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Vom Schlosse Etelvar bis zum Fürstenhause (so wurde der Wohnsitz des Fürsten genannt) rechnete man – mit guten Pferden – anderthalbe Wegestunden.
Raphaela war mit sich selber und dem Gelingen ihres Planes wohl zufrieden. Es war ihr nämlich gelungen, Bruder Napoleon ein Schnippchen zu schlagen. Dieser verwegene junge Mann hatte daran zu denken gewagt, im Traume ihr zu begegnen. Und das Land der Träume ist ein gar wundersames Reich. Dort befehlen nicht Diejenigen, die mächtig sind. – Aber wie gesagt, es war gelungen, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Mag er allein träumen, von wem es ihm beliebt; erwidert wird sein Traum nicht. Welche Kühnheit! Allerdings sind noch die gefährlichen anderthalb Stunden übrig; von drei bis gegen fünf Uhr Morgens pflegt man im Fürstenhause noch immer zu träumen; auch pflegt es wohl zu geschehen, daß man nicht im Stande ist, die Augen offen zu halten, wenn man sich nach einer durchwachten Nacht in den Wagen setzt. Doch da ist ja Madame Corysande. Die Erlebnisse der vergangenen Nacht, der Anblick der ringsum erwachenden Natur werden so vielen Gesprächsstoff liefern, daß es ein Leichtes sein wird, dabei wach zu bleiben.
Der Weg zog sich zwischen den ebenen Tafeln einer Weizenflur von etwa tausend Jochen hin. Ein herrlicher grüner Teppich, mit keiner Kornblume, keiner Klatschrose befleckt, – reiner Weizen, in fruchtbarem Boden gesäet. Die Saat schießt eben in die Aehren; an allen Blättern und die rauhen Hülsen der Aehren entlang funkeln die Billionen der Thau- und Regentropfen. Eben taucht die Sonne am Horizont empor, von dem wogenden Aehrenmeere strahlt ihr Widerschein und in demselben folgt dem flüchtigen Schatten der Reisenden eine Lichtsäule nach, der Regenbogen, der sich über den glitzernden Halmen bildet.
»Sehen Sie doch, Prinzessin, die Gloriole, die den Schatten Ihres Kopfes umglänzt,« sagte Madame Corysande.
»Ich sehe das Lichtnetz, welches sich um den Schatten meines Kopfes webt; was Sie sehen, das ist der Lichtschein, der sich um Ihren Schatten bildet. Jedermann sieht seinen eigenen Regenbogen. Das ist das Phänomen, welches die Sonnenstrahlen immer bieten, wenn sie sich an bethauten Kornähren brechen.«
»Ah, Prinzessin sind auch eine Naturkundige!« seufzte Madame Corysande mit Bedauern.
Raphaela vermochte sich eines Lächelns nicht zu erwehren. »Sie sind der Naturwissenschaften wohl sehr überdrüssig geworden?«
»Ich habe eine Antipathie dagegen, Prinzessin. Meine Seele erhält der Glaube aufrecht. Ich glaube so gerne an Wunder, an das Uebernatürliche; jedes erklärte, von der Naturwissenschaft auf ihre materiellen bewegenden Kräfte zurückgeführte Wunder erregt mir ein Gefühl so schmerzlicher Ernüchterung, als ob mich Jemand getäuscht hätte, den ich treu geliebt habe. Die Naturwissenschaft dient zu Nichts weiter, als die Menschen ungläubig zu machen. Und was taugt es denn schließlich, die tiefverborgenen Geheimnisse der Natur zu ergründen? Ist die Heilkunde dadurch auch nur um eine Haaresbreite gefördert worden, daß die Chirurgie so beträchtliche Fortschritte gemacht hat? Ich mag von den Aerzten nur denjenigen leiden, der mit Magnetismus kurirt, und glaube an die Heilkraft der Sympathiemittel.« Die gute Madame Corysande war mit gewaltsam zurückgedrängten Gedanken dermaßen geladen, daß sie von der ersten Gelegenheit, die sich ihr bot, dem Strome ihrer Rede freien Lauf zu lassen, in vollstem Umfange Gebrauch machte; so daß Raphaela in Kürze glücklich darüber einschlief.
