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Das mag, das muß von vornherein gesagt werden: Das ›Wintermärchen‹ ist zu drei Vierteln tot und in diesen Teilen von keinem Reinhardt lebendig zu machen. Wir – das ist kein pluralis majestatis – haben uns öfter gelangweilt, als uns lieb war, und wie der lärmende, aber nicht warme, nicht starke Beifall keiner menschlichen Ergriffenheit entsprang, so kann auch die kritische Betrachtung in der Hauptsache nur für die Überwindung artistischer Schwierigkeiten danken. Leontes und Hermione sind uns nicht ein bischen interessanter, aber die Bühnengeschichte des ›Wintermärchens‹ ist um ein Kapitel reicher geworden.
Reinhardts Aufführung unterscheidet sich fundamental von allen frühern Aufführungen. Das Problem lag von jeher in den Anachronismen und in dem meerbespülten Böhmen. Dingelstedt half uns und sich, indem er die stärksten Anachronismen ausmerzte, Böhmen in Arkadien verwandelte, die Handlung ins Altertum verlegte und das Ganze in ein phantastisch antikes Gewand steckte. Die Meininger wählten eine bestimmte Epoche der Renaissance, die sie pedantisch innehielten. Dadurch mußten die gleichgültigen Anachronismen der Dichtung als Widersprüche der Ausstattung auffallen. Wenn die Aussicht vom Palast des Leontes die Trümmer von Taormina zeigte, so wurde das delphische Orakel noch unglaubwürdiger, weil es längst abgeschafft war, als die sizilische Stadt in Trümmer fiel. Auf alle Fälle aber wurde von und nach den Meiningern ein fabelhafter Prunk entfaltet. Damit hat Reinhardt endgültig gebrochen. Er stellt auf der rechten und auf der linken Seite je zwei hohe viereckige dunkelgrüne Türme auf und zieht entweder vom ersten zum ersten Turm einen hellgrünen oder vom zweiten zum zweiten Turm einen dunkelgrünen Vorhang: ein kleines Zimmer, ein großes Zimmer. In der Gerichtsszene wird einfach vom zweiten zum zweiten Turm im Halbkreis ein heller Himmel gespannt, von dem sich eine schwarze Mauer abhebt: vor der Mauer sitzt oder steht – es ist in der Dunkelheit nicht zu sehen – in mehreren Reihen das Volk und begleitet in einem melodisch gehobenen, rhythmisch eingeteilten unisono, was rechts und links von ihnen König und Königin miteinander auszumachen haben. Wenn nur die beiden uns etwas angingen! Aber verblendeter Herrscher, hoheitsvolle Dulderin und gar nichts weiter – es ist zu wenig. Hora ruit. Ohne mit Perditas Aussetzung und Auffindung und einem leibhaftigen Bären behelligt worden zu sein, sind wir in Böhmen. Sieh, es lacht die Au, wie sie nie göttlicher gelacht hat. Auf diesem einzigen Fleck Natur wird uns keiner von den vorgeschriebenen Rüpeltänzen, aber manches kluge und liebgewordene Wort zwischen Florizel, Polyxenes und Perdita geschenkt. Es sollte umgekehrt sein. Denn es stellt sich heraus, daß auch von dem Humor des ›Wintermärchens‹ vieles schal geworden ist. Nicht einmal Humperdincks ergötzliche Kirmeßmusik, für die das Orchester zu stark besetzt ist, kann auf die Dauer entschädigen, und man ist froh, endlich zu der Schlußszene zu kommen, die freilich zum ersten Mal nicht wie eine Farce, sondern fast wie ein Gottesdienst gewirkt hat. Wie da Bild, Dichtung, Musik und eine schlichte und gefühldurchtränkte Schauspielkunst ineinandergriffen: das machte einen weihevollen Eindruck.
