ist ja keine Eisenbahn!« Es schnaufte und keuchte heran. In Schweiß gebadet erschien ein weibliches Individuum mit einem umfangreichen Korb. Sie nahm das Tuch, das ihr zum Winken gedient hatte, ein unechtes, dunkelblaues, und wischte sich damit den Schweiß vom Angesicht, dessen hochrote Färbung dadurch eine ins Dunkle spielende Schattierung erhielt. Die umfangreiche Persönlichkeit hatte schwer an ihrem Körper zu tragen. Angstvoll sahen die Reisenden auf das umfangreiche Wesen, welches Miene machte, einzusteigen. »Hier ist alles besetzt, kein Hering geht mehr hinein!« rief eine Stimme.
»Bitte, mir keinen Hering schimpfen zu wollen,« rief die Neuangekommene und schob und drängte dermaßen, daß wirklich noch an der Ecke eine leere Stelle wurde, auf die sie mit aller Wucht niederplatzte, daß der ganze Wagen wackelte.
»Es ist entschieden zu voll,« rief die Tante, »das braucht man sich nicht gefallen zu lassen.«
Der Hauswirt trat an den Postwagen, denn er war der Besitzer, überzählte die Häupter seiner Lieben und sagte: »Alles in Ordnung, zwölf Plätze und zwölf Personen, das stimmt. Manchmal fallen die Reisenden schlanker aus, wie's gerade kommt. Seien Sie nur still, Madamchen, das schüttelt sich auf der Fahrt, wie in einer Schachtel, alles zurecht.« Hiermit schloß er den Kasten und überließ die Reisenden ihrem Schicksal.
Elli hatte so etwas nie erlebt, aber die ganze Sache belustigte sie mehr, während die Tante mit einem außerordentlich mißmutigen Gesicht um sich schaute und die Reisenden musterte. Alle verhielten sich schweigend. Sie wackelten hin und her und nickten und dienerten einander zu, wie es in einer Postkutsche nicht anders ist. Die armen Nähmädchen in der Ecke machten von Zeit zu Zeit Versuche, ihre Füße loszueisen, doch es war unmöglich. Wie einer saß, mußte er sitzen bleiben, bis das ersehnte Ziel der Reise erreicht war. Elli betrachtete mitleidig ihr kleines Gegenüber, ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, die sich schon seit einer Viertelstunde vergeblich bemüht hatte, zu ihrer Kleidertasche zu gelangen, auf die sich ein dicker Bauer gesetzt hatte. »Gebrauch's Taschentuch,« hatte ihre Mutter, die auf der andern Seite saß, ihr schon einigemal zugeflüstert, ohne ihre Bedrängnisse wahrzunehmen, und das arme Kind war zu schüchtern, etwas zu sagen. Die gutherzige Elli konnte die Not nicht länger mit ansehen; entschlossen reichte sie dem Kinde ihr Schnupftuch, welches die Kleine nun so lange und energisch handhabte, daß es Elli fast leid tat, es preisgegeben zu haben.
Sie mochten eine halbe Stunde gefahren sein, da rief die Tante auf einmal: »Es riecht hier nach Käse. Hat jemand unter den Anwesenden etwa Käse bei sich?«
Alles schwieg; man sah sich zum Teil lächelnd, zum Teil erstaunt an, und die Tante konnte, obwohl sie jeden scharf fixierte, den Missetäter nicht ergründen.
»Ich muß aber noch einmal sagen, daß es ganz entsetzlich nach Käse riecht,« rief die Tante empört, »und wenn das nicht nachläßt, komme ich um.«
»Wir wollen doch ein Fenster öffnen,« rief ein feiner junger Mann und machte Anstrengung, seinen rechten Arm frei zu bekommen, um das hinter ihm befindliche Fenster zu öffnen.
