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Alles wiederholt sich nur im Leben. Reinhardts Aufführung von ›Romeo und Julia‹ scheint in vielen Punkten der Aufführung zu ähneln, die Ludwig Tieck, der größte deutsche Theaterkritiker des neunzehnten Jahrhunderts, im Jahre 1824 auf der dresdner Hofbühne gesehen und in einem langen und inhaltreichen Brief an Raumer beschrieben hat.
»Man hat den gewagten Versuch gemacht, so viel als möglich vom Original beizubehalten.« Auch Reinhardt hat diesen Versuch gemacht. Einmal die Probe vom Gegenteil. Der häufig zuviel streicht, hat diesmal fast gar nichts gestrichen. Es fragt sich, ob damit die ungeheure Abgespanntheit, mit der man seine Vorstellung verläßt, im Kausalzusammenhang steht, oder ob das Liebespaar nur mehr Größe, mehr Glut und mehr Glanz zu haben brauchte, um alle diese Szenen und Szenchen erträglich zu machen. Mir scheint, das Liebespaar ist schuld. Wäre es, wie es sein müßte, so wären diese Szenen und Szenchen geradezu notwendig, um uns nach und vor den tragischen Erlebnissen immer wieder zu uns selbst kommen zu lassen. Hier, wo die volle Gewalt menschlichen Schmerzes ausbleibt, wird der Wert solcher Vollständigkeit zweifelhaft. Darum vermißt auch niemand die einzige bekanntere Szene, die, bei Reinhardt wie bei Tieck, weggefallen ist: das Auftreten Peters mit den Musikanten, die, nach Julias Scheinselbstmord und dem Lamento ihrer Angehörigen, die Gemüter beruhigen sollen. Von diesem Lamento selbst wird kein Jota geschenkt. Der Phantasie bleibt nichts übrig. Das ist ja überhaupt die Gefahr für einen Regisseur, der so hartnäckig und erfolgreich in eine Dichtung dringt, wie Reinhardt, und sie so klar legt, wie er. Tieck mag es wieder sagen: »Alle mechanische Anordnung entwickelte sich deutlich, alle Figuren bewegten sich verständig und abgemessen durcheinander, keiner verdrängte oder verdunkelte den andern, nichts blieb unbedeutend oder im Schatten.« Damit ist deutlich genug ausgesprochen, wovor Reinhardt sich zu hüten hat. Denn es kann kein Lob für eine Aufführung von zwanzig Personen sein, wenn keine die andre verdrängt oder verdunkelt. Daß es so ist, bezeugt vernehmlicher die allgemeine Menschenliebe eines Regisseurs als seine Distanz zum Kunstwerk. Entweder – oder. Hier sind achtzehn Menschen, von denen zwei sich leuchtend abheben. Tun sie das nicht vermöge ihrer eigenen Leuchtkraft, so sollte man nicht noch ausdrücklich trachten, die andern achtzehn ins hellste Licht zu rücken und in diesem Licht auf die Höhe ihrer Leistungsfähigkeit zu treiben. Das ist die Schiefheit dieser Aufführung: daß im Verona der Montecchi und Capuletti der Zauber der Stadt und das alltägliche wie das festtägliche Leben der feindlichen Geschlechter, ihrer Sippschaft und ihrer Dienerschaft stärker fesselt als das Glück und das Unglück Julias und ihres Romeos.
