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Ich lass' dich nicht, du segnetest mich denn! mag, wie Jakob vor dem Engel des Herrn, der Regisseur Max Reinhardt vor Shakespeares ›Hamlet‹ gerufen haben. Du mußt es dreimal sagen! scheint, wie Mephisto dem Faust, Shakespeare dem Reinhardt erwidert zu haben. Reinhardt hat es dreimal gesagt. Mit der wundervollen Ungenügsamkeit, die er vor seinen eigenen Leistungen empfindet, und die der Adelszug seiner Künstlerschaft ist, hat er gerungen und gerungen und gerungen, das Problem zu lösen. Beim dritten Male hat der Engel ihn gesegnet. Genie ist eben auch zu einem Teile Fleiß. Ein so genialer Fleiß verdient sich jeden Dank; und wenn Hamlet darauf rechnet, vom dankbaren Horatio der Nachwelt erklärt zu werden, so ist es für mich getreuen Horatio des Theatermanns Max Reinhardt keine weniger ehrenvolle Aufgabe, seine drei ›Hamlets‹ schon der Mitwelt zu erklären.
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Den ersten ›Hamlet‹ gab es, am siebzehnten Juni 1909, im Münchener Künstlertheater. Reinhardt in München – das hieß für ihn nicht: sich und seine Kunstauffassung den theaterfremden, ja theaterfeindlichen Grundsätzen der sogenannten Reliefbühne anzupassen, sondern das hieß für ihn: dieses Brett von der Länge und Tiefe eines mäßigen Hängebodens als ein notwendiges Übel hinzunehmen und im übrigen genau so er selber zu bleiben, wie wenn er plötzlich gezwungen würde, das Deutsche Theater mit der Gelegenheitsbühne der Berliner Ressource oder der Tonhallen zu vertauschen. Die Ungunst des Raums konnte die Absicht nicht verändern: den ›Hamlet‹ wieder einmal wie am ersten Tage zu erfassen; ihn mit Augen zu sehen, die sich weder von Tradition noch von Konvention hatten trüben lassen; ihm einen Geist, eine Seele und einen Körper zu schenken, die den Menschen unsrer Zeit bereicherten, ohne Shakespeare zu verfälschen und zu verkleinern. Eine Wahl gab es höchstens zwischen den verschiedenen Wegen, auf denen diesem Ziele zuzustreben war. Da keine Drehbühne mit ihren Vorteilen zur Verfügung stand, hätte es nahe gelegen, Beerbohm Trees Dekorationslosigkeit zugunsten eines möglichst vollständigen Textes und eines möglichst beschwingten Tempos auszunutzen. Aber nur das Zimmer bei Polonius wurde aus jenen einfarbigen Vorhängen gebildet, die bei Tree den Thronsaal und das Gemach der Königin und die Terrasse von Helsingör vorstellten. Alle diese und die andern Räumlichkeiten mußten von Reinhardt immer wieder mühsam auf- und abgebaut werden. Für die Wirkung des Dramas zu langsam, für die Genußsucht des Auges zu schnell verschwanden kostbare Schauplätze, die ihre Beglaubigung nicht in ihrer handgreiflichen Wirklichkeit und praktischen Verwendbarkeit, sondern in der farbenfreudigen und doch nicht farbenlauten Phantasie ihres Ersinners hatten. Aus stillen Tönen, aus rosa und grauweiß und seegrün und altgold und aus den zartesten Abstufungen von rot und blau entstand eine Atmosphäre der Bedrücktheit, des Nebels, der Vieldeutigkeit, in die Hamlets düsterer Mantel, die gewohnte Tracht von ernstem Schwarz einen Ruhepunkt brachte, ohne sie abzuschwächen. Es entstand aber auch, bei aller Enge, durch die geschickte Ausbeutung jeder Möglichkeit – wie einstmals bei Maeterlincks ›Aglavaine und Selysette‹ – das Bild eines weitverzweigten, unheimlichen, alten Schlosses, in dem es um die Spükezeit der Nacht immerhin das gespenstigste Hin und Her geben mochte. Die Mittel waren einfach genug. Um es bei dem Hängeboden zu belassen, so führte von diesem Hängeboden eine vielgebrauchte Treppe in den berühmten oder berüchtigten mystischen Abgrund der Reliefbühne und regte die Einbildung an, sich auszumalen, zwar nicht, daß es da unten fürchterlich sei, wohl aber was für unbestimmte und unkontrollierbare Dinge sich da abspielen könnten. Ein zweites Mittel war eine Galerie im Schlosse, von der sich ein Ausschnitt zeigte, ohne daß architektonisch verständlich wurde, von wo sie ausging, und wo sie mündete. Auf diesem neutralen Boden erschien Ophelia, bevor sie in ein Kloster geschickt wurde, und hier stand unversehens Hamlet, wenn der König im Vordergrund betete. Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft! Auf diesen sechs Metern Holz mußten es Ahnungen machen, und da man hinter der mächtig hohen Kirchhofsmauer nichts sah, so sah man das ganze Dänemark dahinter.
