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Max Reinhardt

Vorwort

Der Titel meines Buches ist falsch und ist richtig. Falsch ist für einen, der dahinter eine systematische Darstellung von Reinhardts Werdegang und Wesen vermutet; falsch auch für einen, der von diesen Aufsätzen einen kleinern oder größern Teil in beliebiger Reihenfolge liest. Richtig muß er für jeden werden, der mir von der ersten bis zur letzten Seite folgt, an den Illustrationen meine Behauptungen kontrolliert und den tabellarischen Anhang nicht als unbeträchtliches Anhängsel übersieht. Dieser gute Leser, den ich mir wünsche, wird ein Bild von Reinhardts Entwicklung und Art erhalten. Für ihn beweise ich, soweit Kritik beweisen kann, an dreißig verschiedenen Aufführungen, daß Reinhardt, wie kein andrer deutscher Theatermann, jedem Drama seinen individuellen Stil, seine besondere Atmosphäre, seine eigene Musik zu geben versucht, und daß und warum es fast niemals an ihm liegt, wenn der Versuch nicht ganz gelingt. Einmal ist die Tatsache der Aufführung löblicher als die Leistung des Spielleiters, der ja nicht immer Reinhardt selbst sein kann. Ein zweites Mal ist die Förderung des Autors verdienstlicher als die Wahl gerade dieses Werkes, die der Dramaturg zu verantworten hat. Ein drittes Mal sind die Intentionen des Regisseurs Reinhardt stärker als die Kräfte seiner Schauspieler, die er selten fertig übernommen, die er irgendwo entdeckt und langsam aufgezogen hat und weiter aufzieht. Aber in der Mehrzahl der dreißig Aufführungen entsteht aus allen Faktoren eine bezwingende Einheit. Von diesen dreißig Aufführungen trachtet die eine Hälfte, die Dramatik der Vergangenheit in die Sprache unsrer Tage zu übersetzen, trachtet die andre Hälfte, in der Dramatik unsrer Tage das Leben und die Kunst zu finden.

Damit knüpft dieses Buch an mein erstes Buch an und stellt einen historischen Zusammenhang her. Das ›Theater der Reichshauptstadt‹ schildert, wie Berlin die erste Theaterstadt Deutschlands wurde. Es erklärt aber auch, warum Berlin, trotz der ungeheuern Arbeit, die es an sein Theaterwesen gewandt hat, bis ins Jahr 1904 zu keinem Theater gelangt ist, das sich ohne Überhebung Deutsches Theater hätte nennen dürfen. Die Leistung eines solchen Theaters müßte, sagte ich, eine Synthese der Leistung von L'Arronge und von Brahm bilden, die beide ein Halbtheater – jener ein vorwiegend ›klassisches‹, dieser ein vorwiegend ›modernes‹ Theater – geführt haben. Das neue Buch, das also nicht ohne Absicht mit dem Jahre 1905 einsetzt, verkündet es als Reinhardts Ruhm, die ersehnte Synthese geschaffen zu haben. Der Anhang zeigt nur, daß er diese Synthese durch die Zahl und die Mannigfaltigkeit der Aufführungen angestrebt hat. Daß er sie durch die Qualität der Aufführungen erreicht hat, begründen die dreißig Kapitel.