Kaum hatte aber Raphaela die Augen geschlossen, so entführte die wunderthätige Fee der Träume sie auch schon zu Bruder Napoleon. Wie sie zu ihm gelangt war, blieb ihr unklar. Es war ihr, als ob sie ein Bild, in einen Rahmen gefaßt, wäre, welches auf sein Flehen und seine Seufzer zu ihr lebendig wurde. Bruder Napoleon war ein berühmter Publizist geworden, dessen Werke allgemeines Aufsehen erregten. Und es war, als ob ihm die Grundideen zu allen diesen Werken diese Schutzheilige in die Seele flüsterte. Man fragte mit Staunen, von wannen ihm solche Inspirationen kommen? Woher? Von der Schutzheiligen. Raphaela hat das Bewußtsein, daß sie diese Schutzheilige sei, und zürnt sich selber, daß sie es ist. Und der Jüngling schreitet fort; er wird Volksvertreter. Die Schutzheilige sitzt nunmehr dort auf der Galerie des Abgeordnetenhauses und lauscht der Wundergewalt der Reden, welche dieser Jüngling im Saale hält. Wer leiht ihm doch so herrliche Worte? Wer erweckt in ihm diese hohe Auffassung, diese wahrhaftige Begeisterung? Die Schutzheilige. Raphaela möchte die Galerie verlassen, aber sie vermag es nicht, sie ist bezaubert. Und nun verschwindet der Schutzbefohlene, Niemand weiß, was aus ihm geworden ist – die Schutzheilige allein weiß es. Sie liest die Briefe, welche er aus fernen Landen nach der Heimat sendet; dunkle, inhaltschwere Briefe, voll mit Staatsgeheimnissen von unermeßlicher Tragweite; sie weiß die geheimnißvolle Zeichenschrift zu entziffern, sie weiß, welch ein großes Werk ihm anvertraut ist. Und das Werk gelingt. Belohnung und Auszeichnung warten des Heimkehrenden; Orden funkeln auf seiner Brust, Würden und Aemter werden ihm zu Theil. Wer hat ihm all das gegeben? Die Schutzheilige. Sie ist es, die ihn höher und immer höher führt, bis auf die Spitze der hohen Pyramide. Die Grafen-, die Fürstenkrone, unermeßliche Reichthümer werden sein; er nimmt Theil an der Regierungsgewalt. Die Schutzheilige läßt ihn auch hier noch immer nicht ruhen. Hinan, immer hinan, bis zur Spitze der Pyramide! Und was steht dort oben, auf der höchsten Höhe der Pyramide? Ein Sarg. Und in dem Sarge ruht eine schöne, todte Jungfrau im glänzenden Gewande, und Raphaela erkennt in der gestorbenen Jungfrau sich selber. Und der Schutzbefohlene tritt an den Sarg heran und weint über demselben. Die Träumende ist sich bewußt, daß sie träume; ja sie vermag sich sogar darauf zu besinnen, daß der Traum auch eine Deutung hat: Wenn ein Mädchen sich selber gestorben sieht, so bedeutet das den Brautstand! Und im Aerger darüber, daß sie all das träume, ziehen sich ihre Augenbrauen zusammen und auf ihrer Stirne perlt der helle Schweiß.
Und die schöne Prinzessin treibt sich doch so ganz ohne Grund die Schweißperlen auf diese Alabasterstirne: Bruder Napoleon erwartet sie nicht im Traume; er ist bereits wach und promenirt in der Kastanien-Allee des Fürstenhauses. Unter der Baumreihe hüben er, unter jener drüben Livia. Derselbe Gedanke hatte die Beiden ohne Verabredung hierher zusammengeführt. »Sie gehen der Prinzessin entgegen, Fräulein Livia?«
»Ja wohl. Sie ebenfalls?«
»Es ist leicht ihre Rückkehr vorhinein zu berechnen. Um drei Uhr geht man in Etelvar zu Bette; um diese Stunde war die Prinzessin aufgebrochen und ist sonach jetzt bereits hier in der Nähe.«
»Ich habe ebenso gerechnet.«
»Sehen Sie: wir hatten einen und denselben Gedanken. Haben Sie heute Nacht das schwere Ungewitter gehört?«
»Nein; ich habe nichts gehört. Ich habe einen sehr tiefen Schlaf.«
»Die ganze Natur ist nach dem Gewitter wie neu geboren.«
»Und heute verspricht ein sehr schöner, heiterer Tag zu werden.«
Die aufgehende Sonne erschien genau über dem Ende der geradezu gelegten Allee und funkelte die Reihen der prächtigen, durchweg gleichen Kastanienbäume wie einen goldenen Korridor entlang; die Fenster des im Hintergrunde sichtbaren Schlosses flammten im Morgenroth. Diese lange Allee durchschneidet in gerader, eine halbe Meile langer Linie den herrlichen Park und der Blick schweifte ungehindert von einem Ende derselben bis zum andern. »Eine solche Morgenpromenade ist überaus angenehm,« bemerkte Bruder Napoleon.
»Ich bin gewohnt, der Prinzessin entgegenzugehen, so oft sie von Etelvar nachhause kommt.«
»Erlauben Sie mir, mit Ihnen zu gehen?«
»Wie es Ihnen beliebt.«
Sie waren an einen Nebenweg gelangt, der von der geraden Allee nach dem Wildpark abzweigt. »Welchen Weg sollen wir nun nehmen?« fragte Napoleon Fräulein Livia.
»Welchen wählen Sie?«
»Ich denke, die Prinzessin wird auf dem Nebenwege kommen.«
Die beiden Spaziergänger schlugen also den Nebenweg ein. Hier gab es keine regelmäßigen Baumreihen mehr, welche ihren Weg getrennt haben würden; das hundertfenstrige Schloß hinter ihnen, die in alle Räume lugende Sonne vor ihnen waren verschwunden; die Linden, die den Weg zu beiden Seiten säumten, schlossen sich über ihnen zu einem bergenden Gewölbe. Leon schloß sich näher an Livia an und reichte ihr den Arm. Livia schmiegte sich sanft an ihn und nahm den gebotenen Arm. Und nun blieb Leon stehen, drückte mit der Linken die Hand, die auf seinem Arme ruhte und fragte das Mädchen: »Ach! Glaubst Du noch an mich?«
»So lange ich Athem und Leben habe,« antwortete das Mädchen.