Das Wort war nicht allzu arg geschmälert worden. Der vierte Akt war auf die herkömmliche Weise zusammengestrichen; aber ernstlich vermißt wurde doch nur die Begegnung Hamlets mit dem Hauptmann des Fortinbras. Was in allen übrigen Szenen Reinhardt für sein Teil getan hatte, war eine Erneuerungsarbeit hohen Ranges. Die Verstaubtheit, die Schmuddligkeit und die Verschwommenheit, in der ganze Theatergenerationen es sich bequem gemacht hatten, schien von diesen Szenen genommen. Sie waren bis in den letzten Winkel reingefegt und blankgekehrt und blitzten, daß es eine Freude war. Wo hätte jemals (um ein besonders auffallendes Beispiel herauszugreifen) der Auftritt der Schauspieler und ihre Komödie vor dem König eine solche Plastik gehabt! Herr Kühne als zweiter Schauspieler stand vor Hamlet und spielte dann als roter Intrigant vor dem Hofe seinen Lucianus, daß eine ganze Richtung der Schauspielkunst lebendig wurde. Dabei war besonders fein, wie sich nur das Mitglied der englischen Wandertruppe, nicht das Mitglied des Deutschen Theaters vordrängte. Wenn Herr Hartau den kunstvollen Überschwang seiner Pyrrhusrede gleichfalls ausschließlich als Charakterisierungsmittel des mittelalterlichen Kollegen und nicht als eigenes Ausdrucksmittel aufgefaßt wissen wollte, so war er nicht minder lobenswert. Jedenfalls schien es für manche andern Kräfte des Reinhardtschen Personals nötiger als für diese beiden, Hamlets Belehrung anzuhören und zu befolgen; und man mußte sich zahlreiche Gestaltungen von der Saftigkeit des Schildkrautschen Totengräbers und der Herzhaftigkeit des Wintersteinschen Horatio um so eher wünschen, als Moissi sich in der zweiten Hälfte der Tragödie doch nicht mehr stark genug zeigte, um den Glanz und die Fülle und damit den Stachel ebenbürtiger Partner entbehren zu können.