Sie sind sämtlich in der ›Schaubühne‹ erschienen; aber sie erscheinen hier nicht so wie dort. Ich bin bei der Auswahl der Dramen nach dem Prinzip vorgegangen, das sich aus der Absicht des Buches und aus seinem Titel von selbst ergab; und ich bin auch bei der Überarbeitung jedes Aufsatzes nach bestimmten Prinzipien vorgegangen. Ich habe allgemeine Betrachtungen übernommen aus (früher oder gleichzeitig oder später von mir geschriebenen) Kritiken, die für das Buch nicht in Betracht kamen; und ich habe Sätze weggelassen, die gerade auf diese für das Buch entbehrlichen Kritiken Bezug hatten. Ich habe ›Aktualitäten‹ ausgeschieden, die heute nicht mehr verständlich wären; und ich habe an sich überflüssige ›Aktualitäten‹ stehen lassen, wenn sie entweder Reinhardts künstlerische oder meine kritische Methode beleuchten. Ich habe einzelne Urteile gemildert, deren schroffe Fassung mir im Augenblick geboten schien, aber einem Buch nicht ziemt; und ich habe auf der andern Seite Urteile wiedergegeben, die der beurteilte Schauspieler durch seine Entwicklung hinfällig gemacht hat, eben weil an ihnen diese Entwicklung ersichtlich wird. Ich habe Wiederholungen entfernt, die in der Zeitschrift durch Monate getrennt waren und deshalb nicht gestört haben; und ich habe Wiederholungen beibehalten, die den Wert von Leitmotiven haben sollten und jetzt erst recht haben. Ich habe einige Änderungen aus gereiftem Stilgefühl und kleine Striche aus den äußerlichsten Raumgründen vorgenommen. Arglose Menschen werden nicht verstehen, warum ich sie mit all diesen unerheblichen Feststellungen behellige. Ich erinnere mich an den Prozeß, den Hermann Bahr anstrengen mußte, als er zum ersten Mal seine Kritiken gesammelt hatte.

Aber noch einmal: ich will dieses Buch nicht als Kritikensammlung betrachtet wissen. Seine Existenzberechtigung muß darin liegen, daß man auf der letzten Seite schließlich doch weiß, wie der Mann beschaffen ist, dessen Name auf der ersten Seite steht. Da stehen freilich zwei Namen, und es wird die unvermeidliche Nebenwirkung der Lektüre sein, daß man auch erfährt, wie der Träger des zweiten Namens beschaffen ist. Der gilt manchen – namentlich solchen, die nie etwas von ihm, hier und da aber über ihn gelesen haben – als ein professioneller Schmähschreiber und ist es, selbstverständlich, nicht. Aber er wäre entweder dieser ›Schmähschreiber‹ oder, was wahrscheinlicher ist, nach kurzer kritischer Tätigkeit aus Verzweiflung Landwirt geworden, wenn Max Reinhardt nicht gewesen wäre. Die beiden haben ungefähr zu gleicher Zeit begonnen, und es wäre der beste Lohn des Kritikers, sich sagen zu können, daß er dem Künstler auch nur ein einziges Mal den Mut zur Fortsetzung seiner Tätigkeit so beflügelt hat, wie der Künstler dem Kritiker unzählige Male. In all den Jahren habe ich als dankbarster Anhänger zu Reinhardt gestanden und glaube mich gerade durch rücksichtslose Aufrichtigkeit jederzeit als den zuverlässigsten Freund seines Werkes bewährt zu haben. Daß diese Aufrichtigkeit auch hier überall fühlbar wird, daß ich vor keinem Fehler die Augen geschlossen und nirgends schönzufärben versucht habe: das erlaubt mir meines Erachtens, zu verlangen, daß mein Buch als eine Charakteristik Reinhardts angesehen und nicht zu einer Verhimmelung herabgewürdigt wird. Es vermerkt jede Spielerei, jede Künstelei, jeden Mangel an Selbstkritik, jede Gefahr, jede Übertreibung. Aber es vermerkt sie allerdings als das, was sie sind: als kleine Schwächen gewaltiger Vorzüge. Ein paar dieser Vorzüge Max Reinhardts sind: seine Wagelust, seine Wandlungsfähigkeit, sein Finderblick, sein feines Ohr, seine Gegenwärtigkeit, seine junge Glut, seine wie von sich selbst berauschte Farbenfreude, sein großer Zug bei aller Sensibilität, seine der Sache treulich hingegebene Energie. Er ist in seinen guten Stunden die Erfüllung dessen, was anspruchsvollste Seelen vom Theater hoffen, und wer ihm wünscht, daß er noch Jahre lang nur gute Stunden haben möge, der wünscht der deutschen Bühne eine Blütezeit.

Im Dezember 1910
S. J.


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