»Kennst Du mich noch?«
»Ich kenne Dich allein.«
»Trägst Du noch meinen Ring an Deinem Finger?«
Das Mädchen streifte den Handschuh ab und wies ihm an ihrem Finger einen unscheinbaren Platinareifen, den man füglich für Silber hätte halten können.
Und Leon drückte den kleinen rosigen Finger mit dem weißen Ringe an die Lippen und bedeckte ihn mit Küssen und flüsterte zwischen den leisen Küssen: »Du meine Heilige – Du meine Freude und meine Betrübniß. Meine Hoffnung und meine Besorgniß. Du einziges Ziel meines Lebens! Wirf diesen Ring nicht von Dir, ich bitte Dich. Ich bin Jedermanns Narr – zum Scherz; Dir nur bin ich es in der That, denn bei Dir habe ich meinen Verstand hinterlegt. Du hast bisher viel Uebles von mir gehört, Du wirst auch in Hinkunft dessen mehr als genug hören. Man wird Dir sagen, ich sei ungetreu gegen Alles und Alle, ich täusche Jedermann, ich treibe ein loses Spiel mit Allem und Jedem, was mir anvertraut ward, mit dem Banner des Volkes, mit dem Wappen des Landes, mit der Krone des Königs, mit dem Hirtenstabe des Priesters, mit den Denkmälern der Abgeschiedenen, mit den Herzen der Liebenden. Es ist vielleicht wahr, vielleicht auch nicht. Diesem einen Heiligthume aber, diesem Deinem Trauring, will ich nimmer und nimmer lügen. Willst Du mir das glauben?«
»Ich glaube Dir Alles, Leon. Und ich sage Dir hinwieder: Wenn man mir alle Heiligthümer, alle Schätze der Welt zum Tausche böte für diesen Deinen Ring, – ich gäbe ihn nimmer und nimmer hin.«
In Leons Augen glänzten Thränen, Perlen, die nie ein anderes Auge in den seinen funkeln sah, als Gottes, wenn er einsam, und dieses Mädchens Auge, wenn er mit ihr beisammen war.
»Ich bin gekommen, Dich um einen Rath zu bitten. Nimm meinen Arm und höre, was ich Dir zu sagen habe und dann wähle, nach welcher Richtung ich gehen soll? Auch ich stehe in diesem Augenblick an einem Scheidewege.«
Das junge Paar ging Arm in Arm unter den lauschigen Linden dahin. Nicht die Prinzessin, schön wie eine Fee und stolz gleich einer solchen, war Leons Schutzheilige, deren Inspiration er lauschte, sondern ein armes, verwaistes Mädchen!
»Siehst Du, mich hält Jedermann zum Narren. Die Leute glauben geradezu ein Recht dazu zu haben. Am ärgsten hielt mich mein Vater zum Narren. Nicht nur dadurch, daß er mich von Kindheit an zu seinem Juxbruder machte und mich förmlich in dem Wettstreit übte, welcher von uns Beiden dem Andern ärgern Schabernack zu spielen vermöchte, sondern hauptsächlich dadurch, daß er mich zum Magnaten erzog und als mittellosen Jungen zurückließ. Ich habe Alles gelernt, womit man, wenn man ein vornehmer Herr ist und keine weiteren Sorgen hat, als in der Welt zu leben, ein bedeutender Mensch werden kann; – aber nichts, womit man den Lebensunterhalt erwerben könnte. Was ich weiß, damit kann ein reicher Graf Diplomat und Minister, – ein armer Teufel aber höchstens ein Charlatan werden. Da ich nun das Erstere nicht bin, verspüre ich eine ganz unbändige Neigung zum Letzteren in mir. Die Schwächen der Menschen brandschatzen! Die Einfältigen sich zinsbar, die Dummen sich unterthan zu machen! – Nur zwei Menschen sind es, die mich davon zurückhalten: Du und der Fürst. Ihr Beiden seid die einzigen Menschen auf der Welt, an die ich nur zu denken brauche, um mich sofort als ein Kind zu fühlen und zu glauben, daß ich gut sei. In solchen Momenten erwacht all' mein Stolz in mir und ich werde ehrgeizig wie ein Kind. Lache deshalb nicht über mich.« Ein inniger Händedruck versicherte ihm, daß seine Worte ernsthaft gehört wurden. »Ich sehe einen Lebenslauf vor mir, welchen die großen Talente und die großen Charlatane verfolgen. Zuweilen gelangen die Charlatane ans Ziel und die Talente bleiben zurück. Und jeder der Concurrenten muß Etwas von Beiden an sich haben und die große Welt kommt niemals darüber ins Klare, welches von Beiden der Betreffende eigentlich gewesen. Wenn der Vorhang fällt, wenn der sterbende Augustus sein » Plaudite!« ruft, ist die Komödie eben zu Ende. Denn Komödie spielen muß jeder. Wer sich in die Karten schauen läßt, dem spielt die Welt immer übel mit. Stellt sich heraus, daß er ein Schwächling ist, so schiebt man ihn einfach aus dem Wege; erweist er sich als stark, so verbündet sich alle Welt gegen ihn. Aber – welch ein Narr bin ich doch, mit Dir zu reden wie ein Professor vom Katheder.«
»O, ich höre Dich so gern so sprechen.«