Das Beiwerk, wichtiges wie unwichtiges, ist großenteils wundervoll, ohne an sich überladen zu sein. »Mir ist gewiß das Schauspiel bekannt, wie irgend wem, aber durch die Aufführung selbst hat mein Auge doch noch manches entdeckt, meinem Sinn ist manches in frischerer Kraft aufgegangen, was ich zum Teil übersehen, zum Teil nicht so lebendig gefühlt hatte.« Zwei farbig belebte Straßen des händelreichen Veronas öffnen den Blick in Tiefen und auf Gärten, von denen einer Capulets Garten ist. So schön war dieser Garten nie. Hierher mag oft und gern die allzu turbulent behauste Julia ihr junges Seelchen retten. Drinnen geht es unablässig treppauf und treppab – vom Untergeschoß ins Erdgeschoß und noch eine Anzahl Stufen höher; von rechts nach links; von hinten nach vorn. Es entsteht das lebensvolle Bild eines italischen Adelshauses von Reichtum und üppigster Gastfreundschaft. Der Vater weiß sich was. Herr Schildkraut träfe ihn, in seiner Mischung von Jähzorn und Gutmütigkeit, noch überzeugender, wenn er seines Dichters Worte behielte und seiner Mutter Sprache vergäße. Sein Neffe Tybalt hat nur die jache Wut von ihm geerbt. Herr von Winterstein sieht, mit seiner wilden schwarzen Mähne, zum mindesten verheißend aus. Er ficht und tötet und fällt selbst in einem Auftritt, in dem hier die ganze erschreckende Roheit der Zeit hochsteigt und überschäumt. Das Hauptverdienst an der Wucht und der Kulturglaubhaftigkeit dieses Kampfes hat Paul Wegeners Mercutio, dem vorher die Ader für die Phantastik der Fee Mab gefehlt hatte, der aber keine Mannestugend, nicht das Maul und nicht den Mut, schuldig bleibt. Es gehört zu den Vorzügen der Reinhardtschen Inszenierung, daß diese Katastrophe vom Anfang des dritten Aktes an den Schluß des zweiten gesetzt ist und so den entscheidenden Einschnitt in das Schicksal der Liebenden stärker vertieft. Des guten Lorenzo prophetisches Gemüt hat die trübe Wendung ja geahnt, als er die beiden trauen soll: So stürmische Freude nimmt ein stürmisch Ende. Zunächst aber ist die Freude stürmisch und ihr Anblick köstlich. Sechsunddreißig schnelle Zeilen hat diese Szene. Sie ist aus Lorenzos Zelle in seinen sonnigen Garten verlegt und jagt wie ein Wirbelwind vorüber, ohne daß eine Silbe, ein Blick, eine Regung verloren ginge. Lorenzo steht warnend und ermahnend mitten inne. »Bruder Lorenzo ist wohl nächst den beiden Hauptfiguren die schwerste Aufgabe des Stückes.« Vor diese Aufgabe war hier der beste Künstler gestellt. Das allzu menschliche Kräutermönchlein ist bei Hans Pagay gar kein Mönch, sondern nichts als ein Mensch. Sein grader Gegenpol ist Frau Mangel, der in komischen Rollen alles Menschliche fremd und fremder wird. »Die Amme ist wegen der Leichtigkeit zu loben, daß sie nicht scharf akzentuierte, wodurch diese Rolle leicht unangenehm und anstößig werden könnte.« Damit hat es Tieck also besser gehabt als wir. Frau Mangel hat zu wenig ursprüngliche Komik und sucht es darum durch die Maske, im umfassenden Sinne des Wortes, zu zwingen. Dieses mehr dumm als schändlich kupplerische Weib ist wirklich die verkörperte Gemeinheit. Frau Wangel erläßt uns nichts. Sie akzentuiert so scharf, daß die Rolle mehr als unangenehm, daß sie eine Nervenfolter wird. Sie steht beherrschend im Mittelpunkt, die Amme im Mittelpunkt von ›Romeo und Julia‹.
»Ich sprach von zu eigensinnigen Forderungen mancher Zuschauer. Es gibt solche, die man lieber ungereimte nennen sollte; zum Beispiel die, welche jetzt durch ganz Deutschland ertönt, daß eine Schauspielerin, welche junge Rollen spielt, auch selbst jung, wenn irgend möglich nicht älter, als es das Stück besagt, sein müsse. So möchte man also immer die Kinder, sowie sie entwöhnt werden, zu Liebhaberinnen bilden, damit in aller Kraft und notwendiger langer Übung eine vierzehnjährige Julia uns bezauberte.« Fräulein Camilla Eibenschütz, Wedekinds holdselig herbe Wendla, ist gewiß die jüngste Julia, die wir noch gesehen haben; aber sie hat uns nicht bezaubert. »Ei, Du bleichsüchtig Ding!« schreit Vater Capulet im Zorn sein Mädchen an. Diese Julia würde er auch zärtlich so nennen. Sie ist blaßblaublond. Das ist kein Hindernis, so lange sie Kind, so lange sie Mädchen ist. Ihre Liebe erwacht so echt und innig, daß man der Italienerin nicht nachfragt. Aber für den zweiten Teil muß man wohl entweder reifer oder südländischer sein. Hier kommt Fräulein Eibenschütz nicht mehr mit ihrem Gefühl oder nur noch nicht mit dem künstlerischen Ausdruck ihres Gefühls mit. Da soll und muß die Regie helfen. Ich sehe und höre Reinhardt in jedem Augenblick. Wie Julia entsetzt umfährt und an eine Wand sinkt, wie sie versteinert und wie sie verzweifelt ins Leere starrt, wie sie sich aufs Ruhebett streckt und keine Ruhe findet, wie sie hinfällt und wie sie wehschreit: das alles erfolgt wie auf ein heimliches Kommando und hat deshalb nicht die Kraft, zu erschüttern und hinzureißen.