»Das zieht,« rief eine Dame mit verbundenem Gesicht. »Sehen Sie denn nicht, daß ich Zahnschmerzen habe. Es wäre doch rücksichtslos sondergleichen.«
»Ich muß aber entschieden bitten, daß derjenige, welcher Käse bei sich führt, den Wagen verläßt; ich bin des Todes, wenn ich das noch länger riechen muß.«
Da erhob sich der junge Mann, und mit den Worten: »Ich bitte die Herrschaften, mir gefälligst Platz machen zu wollen,« drängte er sich bis an die Tür vor, rief dem Kutscher zu, zu halten, und setzte sich zu diesem Biedermann auf den Bock mit den Worten: »So eine Wagenfahrt ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen.«
»Das war also der Käseinhaber,« rief die Tante erstaunt, sich mit kölnischem Wasser besprengend, »dem hätte ich's am wenigsten zugetraut.«
»Darum war er auch so fix mit dem Fensteraufmachen bei der Hand,« sagte die zuletzt Eingestiegene und bückte sich, um den Deckel des Korbes, den sie unter der Bank stehen hatte, fester zuzudrücken. »Na, es ist gut, daß er ausgestiegen ist, es ist doch ein bißchen mehr Platz geworden.«
»Und die Luft ist reiner,« sagte die Tante, die gerade ihr mit kölnischem Wasser getränktes Taschentuch vor der Nase hatte, sonst hätte sie der Wahrheit die Ehre geben müssen und gestehen, daß es immer noch bedeutend nach Käse roch. Doch die Einbildung tut viel, und die Ruhe war somit hergestellt.
Jedes Ding hat sein Ende, so auch diese Wagenfahrt. Elli sah rote Ziegeldächer auftauchen, in der Ferne blinkte Wasser, und Schiffe mit schwellenden Segeln waren zu sehen. Endlich hatten sie Straßenpflaster unter sich, und dann hielt der Postwagen, und die Fahrgäste begannen auszusteigen. Der junge Mann war eilig vom Bock gestiegen und hatte sich vor die Wagentüre gestellt. Als nun die Dicke ihren Korb hervorholte und eben aussteigen wollte, griff er hilfreich zu mit den Worten: »Gestatten Ihre Korpulenz, daß ich Ihnen den Korb mit dem Käse abnehme.«
Die also Angeredete wurde dunkelrot, und mit den Worten: »Hier sorgt jedes für das Seine,« hielt sie den Korb fest, stieg mit einer für ihre Körperanlage bewunderungswürdigen Geschwindigkeit aus und war ebenso schnell um die nächste Ecke verschwunden.
Dann nahm der junge Mann höflich seinen Hut vor der erstaunten Tante ab, und mit den Worten: »Ich empfehle mich Ihnen, gnädige Frau; mein Name ist Körner, mein Beruf Doktor,« war auch er ihren Blicken entschwunden.
»Verkehrte Welt!« brummte die bestürzte Tante, der nichts unerträglicher war, als wenn sie sich geirrt hatte. Daß sie irgend einer Täuschung unterliegen konnte, schien ihr so unmöglich, wie wenn jemand etwas Schwarzes weiß nennen konnte.
Was war das aber für eine balsamische Luft, die sie empfing! Ein frischer Wind wehte von der See her, der nach der beklemmenden Fahrt äußerst wohltuend wirkte. Ellis Munde entstieg ein lautes »O wie schön!«, als sie um die Ecke kamen und das Meer in seiner Weite, heute dunkelgrün schimmernd, mit schaumgekrönten Wellen sich ihren erstaunten Blicken darbot.
»Tantchen, wie danke ich dir, daß du mich mitgenommen hast!« rief sie. »Und hier wollen wir einen ganzen Monat wohnen?« –
»Natürlich,« sagte die Tante, »ich habe mir besonders eine Wohnung in der Vorderreihe bestellt, damit ich das Meer sehen kann. Wir haben nur auf die Verwaltung zu gehen und uns die Adresse der Wohnung geben zu lassen.«
Sie schritten an einer Reihe niedlicher Häuser vorüber, die alle mit verschlossenen Glasverandas versehen waren zum Schutz gegen Regen und Wind. Diese Glaswände konnten bei schönem Wetter leicht zurückgeschoben werden, wenn man den Vollgenuß der Seeluft haben wollte. Heute, bei schönem Wetter, waren sie fast alle geöffnet, und man konnte einen Blick tun in das behagliche Leben der Badegäste. Die häuslichen Sorgen waren abgestreift. Die Väter, der Berufspflichten ledig, hatten alle so wohlwollende Gesichter, und mancher strenge Papa, der zu Hause strafende Miene macht, wenn der Junge ihn bei der Arbeit stört, knüpfte hier mit großer Geduld Drachenschwänze, oder machte Angelhaken zurecht, oder rüstete sich zu einer Bootfahrt. Die Mütter saßen in behaglicher Ruhe und hörten den Töchtern zu, wie sie von der gestrigen Korsofahrt berichteten. Die Mädchen liefen und trugen Abendbrot auf, das in Seekrabben, Brot, Butter und Fleisch bestand.