»Nun, dann höre weiter: der eine Pfad des Scheidewegs ist lang und vielgewunden. Betrete ich diesen, so wirst Du mich lange Zeit nicht sehen; zuweilen werde ich so ganz und gar vom Schauplatz verschwinden, daß nicht einmal eine Kunde von mir zu Dir gelangt. Ein anderes Mal wirst Du Nachrichten über mich vernehmen, die ganz danach angethan sind, Deinen Glauben an mich zu erschüttern. Du wirst Dich meiner schämen.«
»Ich werde sie nicht glauben.«
»Nicht wahr, Du wirst sie nicht glauben? Gewiß nicht? – Du wirst schwere Prüfungen auszustehen haben. Alle Wahrscheinlichkeit wird laut Zeugniß geben wider mich. Deine eigenen Augen werden Dir sagen, ich sei Dir untreu.«
»Ich will auch meinen eigenen Augen nicht glauben. Ich werde mir sagen: ich träume.«
»Du wirst von mir hören, ich sei tief gesunken, so tief, daß ich nimmer werth sei, von reiner Frauenhand wieder aufgerichtet zu werden, – oder aber Du wirst hören, ich sei hoch gestiegen, ich sei von Ruhm und Glanz umgeben, ich lebe in Verhältnissen, in denen man der alten Liebe nicht mehr zu gedenken, das bescheidene, schweigende, in Treue harrende Mädchen zu vergessen pflegt. – Willst Du mir auch dann noch vertrauen?«
»Du magst sinken oder steigen, ich weiß, daß Du zu mir zurückkehren wirst.«
»Und wie, wenn das lange, sehr lange währen sollte? Wenn Jahr um Jahr verginge und jedes Jahr wäre ein verlorenes für Dich?«
»Ich will Deiner harren. Ich weiß, daß Du kommst, mich heimzuholen, selbst wenn ich ergrauen sollte über dem Warten.«
»Auch Dich selber wird das Glück locken und versuchen, das Glück, das dein goldenes Herz ja so sehr verdient, Deiner würdige Männer, weit würdiger als ich, werden wetteifern, mein Andenken auszulöschen aus Deinem Herzen, mein Bild mit einem Anderen zu vertauschen.«
»Ich lasse nicht von Deinem Bilde. Diesen Ring will ich nimmer und nimmer gegen einen andern vertauschen.« Das Mädchen faltete die Hände ineinander, als ob sie ihr Heiligthum vertheidigen wollte durch inbrünstiges Gebet.
»Du meine süße, theure Seele! Du bist also bereit, auf mich zu warten ungemessene Zeiten hindurch und zu glauben und freudlos zu dulden und unsere gemeinsamen Hoffnungen verschlossen zu halten tief in Deinem Innern. Je nun, das ist der eine Pfad des Scheideweges. – Der andere ist weit kürzer: er führt nach meinem kleinen Sanct-Helena, nach der kleinen Besitzung, die mir von allen meinen Gütern übriggeblieben ist. Um den Namen meines Vaters in Ehren zu erhalten, habe ich auch mein mütterliches Erbe seinen Gläubigern überlassen, und so habe ich denn heute nichts mehr, als dieses mein kleines Sanct Helena. Das Gütchen trägt an Mais und Weizen so viel als eben nöthig sein dürfte, eine Familie zu erhalten. Wenn ich selber der Wirthschaft nachgehe, so langt es gewiß immer bis zur neuen Ernte und bleibt auch wohl noch etwas übrig, die Steuer zu bezahlen. Auch Tabak gedeiht in dem Boden nicht übel. Das Häuschen ist mit geringen Reparaturen wieder wohnlich zu machen, und die alten Möbel halten wohl noch ein Menschenalter vor. Ich habe Leute gekannt, die in einem solchen Häuschen ein recht glückliches Leben führten. Du hast ja das Häuschen gesehen, nicht wahr? Erinnerst Du Dich noch an die großen Nußbäume, die es von beiden Seiten beschatten? An den kleinen Bach, der mitten durch den Garten fließt? Gedenkst Du noch, wie der Rasen unter den Obstbäumen im Herbst mit reifen Früchten besäet ist. Möchtest Du nicht in dem Häuschen wohnen? Wärest Du dort nicht glücklich mit mir? Wähle für mich zwischen den beiden Wegen. Ich lege mein Geschick in Deine Hand. Sagst Du mir: Laß uns in das Häuschen auf Sanct Helena ziehen, so bestelle ich noch heute das Aufgebot und über vierzehn Tage sind wir vereint. Dann wird nie wieder Jemand von mir hören. Ich will ein häuslicher, ruhiger, treuer Gatte, ein eifriger Landwirth, ein großer Tabakzüchter werden; ich will die Frau in Ehren, das Gesinde in Ordnung halten. Ich will nach keinem Amte streben, mich an keine Spielkameradschaft anschließen. Ich will keine andere Freude, kein anderes Leid kennen, als Deine Freude, als Deinen Schmerz. Willst Du das?«
Das Mädchen blieb stehen und legte die Hand wider die Stirne. Ihr Gesicht war bleich geworden. Die Idee der Glückseligkeit, so aus nächster Nähe geschaut, war so verlockend. Sie lehnte sich an einen bemoosten, ganz von Epheu umsponnenen Baumstamm und ihr Blick verlor sich sinnend in das Labyrinth des Waldes. Es wäre so süß, dieses Leben des Glückes und der Wonne zu beginnen. Sie pflückte unbewußt ein Blatt des Immergrüns und drückte es, gleichsam als Antwort dem Geliebten in die Hand.