Dieser Hamlet setzte mit einem solchen Nachdruck ein, daß ihm zu tun fast nichts mehr übrig blieb. Er wäre vollkommen gewesen, wenn er nach der Erscheinung des Geistes oder nach dem Schauspiel oder allerspätestens nach dem Gebet den König hätte niederstoßen dürfen. So ungebärdig und so primitiv, von einer so prachtvollen Wildheit des Blutes war er. Nur daß damit die Gestalt von ihrem geistigen Umfang und ihrer seelischen Tiefe verlor. Aber selbstverständlich fehlte ihr bei dieser Auffassung auch jede Schmachtlappigkeit, jenes Geseufz beklemmten Odems, das nach schlechtem Brauch Hamlets Tatenscheu charakterisiert. Das Hauptmerkmal des Moissischen Hamlet war nicht Schwermut, sondern Trotz, in den Monologen ein bitterer Trotz, der sich selbst marterte, in den Duetten und Ensembleszenen ein leidenschaftlicher Trotz, der mit geballten Fäusten um sich schlug, aber ins Leere oder an falscher Stelle traf. Schön war die abwehrende Reinheit, die dieser Hamlet sich in dem eklen Treiben dieser Welt bewahrt hatte, die empfindliche Schamhaftigkeit, die sich mit Ironien zu panzern weiß. Leider reichte das alles nicht aus. Streckenweise täuschten die betörenden Künste dieser strahlenden, vollen, feierlichen, aber auch aufs behutsamste differenzierenden Stimme Shakespearesche Weltweite vor. Noch leichter hatte es das Bild dieses schmalen, geschmeidigen, flackeräugigen, lymphatischen Jünglings, uns zu bestechen. Wenn mans am Ende aber recht bedachte, wars weniger Hamlet als Don Carlos. Wer von Moissi mehr erwartet hatte und die Hoffnung nicht begraben wollte, der mochte immerhin auf den Effekt zahlreicher ausgleichender, abrundender, vertiefender Spielabende, also auf das Wiedersehen in Berlin rechnen.
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Dort gab es, am sechzehnten Oktober 1909, den zweiten ›Hamlet‹ im Deutschen Theater. Der Eindruck war teils schwächer, teils stärker als in München. Die Drehbühne verringerte die Dauer des Abends um eine volle Stunde und ermöglichte Hamlets Begegnung mit dem Hauptmann des Fortinbras. Das Bild der Tragödie floß nicht mehr auseinander, sondern wurde durch diese Schnelligkeit so scharf konturiert, wie es nötig war, um auf der geräumigen Bühne des Deutschen Theaters für die heimlich-unheimliche Wirkung der engen Reliefbühne halbwegs einen Ersatz zu schaffen. In einer idealen Welt, die genialen Theaterdirektoren zum Dank unbegrenzte Reichtümer böte, hätte Reinhardt um des einen Vorteils willen nicht auf den zweiten zu verzichten brauchen, hätte er die Stimmung der Bedrücktheit, des Nebels, der Vieldeutigkeit, die sich in München einstellte, auf der ganz anders gearteten berliner Bühne mit ganz anders gearteten dekorativen Mitteln hervorrufen können. So aber mußte er, um Geld und, was dasselbe ist, um Zeit zu sparen, die einmal hergestellte und bewährte Inszenierung mit geringen, rein räumlichen Veränderungen übernehmen. Wo eine Wand zu niedrig oder nicht lang genug war, wurde ein Stück angesetzt. Ratsamer wäre es vielleicht gewesen, nicht blos die Geschwindigkeit der Drehbühne, sondern auch die Verkürzungen ihrer Segmente auszunutzen, also die Größenverhältnisse der Münchner Dekorationen und Vorhänge entweder unangetastet zu lassen oder sie eher zu verkleinern und auf diese Weise Interieurs von der gespenstigen Dumpfheit etwa des Faustzimmers zu bauen. Selbst in der Beschränkung der paar Quadratmeter des Künstlertheaters hatte Reinhardt sich als ein Meister gezeigt. Im Genuß der lang entbehrten Freiheit verlor er zwar nicht seine Meisterschaft, wohl aber den sichern Überblick über die Dehnbarkeit seines szenischen Materials. Als unverlierbar dagegen erwiesen sich auch unter den neuen Bedingungen die Errungenschaften einer innern Regie, die nie ein andres Ziel gekannt hat, als die Gesichte des Dichters in die schärfste, eindringlichste, gegenwartnächste Form zu fangen, und die dem ›Hamlet‹ nicht minder als den leichtern Shakespeareschen Dramen gewachsen gewesen wäre, wenn es blos auf ihren eigenen willigen Geist und nicht zugleich auf das schwache Fleisch von Schauspielern angekommen wäre.