Die Reisenden, welche teils den Dampfschiffen, teils dem Postwagen entstiegen waren, hatten sich noch nicht diese Baderuhe angeeignet. Sie hasteten und eilten, um noch vor Nacht ein sicheres Unterkommen zu finden. Ein merkwürdiger Gegensatz, diese beiden Gattungen von Menschen. Die, welche festen Grund und Boden unter sich haben, ruhig und glücklich; die, welche noch nicht wissen wohin, hastig und unruhig. Ist's nicht im Christenleben also? Die, welche den festen Grund gefunden haben, der ihren Anker ewig hält, ruhig und getrost, allezeit fröhlich, auch im Leide; die, welche noch nicht die Heimat kennen, wo sie ewig zu Hause sind, unruhig jagend von einem zum andern?
Unsere Reisenden zogen vorüber an all diesen glücklichen Familien. Elli spähte nach jungen Mädchen. Es gab genug. Würde sie wohl eine darunter finden, mit der sie sich näher befreunden könnte, die ihr die gute Anna ersetzen würde?
Nun waren sie an der Verwaltung. Nach einigem Suchen in der Liste wurde der Tante der Bescheid, daß in der Vorderreihe alles besetzt sei und man deshalb in der Hinterreihe eine Wohnung für sie bestellt habe. Die Tante war außer sich und konnte es nicht fassen, wie ihr alles zuwider gehe. Der Beamte sagte ruhig, es sei doch jedenfalls besser als gar kein Unterkommen. Der Andrang sei in diesem Jahr so groß, daß sie froh sein müsse, überhaupt eine Wohnung bekommen zu haben, viele haben wieder abreisen müssen aus Mangel daran. Sie mußte also gute Miene zum bösen Spiele machen und ließ sich von einem Jungen in die angegebene Wohnung führen. Sie mußten lange wandern. Elli hatte Gelegenheit, das Bad in seiner ganzen Ausdehnung kennen zu lernen. Viele geputzte Leute und Kinder gab es, vorzüglich vor dem Kurhaus, wo die Musikanten aufspielten. In der Nähe war ein Karussell, der Kinder höchstes Ergötzen. Endlich waren sie vor dem bezeichneten Hause angelangt; die Tante, die schon über die enge Straße gescholten hatte, musterte dasselbe von oben bis unten.
»Eine hübsche Bude,« meinte sie, »wird beim nächsten Sturm zusammenbrechen. Ja, Elli, die Stürme an der See kennst du noch gar nicht, das ist etwas Schauderhaftes, sage ich dir, da ist schon manches Unglück geschehen.«
Elli, die müde und abgespannt war und sich nach einem Ruheplätzchen sehnte, schrak bei dieser Bemerkung zusammen; da trat eine Frau, die in der Tür des Hauses gestanden hatte, auf die Damen zu und sagte: »Madamchen, unser Haus ist wetterfest, das hat schon manchen Sturm erlebt. Kommen Sie nur herein; Sie sind doch die Gäste, für welche die obern Zimmer gemietet sind?«
»Obere Zimmer?« rief die Tante. »Ich habe doch ausdrücklich geschrieben, ich will unten wohnen. Ich kann die Treppen nicht steigen und will die Treppen nicht steigen. Wofür gibt man denn sein Geld!«
»Für eine hübsche, bequeme Wohnung,« sagte die Wirtin gelassen. »Man sieht auch das Meer von oben.«
Kaum hatte die Tante das gehört, so stieg sie die Treppe ohne Widerrede hinauf, so schnell, daß Elli kaum zu folgen vermochte. Sie betraten ein helles, freundliches Zimmer, das an jeder Seite je eine Kammer hatte, die als Schlafgemach dienen sollte. Die Tante trat ans Fenster. »Nun,« sagte sie spöttisch, »wo ist denn das Meer?«
»Kommen Sie nur in diese Kammer an dies Fensterchen, da können Sie's blitzen sehen.«
»Denken Sie, daß ich mich nachts ans Fenster setze, anstatt zu schlafen? Am Tage können Sie mir unmöglich zumuten, mich in dies Loch von einer Kammer zu setzen. Überdies werde ich hier entschieden nicht schlafen, die schräge Wand bedrückt mich.«
»Aber ich darf hier wohnen,« rief Elli, die schon am Fenster saß und sich an dem Anblick des Meeres erfreute.