»Antworte mir nicht sofort,« sprach Leon und wies das Geschenk sanft zurück. »Ich bleibe noch bis zum Abend hier; bis dahin denke Alles durch, was ich Dir gesagt habe. Mein Geschick liegt in Deiner Hand. Weise mich, wohin Du willst; was Du für mich wählen wirst, das will ich hinnehmen.«
Das Mädchen schmiegte sich im wonnigen Gefühle der Glückseligkeit noch enger an ihn und flammende Röthe kehrte in das Gesicht zurück. Das Herz pochte ihr hoch auf bei dem Gedanken: sie halte in diesem Augenblick das Geschick dieses Mannes in ihrer Hand; es hänge an einem Worte von ihr, wohin es sich wenden werde: an dem Wörtchen: »Komm« oder »Geh'«. Und dann sprachen sie nicht weiter mehr von der Sache, sondern priesen die Amseln, die im Walde so schön musizirten.
Endlich mündete der Weg aus dem Park ins Freie. Vor ihnen lag ein offenes Stück Landes von etwa fünfzig bis sechzig Jochen, über welches der Fußpfad führte. Hier stand kein Baum mehr, nur hie und da verkümmertes Gestrüpp und stellenweise ein im Boden zurückgebliebener morscher Stumpf, die verwitterten Reste eines gerodeten Waldes.
Scholliges Brachfeld mit mannshohem Unkraut bewachsen. Ackerland bunt von Klatschrosen und Kornblumen, ein Gut, welches der Besitzer offenbar seit Jahrzehnten in Halblau hintanzugeben pflegt. Der Boden zeigt keinerlei Spur, daß ihn jemals ein Hausthier betrete. An den Wegen und Rainen wuchert die serbische Distel.
»Der wilde ›Palatin‹ mag heuer ein schönes Stück Geld aus seiner Käspappel-Kultur herausschlagen,« meinte Leon. Nun trägt aber die Käspappel nicht etwa Käse, sondern ist ein ziemlich unnützes Unkraut.
»Warum heißt denn der Mann Palatin?«
»In seinen Studentenjahren pflegte sein Vater immer zu prahlen: sein Sohn sei ein ungarischer Edelmann, aus einem solchen aber könne Alles werden, sogar Palatin. Daher ist ihm der Spottname geblieben.«
»Ist dieser Mensch schlecht oder verrückt?«
»Es dürfte sich wohl Beides in schöner Harmonie in ihm vereinigen und Eines das Andere nach Möglichkeit fördern.«
»Wie kommt es nur, daß ein solcher Mensch in der Nähe des fürstlichen Schlosses sitzt?«
»Als der Fürst daran ging, den Park zu erweitern und zu arrondiren, wurde er mit sämmtlichen Compossessoren handelseinig und kaufte die angrenzenden Grundstücke für das Dreifache ihres Werthes: nur dieser eine Nachbar, sein eigentlicher Name ist Florian Tukmanyi, wollte sein Besitzthum durchaus nicht unter dem zehnfachen des Werthes ablassen. Er forderte für diese sechzig Joch Grund sechzigtausend Gulden. Diesen Preis bewilligte nun der Fürst nicht und arrangirte sich ohne das Grundstück. Später bereute er es gar sehr. Der Palatin ist ein höchst unangenehmer Nachbar. Er heckt alle möglichen Vexationen gegen den Fürsten aus. Er schießt ihm das Wild weg und hängt noch überdies der Herrschaft einen Schadenersatz-Prozeß um den anderen an. Sein Besitz ist ein langer, schmaler Streifen; um von der Landstraße an die Waldschänke zu gelangen, muß man nothwendigerweise seinen Grund und Boden passiren; er kann den Weg auch nicht absperren, denn derselbe haftet als Servitut auf dem Gute. Das aber läßt er sich nicht nehmen, daß er stellenweise zu beiden Seiten des Weges tiefe Gruben gräbt, zwischen denen nur mit knapper Noth die beiden Räder eines Wagens hindurch können. Dem Fürsten that es, wie gesagt, späterhin leid genug, daß er ihm seinerzeit die geforderten sechzigtausend Gulden nicht bewilligte: man hat auch seither wiederholt versucht, die Unterhandlung mit ihm wieder aufzunehmen, allein nun fordert er jedesmal einen höheren Preis; heute läßt er das Gut nicht mehr für hunderttausend Gulden ab, sondern verlangt noch überdies lebenslänglichen freien Unterhalt.«
»Man sagt, er habe auch eine Frau.«