Diese ganze Inszenierung müßte eine weit ausführlichere Würdigung erfahren, wenn anzunehmen wäre, daß sie das Stück unsrer Bühne erobert hat. Ich glaube nicht, daß das überhaupt noch möglich ist. Darum kann ich mich auch nicht sonderlich für und gegen das erhitzen, was an der Aufführung gut und schlecht gewesen ist. Unsre Schauspieler haben andre Aufgaben. Wenn Herr Kayßler nach einem glücklich angelegten ersten Akt erlahmte, so wird das seinen Grund darin haben, daß jeder Kontakt mit dem Publikum ausblieb, daß es ihm bald noch aussichtsloser erschien, den kranken König durch ein psychologisch anspruchsvolles Tragieren als durch ein vornehm resigniertes Deklamieren zu erklären. Trotz dieser Aussichtslosigkeit könnte das Tempo der ersten beiden Akte wesentlich beschleunigt werden. Mit Hermione wurde ein ähnlicher Versuch unternommen wie mit Leontes. Die Königin ist ein Leidensbild, bei dem man bisher immer das Bild betonte. Itzt zur Statue entgeistert! Die Sorma hat entschlossen den Ton auf das Leiden gelegt und doch erst am Schluß, als das Leiden vorüber ist, tiefer ergriffen als die Statuarischen. Ihre Tochter war Fräulein Höflich, und damit ist gesagt, daß Perdita, unbeschadet ihrer Holdseligkeit, mehr Naturkind als Prinzessin schien. Ihr Florizel aber war weder ein Prinz noch der Naturbursch, als der Herr Ekert uns schon häufig wert gewesen ist; er hatte diesmal offensichtlich keine Freude an der Sache. Sein Vater Polyxenes war der einzige Mann bei Hofe, der nicht störte. Wer da sonst noch alles deklamierte und agierte, wird von dem kleinsten Mimen unsers Schauspielhauses nach beiden Richtungen hin übertroffen. Am schlimmsten trieb es Herr Antigonus. An der Frau Antigonus der Frau Mangel war nichts so sehr zu loben wie die seltene Entsagung, mit der sie sich nach sechzehn Jahren ihren Scheitel weiß färbte. Um im übrigen Verstand und besonnene Wärme, liebende Besorgnis für eine beschimpfte Herrin und Weiberstolz vor Königsthronen zur Geltung zu bringen, ist weniger nötig, als Frau Mangel kann; um alles das vollständig auszuschöpfen, mehr. Hora ruit. Nicht ohne durch ein geziertes und gezerrtes Prologisieren der ›Zeit‹ behelligt worden zu sein, sind wir in Böhmen, und Autolykus tritt aus einer verdächtig südöstlichen Gegend auf. Dovidl Autolykus, könnte man sagen. Das Überraschende macht Glück, und Herr Schildkraut hat manchen durch die Unverhohlenheit seines Jargons und die Unverfrorenheit seiner Mätzchen überrumpelt und vergessen lassen, daß die Figur das Charakterbild eines fast philosophisch überlegenen Gauners gibt. Man muß sie als ein Ganzes sehen. Daß das möglich ist, und daß man trotzdem unvergleichlich komischer sein kann als Herr Schildkraut, hat unser Vollmer, hat, in einigem Abstand von ihm, auch Bassermann bewiesen. Herr Schildkraut mag es mitverschuldet haben, daß das so lustig einsetzende Schafschurfest schließlich ermüdete. Im Rahmen dieser Vorstellung übte die herbste Kritik an seiner Art ein Pärchen wie Fräulein Kupfer und namentlich Herr Waßmann, die die Bescheidenheit der Natur nicht um ein Haar verletzten.
Man sieht: im ganzen ist es mit der Schauspielkunst am Deutschen Theater noch immer nicht zum besten bestellt. Es fehlen die Protagonisten: ein Tragöde und ein Humorist, der Ersatz für Georg Engels. Das ist die alte Lücke, die die Aufführung des ›Wintermärchens‹ wieder sichtbar gemacht hat, und die auszufüllen Reinhardt gar nicht ernstlich genug bestrebt sein kann.