Das war zu einem Teil genau so schwach geblieben wie in München. Die Königin hatte wieder gar keine Physiognomie und ein sehr hohles Pathos. Ophelia versteht jede unzüchtige Anspielung des Prinzen und verschließt in ihrem Köpfchen wollüstige Bilder, die der Wahnsinn ans Tageslicht bringt; also ist nichts falscher, als diese Gestalt von blaublümeligen Sentimentalen verschöneln zu lassen. Der Bruderschmerz des Laertes hätte wenigstens in unserm Ohr voll Empfindung tönen müssen, tönte aber nicht nur im Ohr des eifersüchtigen Hamlet voll Emphase; und auch Fortinbras schwelgte in einem pastosen Singsang. Der Polonius des Herrn Arnold dagegen, der schon in München nach Möglichkeit die theaterübliche Komik des wunderlichen alten Herrn zugunsten eines schlicht-einfältigen Menschenkindes zurückgedrängt hatte, war seitdem sichtlich gewachsen. Er behauptete sich jetzt neben dem wahrhaft ehrlichen Gespenst des Herrn Diegelmann, der mehr Wert auf die Vergegenwärtigung seiner Schmerzen als auf irgend welche Gespenstigkeit legte, und, in einiger Entfernung, sogar neben Paul Wegeners König, der inzwischen den gleißenden Ton, die unsichere Geste und die süßliche Miene gefunden hatte, um den heuchlerischen Schurken glaubhaft zu machen, ohne ihn deshalb aller menschlichen Regungen zu entkleiden. Damit war die Gestalt des Claudius, vielleicht zum ersten Mal, bewältigt. Wie Wegener vor der delirierenden Ophelia schuldbewußt und ergriffen in sich versank: das war für mich der schauspielerische Höhepunkt des Abends.
Shakespeares Tragödie aber heißt: Hamlet. Hamlet war wieder Moissi oder war es eben nicht. Der Effekt jener zahlreichen Spielabende, auf die man gerechnet hatte, war ausgeblieben. Sie hatten unserm Hamlet nur die erste Unbefangenheit genommen. Sogar der Reiz des äußern Bildes war verblaßt. Auf einem ephebenhaften, ausreichend suggestiven Körper schien eine Art Totenkopf zu sitzen, in dessen fahlen Zügen die unablässige Arbeit dieses lebendigsten Geistes teils erstarrte, teils grimassierte. Aus seinem Mund drang meistens ein Geschrei, mit dem Hamlet vielleicht sein Gewissen zu betäuben gedachte, mit dem aber blos Moissi unser Ohr ermüdete. Was ihn gleichwohl noch jetzt vor andern Hamlets auszeichnete, waren Unterlassungen. Er jaulte nicht; und er spiegelte in den Monologen eine Weltweisheit, die man ihm doch nicht geglaubt hätte, gar nicht erst vor, sondern ließ diese Monologe mit einer gewissen Einfachheit aus der Situation entstehen. Es ergab nur einen Viertelhamlet. Man vergaß ihn über den immer wieder erstaunlichen Regisseur Reinhardt. Aber letzten Endes blieb man hier selbst vor der Kunst dieses Regisseurs kalt. Der Beweis war erbracht, daß ›Hamlet‹ ohne Hamlet nicht möglich ist. Eher noch war Hamlet ohne ›Hamlet‹ möglich. Dafür war ein halbes Jahr vorher der Beweis erbracht worden: da war man erschüttert und erbaut aus einer Aufführung gegangen, deren provinziale Mittelmäßigkeit man über Kainzens Hamlet vergessen hatte.