»Zuweilen. Eine der Ursachen seines dermaligen Zustandes ist eben seine Frau. In seinen ledigen Jahren war er ein wohlhabender und schmucker Junge. Er heirathete ein armes Mädchen, in der Hoffnung eine gute Hausfrau zu gewinnen. Allein die junge Frau war alsbald nach ihrer Verheirathung wie ausgewechselt, sie verlernte Arbeit und Fleiß und wurde verschwenderisch, putzsüchtig, zänkisch und keiferisch. Nun gab's Tag für Tag Streit und Schlägereien und war einmal eine dieser Bataglien allzuheftig ausgefallen, so lief die Frau vom Hause. Nach einiger Zeit kam sie wieder und dann hob der Nibelungenkrieg von neuem an. So dauert das bis zur Stunde fort. Die Frau bleibt oft Monate lang vom Hause weg. Niemand fragt, wo sie die Zeit über gewesen ist. Eines schönen Tages kommt sie dann wieder heim und – nimmt ihre Tracht Prügel in Empfang. Am nächsten Morgen improvisirt sie ihrerseits eine Prügelei und so geht es hübsch alternatim wieder eine Zeit lang fort. Zuweilen halten sie übrigens selbst ein halbes Jahr lang hübsch in Frieden unter dem gemeinsamen Dache neben einander aus, reden aber die ganze Zeit über kein Wort mit einander. Das Eine geht zum Hofthor, das Andere zur Küchenthür aus und ein. Was sie einander zu sagen haben, schreiben sie mit Kreide von außen Jedes aus des Anderen Thür; die Vorübergehenden können mit Muße die ganze erbauliche Correspondenz lesen, die immer mit den denkbar zärtlichsten Titulaturen anhebt. ›Du Drache‹ und ›Du Räuber‹ sind ungefähr noch die sanftesten von allen. Ist die Frau zuhause, so wirft ihr der Hausherr Tag für Tag das angebrannte Essen, die halbgesottenen Bohnen sammt dem Topfe an den Kopf, ist er dann wieder allein, so hat er goldene Zeiten; er schmort sich Kartoffeln und vergnügt sich den ganzen Tag über mit Kartenspiel. Da er aber weder Spielkameraden noch Geld hat, so spielt er allein Tarok; gewinnt er, so kreidet er an; verliert er, so bezahlt er nicht; fällt ihm ein schlechtes Blatt, so zankt er sich mit den eingebildeten Spielgenossen, wirft ihre Stühle über den Haufen und spielt dann allein Patience. So verbringt er sein ganzes Leben.«
»Man sagt, er sei ein fürchterlicher Mensch.«
»Wer vor ihm erschrickt, mit dem ist er allerdings grob; einen Haushund braucht er nicht, – er weiß die Leute selber anzubellen.«
»Ich kam auch einmal an seinem Hause vorüber; da schrie er mich an: ›was ich dort herumzugaffen habe.‹ Und ich war doch wahrhaftig nicht auf ihn neugierig, sondern hatte einen schönen Strauch gelber Rosen betrachtet, der am Hofe stand.«
»Richtig. Der Strauch ist ja eben sein einziger Stolz. Eine prachtvolle goldfarbige Centifolie. Das Pfropfreis hat sein Vater zur Zeit des Franzosenkrieges aus dem Garten des Louvre im Tornister mit in die Heimat gebracht. Die Rose heißt Wellington; der Alte war immer stolz auf den Namen. Der Strauch ist in der That ein Unikum. Der ursprüngliche Stamm ist zwar längst abgestorben, aber die Ableger sind zu einem völligen Gebüsche herangewachsen. Um keinen Preis der Welt würde der Palatin Jemandem ein Pfropfreis oder einen Ableger von dem Strauche überlassen oder gestatten, auch nur eine Rose zu pflücken. Er hat rings um den Strauch eine Dornhecke gepflanzt und bewacht ihn zur Zeit der Blüthe mit geladener Flinte. Er ist sein Symbol. Von Zeit zu Zeit legt er der Rose einen anderen Namen bei. Wellington hat er längst abgesetzt. Eine Zeit nannte er sie nach Bem, der ihm für den größten Mann unserer Zeit galt. Später that er Napoleon die Ehre an, heut nennt er die Rose Garibaldi.«
Während dieses Gespräches hatte das promenirende Paar den kühlen Schatten des Parkes verlassen und schritt getrennt den Weg entlang, der quer über das Brachland führte. Der neidische Weg schied sie von einander, denn er war in der Mitte kothig und nur zu beiden Seiten lief je ein schmaler, mit Gras bestandener Pfad hin, auf dem man einzeln trockenen Fußes gehen konnte. Einige Klafter abseits vom Wege lag das Haus des alten Menschenfeindes. Es »lag« in der That, gleich einem ermatteten Mastodon, welches bereits der Sündfluth harrt, die es hinwegschwemmen soll von der Erde. Von dem Gemäuer war aller Anwurf abgefallen und nun lag das verwahrloste Fachwerk bloß zu Tage; das Dach hatte mehr Löcher als Schindel. In einer Ecke der verfallenen, verlotterten Keusche aber grünte eine förmliche Wildniß von einem Rosenstrauche; er war bis über die Stützpfosten hinausgewachsen und fiel über das zerlumpte Hausdach hin. Die Zweige waren voll goldgelber Blüthen – die Sorte sind die Mammuths unter den Rosen. Es sah aus wie ein goldener Mantel, über die Schulter eines zerlumpten Bettlers geworfen. Ringsum war der Rosenstrauch mit der Bastion von Dornen eingehegt. Die absonderliche Schutzwehr hatte insofern guten Grund, als beide Hofthore bereits aus den Angeln gefallen waren; da konnte aus und eingehen, wer nur immer wollte.