»Romeos Gemüt ist viel finsterer als das der Julia.« Herr Moissi würde neben jeder Julia finster wirken; neben Fräulein Eibenschütz tut er es erst recht. Er ist viel selbständiger als seine Partnerin und interessiert darum länger und tiefer. Ein unbändig ungebärdiger, äußerlich blutig junger, inwendig frühgereifter Knabe, der mehr zum Leiden als zum Lieben geboren ist. Seine Schwermut um Rosalinde geht vorüber und steckt doch beinah an. Seine Liebe zu Julia dauert übers Grab und zündet dennoch nicht. Es ist menschlich verständlich, daß die Schauspieler sich jeden Vergleich verbitten, der zu ihren Ungunsten ausfällt. Aber da Kritiken nur ausnahmsweise geschrieben werden, um den Theaterleuten Freude oder Schmerz zu bereiten, wird man sich dieses kritischen Kunstmittels nicht entschlagen, wo es künstlerische Wirkungen erklären kann. Warum wehte es schon nach den ersten Szenen des glücklichen Liebhabers Romeo kühl zu Herrn Moissi herauf und machte ihm die Arbeit noch saurer? Weil im ganzen Hause keiner war, der nicht den Namen Kainz auf den Lippen hatte. Als Romeo ein Kind und ein Jüngling, ein Herz und ein Held, ein Prinz und ein Stück Renaissance. Was willst du armer Teufel geben! schien zu Herrn Moissi mancher, fast jeder zu sagen, der nicht genauer hinsah. Das ist freilich kein Amoroso der blendenden Gaben, der glitzernden Rede und der geschmeidig anmutreichen Glieder. Dieser Romeo schleicht mit eingeknickten Beinen umher, hebt zaghaft die Arme, dreht, wie schüchtern bittend, in halber Höhe die Hände um und spricht aus melancholisch wehem Mund dazu. Wenn über diesen Romeo, nach dem Unglück, das Glück der Liebe kommt, verändert es ihm das Tempo der Gelenke und der Zunge, aber es verändert ihm nicht das Klima der Seele. Er springt, er schleudert sich, er klimmt und klettert, er jauchzt und schwört und tut nach Kräften alles, was sich in derlei Angelegenheiten tun läßt. Innerlich bleibt er Orest. Ein unerlöster Mensch. Wie von Erinnyen umweht bei der verhängnisvollen Tötung Tybalts. Ganz hingegeben seinem Freund Lorenzo, der ihn vielleicht erretten kann. Lautlos zerschmettert bei der Kunde von Julias Ende. Schlicht gefaßt zu sterben beim Zweikampf mit Graf Paris. In den zwei Schlußbildern ist um diesen Romeo ein Hauch von Hoheit, der ihm bis dahin ferngeblieben ist.
Die Erinnerung an Moissis Romeo wird sich an diesen Schluß und ein paar andre Szenen heften, in denen Julia nicht wichtig oder gar nicht war. Darin spiegelt sich allerdings die ganze Fragwürdigkeit dieser mit solcher Mühe vorbereiteten Vorstellung, aus der man schließlich auch den Romeo herausbrechen könnte, ohne ihr wesentlichen Schaden zuzufügen. Der Weg war falsch. Wenn man ›Romeo und Julia‹ geben will, komponiert man nicht in ein wunderschönes Bild der Stadt Verona einen Romeo und eine Julia hinein, sondern wartet, bis man einen Schauspieler und eine Schauspielerin hat, die, jeder für sich und in Beziehung zueinander, für dieses Paar wie auserlesen sind; und wenn man sie nicht findet (nicht eine deutsche Bühne hat sie heute), dann soll man die Tragödie gar nicht geben. Tut man es trotzdem, so wird man nicht den Eindruck eines großen Kunsterlebnisses, sondern nur den Eindruck eines gewaltigen Stückes Arbeit erzielen, einer Arbeit, der jeder Dank und jede Anerkennung sicher ist. Mehr nicht. Die Liebe ist der Liebe Preis, und wer dem Drama der Liebe die höchste und tiefste Liebe zweier gottgetrauter Menschen vorenthält, vorenthalten muß, darf sich nicht wundern, daß ihm nicht heißer gelohnt wird.