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Kainzens Hamlet: das war die Vollkommenheit. Hier hatte nicht ein Schauspieler der Gegenwart einen Dramenhelden der Vergangenheit seiner zufälligen, zeitverhafteten Existenz angepaßt, was im übrigen gar nicht weiter tadelnswert gewesen wäre; sondern hier hatte eine Vermählung zwischen einer zeitlos großen Dramatik und einem, wenn auch nicht zeitlosen, so doch zeitlos großen Schauspieler stattgefunden und eine Gestalt hervorgebracht, die man, mit unpedantischer Übersetzung des Wortes, ›novantik‹ nennen konnte. Ein Wunderspiel erregbarster Nerven in einer Form von klassischer Geschlossenheit. Dabei war leichter zu sagen, was Kainz alles unterließ, als was er tat. Wenn man ihn sah und hörte, hatte man überhaupt den Eindruck, daß er nichts zu tun brauchte. Dieser Eindruck war sicher trügerisch; aber er beweist, mit welchem Erfolg aus einer hingebenden Arbeit jede Spur von Arbeit getilgt war. Sonst hat Hamlet Mühe, Opheliens Beschreibung nicht Lügen zu strafen. Hinter diesem hier blieb die Beschreibung weit zurück. Des Hofmanns Auge? Das wäre ohnehin nicht viel gewesen. Dieses glühende, fragende, bohrende Auge drang auf den Grund der Dinge und schauderte vor ihnen zurück, verschleierte sich schwermütig beim Anblick menschlicher Gemeinheit und brach, ohne das Rätsel seines unbefriedigten Erdendaseins für sich selber, aber nicht ohne es für uns gelöst zu haben. In diesem Hamletischen Auge lag der ganze Hamlet, und dieser Hamlet – das war: ein Adelsmensch, der sich in die dumpfige Atmosphäre praktischer Interessen verbannt und sich ihr nach seiner sensitiven Konstitution nicht gewachsen fühlte; ein Philosoph, dessen Aufgabe es geworden war, nach der Herkunft, dem innern Zusammenhang und der Tragweite aller Regungen und Handlungen zu forschen, und der über seinen Grübeleien tatenunfroh und tatenunfähig wurde. Er zauderte nicht aus Feigheit und nicht aus Schwachheit, sondern aus Gedankenfülle, und es gehört zu den Unbeschreiblichkeiten der Schauspielkunst, wie Kainz diese Gedankenfülle bewältigte. Man stand vor seinem Reichtum um so verblüffter, als man sich nicht einmal imstande fühlte, ihn völlig aufzunehmen, geschweige denn begriff, wie ihn ein Sterblicher in sich haben und in solcher Farbenpracht von sich geben konnte. Hätte dieser Hamlet nur des Gelehrten Zunge gehabt, die Ophelia ihm zuspricht, so würden wir erfahren haben, was er denkt, und vielleicht auch, wie er denkt. Gervinus oder Karl Werder oder gar Hermann Türck auf der Bühne. Dies hier nun war nicht einer, der den Hamlet als Genie spielte, sondern, was mehr ist, einer, der den Hamlet genial spielte. Er hatte die göttliche Gabe, das Shakespearesche Versgewand übersichtlich vor uns auszubreiten und es zugleich in so schönem Faltenwurf um sich zu breiten, daß Hamlet stets in seiner vollen Zier vor uns stand. Die göttliche Gabe des Gehirns und die göttliche Gabe der Stimme. Kainzens Stimme erklärte und gestaltete in einem. Was war das aber auch für eine Stimme – was für ein unvergleichlich biegsames, volltönendes, wärmendes, fortreißendes, was für ein beglückendes Instrument! Diese Stimme war dunkelverhängt in der Klage um den Vater; heißblütig zürnend in der Selbstanstachlung; voll mühsam versteckten Hohns vor dem verhaßten Stiefvater; schamhaft erzitternd in der Szene mit der Mutter; männlich-gerade gegen Horatio; von mitleidiger