»Meinetwegen,« erwiderte die mißmutige Tante. »Wie ist die andere Kammer und wie sind vor allen Dingen die Betten?« Sie sauste hinüber, befühlte die Betten und sagte: »Die Kammer ist größer und hat keine schräge Wand. Aber die Betten sind feucht. Es ist überhaupt in der Wohnung eine dumpfe, moderige Luft, ich möchte geheizt haben.«
Die Wirtin sah die Dame erstaunt an und sagte: »Im August?«
Die Tante überhörte die Bemerkung der Wirtin vollständig und wiederholte noch einmal mit Nachdruck ihre Forderung.
Die Wirtin ging brummend und meinte unten: das müsse ein sonderbares Frauenzimmer sein, vor der müsse man sich in acht nehmen.
Bald erschien die Wirtstochter, ein freundliches, einfaches Mädchen, mit Holz und Torf und heizte den Ofen, während die Tante mit ihren Betten kramte und packte und dem Mädchen Auftrag gab, ihr Gepäck, das als Eilgut auf der Bahn sei, hierher zu befördern. Elli wurde alle Augenblicke hinuntergeschickt, um dies und jenes zu holen; sie tat es mit freundlich-stillem Wesen und versöhnte dadurch die aufgebrachte Wirtin in etwas. Der Abend war höchst ungemütlich. Als die Betten durchwärmt waren, fing die Tante an, mit der Bettstelle in der Kammer herumzukutschieren. Sie stand hier nicht recht und da nicht recht. Dann kamen die Koffer. Der Träger verlangte ihrer Meinung nach zu viel. Als sie sich eine Weile mit ihm herumgestritten und der Mann endlich etwas nachgelassen hatte, gab sie ihm zwei Groschen mehr, zu seinem höchsten Erstaunen. Sie überraschte gern die Menschen. Hatte sie sie erst wütend gemacht, dann verpflichtete sie sie auf einmal zur Dankbarkeit, so daß die Leute gezwungen waren, ihre erregten Gesichter sofort in freundliche umzuwandeln. Da gab es treffliche Mienenspiele, an denen sie sich ergötzte.
Der Wirtin, die mit saurer Miene heraufkam, um noch etwaige Befehle der gnädigen Frau entgegenzunehmen, trat sie mit den Worten entgegen: »Es ist nun alles in Ordnung, und hier haben Sie etwas für Ihre besondere Mühe.« Mit diesen Worten ließ sie ein blankes Silberstück in die Hand der erstaunten Frau gleiten, die alles andere eher als dies erwartet hatte und nun vor lauter Freundlichkeit nicht wußte, was sie beginnen sollte. Endlich knickste sie hinaus mit den besten Wünschen für die erste Nacht. Nachdem Elli der Tante nach Kräften beigestanden, ging sie in ihr Kämmerlein. Sie lag noch lange wach. Sie gedachte der fernen Mutter, und es überkam sie Plötzlich ein Gefühl von Sehnsucht und Liebe nach derselben, und sie nahm sich vor, wenn sie wieder daheim sei, mehr für sie zu leben. Unter diesen Gedanken und unter dem Rauschen des Meeres schlief sie ein.