»Gehen wir durch den Hof,« sprach Leon zu Livia.
»Ich fürchte mich; der Mensch wird uns wieder so wild anfahren.«
»Ist es Dir denn erlaubt, Dich zu fürchten, wenn Du an meiner Seite bist?«
»Sage hier doch nicht Du zu mir. Man wird es hören.«
»Die Bestie schläft jetzt.«
»Unsere Schritte können ihn aufwecken.«
»Fürchten Sie nichts. Reichen Sie mir den Arm. Wie können Sie sich denn nur fürchten, wenn ich bei Ihnen bin?«
»Ich fürchte nicht für mich selber. Mir thut er doch wohl nichts zu Leide. Aber Sie wird er anfallen.«
»Seien Sie unbesorgt. Ich kenne ihn zu gut; ich weiß mit ihm zu reden. Kommen Sie nur; ich locke ihn aus seiner Höhle hervor; Sie sollen sehen, wie zahm er wird. Ich bringe ihn so weit, daß er Ihnen schließlich noch eine von seinen Rosen schenkt.«
Livia klammerte sich mit kindlicher Hingebung an Leons Arm, der mit ihr an das Fenster trat, welches dem Rosenstrauche zunächst lag. Das Fenster hatte keinen Vorhang, in dem einen Rahmen fehlte die Glasscheibe; das Feld war mit Papier verklebt; auch dieses hatte aber durch irgend einen unglücklichen Zufall einen Riß bekommen und dieser war nun wieder mit einem anderen Blatte verkleistert. Livia wich von dem Fenster zur Seite; es widerstrebte ihr, lauschend in das Zimmer eines fremden Mannes hineinzuschauen; Leon dagegen pflanzte sich hart am Fenster auf und sah in die Stube. Am Tische – ein Fuß desselben war abgebrochen und mit einem Ziegelstücke unterlegt – saß der Menschenfeind. Der Mann mochte beiläufig sechzig Jahre alt sein; ob er grau oder glatzköpfig sei, war nicht zu sehen, denn der Kopf stack tief in der Otterfellmütze. Sein Anzug war zerlumpt und über und über schmierig, mit Kalk von der Wand, mit Koth von der Straße, mit Grasflecken vom Rasen bedeckt, das Gesicht krebsroth vom Branntwein; die Augen glühten, die Nase wuchtet breit auf dem struppig vorstehenden Schnurrbarte, der von den verschiedenen chromatischen Einflüssen des Tabaks in drei Farben spielt. Er sitzt den Rücken dem Fenster zugekehrt, damit ihm die Sonne nicht in die Augen scheine, wieder bei seinem Kartenspiele allein wie gewöhnlich. Er mischt, hebt ab, theilt die Karten, nimmt seine Blätter, schlägt jene der Gegner auf und krächzt mit Befriedigung. Er hat die Hände voll der besten Karten; zehn Tarok, tous les trois, Quint major. – Leon zog Livien ans Fenster, damit sie sich diesen Menschen gleichfalls ansehe.
Livia wartete neugierig, wie es Leon anfangen wolle, mit dem Manne »in Güte« zu reden. Jenun, er schlug plötzlich mit der Faust wider das Fensterkreuz und schrie mit einer Stimme, als ob er einen Bären verscheuchen wollte, ins Zimmer hinein: › Contra Pagat ultimo!‹
Der Wilde sprang auf den Ruf und das Getöse von seinem Sitze empor und machte im ersten Schrecken Miene, auf die Thüre loszustürzen; als er aber das Gesicht des unverhofften Besuches erkannte, kam er ruhig ans Fenster, öffnete den einen Flügel und redete den Störenfried unglaublich sanft an: »Ei, was willst denn Du, Napoleonchen, mein Freund?«
»Nichts da Freund! Dein Herr und Richter! Du bist angezeigt, daß Du eine Spielhölle hältst; Deine Kameraden haben Dich verklagt, daß Du falsch spielst und ihnen das Geld abgewinnst.«
»Du hast doch immer Deinen Spaß mit mir, Napoleonchen,« erwiderte der in seinem eigenen Hause Angegriffene nicht ohne Verlegenheit.