Souveränität über den närrischen Polonius; hoffnungsvoll beschwingt beim Empfang der Schauspieler und unnachahmlich geistreich bei ihrer Unterweisung; angeekelt durch das Geschmeiß der Rosenkranz und Güldenstern; weisheitsschwer resigniert auf dem Kirchhof; in aller geheuchelten Härte von keuscher Innigkeit zur lieblichen Ophelia; funkelnd und schmetternd und stürmisch ritterlich im Kampfe mit Laertes. Hamlet hat ja, immer nach Ophelien, auch des Kriegers Arm, und es war Kainzens eigenstes Geheimnis, wie er es fertig bekam, dem Prinzen alle heldischen Tugenden einer feurigen Jugend zu geben, ohne unsern Glauben an seine feminine Tatenscheu im mindesten zu erschüttern. Er erfüllte damit freilich nur eine von den Forderungen der Rolle; aber es ist diejenige, an der die meisten Schauspieler, entweder aus Temperament oder aus Anämie, scheitern. Hamlet, der sich immer irgendwie zu verstellen hat, muß eben auch in diesem Punkte scheinen können, was er nicht ist. Wenn er von der, die ihn vermöge ihrer Liebe kennt, der Sitte Spiegel und der Bildung Muster genannt wird, so ist das zugleich im Sinne einer höfischen Repräsentation zu verstehen, deren Opfer selbst dann Haltung zu wahren weiß, wenn es am liebsten zusammensinken möchte. »Doch brich, mein Herz, denn schweigen muß mein Mund.« Kainz wahrte seine Haltung in allen Lebenslagen mit herrlicher Würde, mit königlicher Überlegenheit. Mehr noch, aus diesem Zwang zog sein Hamlet die feinste Essenz: das Lachen der Verzweiflung, den Humor des Galgens. Diese gepeinigte, zerschundene, mißbrauchte Seele hatte als letzte Zuflucht eine stille fatalistische Heiterkeit des Gemüts, vor der der Tod seinen Stachel, die Hölle ihren Sieg verlor. Über seinen Hintritt lächelte und weinte man zugleich. Es war die Vollkommenheit … An diesem Hamlet wäre auch Reinhardts ›Hamlet‹ zur Vollkommenheit gediehen. Also durfte Reinhardt nicht ablassen, einen Hamlet ähnlichen Ranges zu suchen. Er hatte es zweimal gesagt – er mußte es zum dritten Male sagen.
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Diesen dritten ›Hamlet‹ hat es am vierundzwanzigsten November 1910 gegeben. Du sollst mich hören stärker beschwören! mag Reinhardt selbst sich dabei zugerufen haben. Er hat weder Zeit noch Geld gespart und mit den Reminiszenzen an die Münchner Aufführung endgültig gebrochen. Er hat völlig frische Arbeit getan und Beerbohm Trees Prinzip konsequent durchgeführt. Mit diesem Prinzip hatte das Deutsche Theater uns schon in den ersten und den letzten Szenen seines ›Wintermärchens‹ vertraut gemacht. Nur der Landschaft glaubte es damals doch ihren spezifischen Charakter wahren zu müssen: Böhmen blieb, in welcher künstlerischen Stilisierung immer, Böhmen. Jetzt appelliert man überall an unsern innern Sinn. Der Raum ist wunderbar neutralisiert. Über die volle Breite der Bühne ziehen sich drei Stufen, die auf ein Podium führen. Das ist fast alles. »Seht ihr die Wolke dort beinah in Gestalt eines Kamels?« »Beim Himmel, sie sieht auch wirklich aus wie ein Kamel.« »Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel.« »Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel.« »Oder wie ein Walfisch.« »Ganz wie ein Walfisch.« Genau so willig sehen wir diesen unverändert gleichen oder – durch ein paar Versatzstücke und durch die Farbe und den losern oder festern Faltenwurf des abschließenden Vorhangs – unwesentlich veränderten Raum, je nach Befehl des Dichters, für den Thronsaal oder für ein Zimmer der Königin oder des Königs oder Ophelias oder Hamlets oder – für die Terrasse von Helsingör an. Ja, auch dafür. Das Podium ist dann einfach durch eine Mauer begrenzt, über der die Sterne stehen, gegen die das Meer schlägt, und an der der Geist des alten Hamlet entlanggleitet. Im fünften Akt ist vor dieselbe Mauer ein altertümliches Steinbild gesetzt, und das bedeutet, daß wir auf dem Kirchhof sind. Die Wirkung ist immer groß und schön, und es ist, durch die Schnelligkeit des Szenenwechsels, dafür gesorgt, daß sie sich nicht verflüchtigt. Bisher hatten selbst bei Benutzung der Drehscheibe die Verwandlungen zu viel Zeit weggenommen. Zudem war ein einzelnes Segment dieser Drehscheibe häufig unzureichend gewesen. Jetzt hat Reinhardt, nach dem Muster der alten münchner Shakespearebühne, das Orchester und die ersten drei Parkettreihen annektiert und sich damit eine riesenhafte Bühne geschaffen, auf der es, wenn sie in ihrer ganzen Riesenhaftigkeit benutzt wird, von vorn nach hinten Bewegungen von mächtiger Schwungweite gibt, auf der aber auch bald vorn, bald hinten gespielt werden kann. Vor einem violetten Zwischenvorhang nimmt Laertes von Polonius Abschied. Der Vorhang hebt sich, und wir sind im Thronsaal. Ein dunkelgrüner Vorhang senkt sich, und der König kommt und betet. Dann hebt sich dieser Vorhang wieder, und durch einen roten Vorhang, der im Hintergrunde hängt, tritt Hamlet in das Zimmer seiner Mutter. Das alles wäre ohne Vorderbühne nicht gut möglich. Aber die Vorderbühne führt auch in die Tiefe, und aus dieser Tiefe tauchen die Personen auf, in diese Tiefe verschwinden sie selbst dann, wenn die Seitengänge zu bevorzugen wären. Da wird noch ein Ausgleich gefunden werden müssen. Das System an sich ist überaus fruchtbar. Nie hat man sich als Zuschauer mit Himmel und Wasser, mit den bekannten und den unbekannten Mächten inniger verbunden gefühlt, als vor der Unendlichkeit dieser nächtigen Terrasse. Nie ist die Schauspielszene zu stärkerer Geltung gekommen als hier, wo sie uns förmlich auf den Leib rückt. Nie ist von dem gewaltigen Schluß eine ähnliche Weihe ausgegangen. Es war einmal keine Zerstörung der ›Illusion‹, es war wie die natürliche Krönung der Vorstellung, daß ein hingerissenes und erschüttertes Publikum für diese Apotheose des toten Hamlet mit einer Apotheose des lebenden Reinhardt dankte.
Davon gebührte, selbstverständlich, kein geringer Teil dem Hamlet Bassermanns. Denn das wissen wir nun ja wohl, daß auch beim dritten Male Reinhardts ganze aufopfernde Arbeit unfruchtbar geblieben wäre, wenn nicht endlich im Mittelpunkt des ›Hamlet‹ beherrschend Hamlet gestanden hätte. Infolgedessen würde das Gesamtbild fälschen, wer jetzt wieder untersuchte, wie weit Umbesetzungen den Nebenfiguren genützt oder geschadet haben. Die werden durchaus in zweiter und dritter Reihe gehalten. Man sieht und hört, wie es sein muß, Hamlet selbst in den Szenen, denen seine Körperlichkeit fehlt. Dazu muß sich diese Körperlichkeit im ersten Augenblick für immer eingeprägt haben. Der Vorhang geht über der zweiten Szene auf, und man weiß sofort: Bassermann hat das Format, das Hamlet braucht, den Zug ins Großartige. Er sitzt nicht – schon das ist charakteristisch – sondern steht am Thron, und was seinen blonden Kopf und seine Schultern niederbeugt, ist weniger Traurigkeit als Groll, was aus seiner rauhen Stimme spricht, ist weniger Melancholie als Leidenschaft, was sich aus ihm entwickeln wird, ist weniger Kontemplation als Aktion. Es darf nur nicht die Aktion sein, die mit dem geflickten Lumpenkönig gleich am Anfang fertig würde. Bassermanns Leidenschaft ist geistig gefärbt, aber sie wird auch durch Geist gehemmt. Dieser Hamlet liegt im Kampf mit einer schlechten Mitwelt, mit der seine kriegerische Natur sicherlich wenig Federlesens machen würde, wenn diese Natur nicht zugleich im Kampf mit sich selbst läge. Ich glaube nur bei mittelmäßigen Schauspielern an eine sogenannte Auffassung, und ich will nicht etwa sagen, daß Bassermann sich und uns über seinen Hamlet Rechenschaft geben könnte. Dazu ist Hamlet zu reich und Bassermann glücklicherweise nicht intellektuell genug. Er gehorcht einfach den Befehlen seiner Physis. Hätte er Schmelz in der Kehle, so wäre sein Hamlet wahrscheinlich weich und wehmütig. So aber ist er wild und zerrissen, eruptiv und doch gebrochen. Die Erscheinung des Vaters regt ihn furchtbar auf, wühlt ihn um und um. Er schlägt lang hin und tastet wie im Krampf nach einem Halt. Was man sieht, könnte auch eine andre Dichtergestalt sein. Was man hört, ist nur Hamlet. Das Stakkato, in dem diese Stimme Entsetzen äußert, ist bezeichnend für ein Gehirn, das zwischen zwei schauerlichen Sinneseindrücken immer wieder Zeit zur Reflexion, zur Skepsis und zur Selbstkontrolle findet. Dann beginnt Hamlets eigentlicher Leidensweg, und man weiß bei Bassermann nicht, was man mehr bewundern soll: die Beschwingtheit, mit der er alle Höhepunkte der Rolle nimmt, oder die Geschmeidigkeit, mit der er in alle ihre Schlupfwinkel dringt. Eins ohne das andre wäre nirgends so wertlos wie beim Hamlet. Bewundern wir also beides, und bewundern wir vor allem die Vereinigung. Bassermann hat nicht die Durchsichtigkeit jener Nervenschauspieler, die Gedankenprozesse gar nicht auszuführen brauchen, weil sie bei ihnen klar zutage liegen. Er ist wuchtig und schwerblütig. Aber seine – an Ibsen geschulte – Art, die Rede auseinanderzufalten, ist wahrhaft erleuchtend. Seine Betonungen sind psychologische Informationen, und seine mimischen Einfälle, die sich an der Situation entzünden, schaffen für jede dieser Situationen eine besondere Luftschicht. Wie köstlich überlegen übt sich sein Sarkasmus an dem Hofgelichter! Mit welcher zarten Gütigkeit behandelt er die Komödianten! Wie fieberhaft zuckt es auf seinem zermarterten bleichen Gesicht, und wie bitter klingt die Hoffnungslosigkeit seines Lebens in allen Zwiegesprächen mit Ophelien! Wie schwer fällt ihm die Grausamkeit, zu der die bloße Liebe zwingt! Wie mephistophelisch funkelt seine Bosheit gegen Claudius! Wie kindlich rein freut er sich an Horatio! Mit welcher Größe sieht er ein, daß nichts so wichtig ist, wie: in Bereitschaft sein! Es ist eine mühelose Vielfältigkeit in dieser Gestalt, und es wäre absurd, gerade das von ihr zu verlangen, was Bassermann seinem Wesen nach gar nicht geben kann: Grazilität, Feminismus, Verträumtheit, Jenseitigkeit. Hamlet wird meist in Moll gespielt: das ist einer in Dur. Moll hin, Dur her! Nicht auf die Tonart, sondern auf die Ganzheit und Einheit kommt es an. Hier ist ein ganzer und einheitlicher Hamlet der Mittelpunkt eines ganzen und einheitlichen ›Hamlet‹, und das bedeutet, daß ein Gipfel der Theaterkunst erreicht ist, wie er nur alle Jubeljahre einmal erreicht wird.