»Da gilt keine Bruderschaft! Soll ich zu Dir hineingehen oder willst Du zu mir herauskommen!« Der Pseudo-Palatin sah zum Fenster hinaus und war nun in der That betreten, als er die Frauengestalt erblickte. Er schob sofort die Tabakspfeife in den andern Mundwinkel hinüber. Diese Pfeife war ein merkwürdiges Kabinetstück, sie hatte einen solchen Wildgeruch, daß jeder wohldressirte Jagdhund sie »gestanden« haben würde. »Du – wer ist denn das? Deine Frau?« fragte er Leon. »Wer denn sonst?«
»Na und wozu kommt Ihr denn eigentlich hierher?«
»Das will ich Dir sagen, sobald Du herauskommst. Ich will Dich beim Schopf nehmen, denn mit Dir kann man ja anders doch nicht reden. Also heb' Dich und trag Deinen Schädel heraus. Aber vorerst knüpfe Dir das Gewand hübsch ordentlich zu.«
Und der alte Bär gehorchte. Er öffnete die Thür und erschien vor seinen Besuchern. Er sah klein und gedrückt aus, der Rücken war gekrümmt, die eine Schulter stand tiefer als die andere. An der ganzen Erscheinung war auch nicht ein einziges Detail schön zu nennen.
»Du, mir scheint, Dir ist der Hut an den Kopf festgewachsen?« sprach Napoleon. Der Alte zog auf den Wink hin richtig den Kopf aus der Otterfellmütze. »Also so weit hätte ich's mit dem Bären nun doch schon gebracht, daß er den Deckel lüftet, wenn er eine Frau vor sich sieht. Du möchtest mir ja auch gerne die Hand reichen, wenn sie nicht so schmierig wäre, daß Du fürchtest, sie könnte Dir an der meinigen kleben bleiben – wie? Wann hast Du Dich zum letzten Male gewaschen?«
Die sonderbare Gestalt lachte. »Hihi, Napoleonchen, mir liegt nichts mehr daran, schön zu sein. Wenn Du nur erst alt wirst, sind dann Deine Hände auch von der Tabackspfeife schmutzig.«
Livia bewunderte Leon, daß er mit dem gefürchteten Waldteufel in solchem Tone zu reden wagte. Leon aber hatte es auf einen noch weit kühneren Versuch abgesehen. Er machte es ungefähr wie der Thierbändiger, der seinem Tiger ein Stück dampfenden, rohen Fleisches um die Schnauze schlägt. »Höre einmal, Palatin,« sagte er und legte seinen Arm vertraulich in jenen dieses wilden Diogenes; »ich komme nicht ohne Grund zu Dir; ich will Dich um etwas bitten.« »Um eine von den gelben Rosen,« dachte Livia. Aber es war noch etwas Heikleres.
»Schau, ich möchte jetzt als Abgeordneten-Kandidat auftreten. Ich brauche den Posten nothwendig; ich habe nichts zu leben. Wenn ich in den Reichstag kommen könnte, fände ich wohl Gelegenheit zu einem kleinen Vaterlands-Verrath und dabei fiele dann auch für mich irgend eine fette Anstellung ab. Mir wäre mit so einem Aemtchen geholfen. Schau, Du hast großen Einfluß unter den Bauern – ich möchte Dich um Deine Protektion bitten.«
Das war nun aber gerade Dasjenige, womit man aus dem Troglodyten einen wilden Löwen machen konnte. »Was?« schrie er und sprudelte die Worte und den Tabakduft heftig rings umher: »Dich zum Deputirten wählen?« damit riß er seinen Arm aus Leons Hand, »eher den Rozsa Sandor, den Patko, den Bogar Ferko! Die ganze junge Generation mit einander ist nicht mehr werth, als in eine Kanone geladen und in die Luft geschossen zu werden! Feiglinge, Verräther seid Ihr Alle insgesammt! Ein Murawieff, ein Nena Sahib gehört für Euch, nicht ein Reichstag. Bringt mir den Orsini her, für den will ich stimmen, und für die Guillotine, die soll Eure Constitution sein!«
Leon schlug mit erschrockenem Gesichte die Hände über den Kopf zusammen. »Unglückseliger – was hast Du gethan?«
Auf Leons erschrockene Mienen erschrak der Wüthende selber noch mehr. »Nun – was soll ich denn gethan haben?«
»Was hast Du da geredet – vor zwei Zeugen?!«
»Ei, so zeiget mich an! Was wird's weiter sein? Höchstens kann man mir den Kopf abschlagen.«
»O nein, man wird Dir nicht den Kopf abschlagen – es wird noch weit ärger kommen.«
»Ja, was denn Aergeres?«
»Weißt Du denn, womit eben jetzt Deine Frau umgeht?«
»Der Teufel kümmert sich darum! Womit denn also?«
»Sie ist darauf aus, Dich als Narren einsperren zu lassen; wenn Du dann einmal festsitzest im rothen Thurm, so hat sie freie Hand, Dein schönes Dominium zu verprassen. Auf die Reden von vorhin aber ist Dir der Narrenthurm gewiß. Wir haben Beide zugehört; wenn Deine Frau sich auf uns als Zeugen beruft, dann – Datum Leopoldifeld.«
Livien dauerte der geängstigte Mensch. Leons Vorgehen war in ihren Augen Grausamkeit. Der Starke soll den Schwachen nicht in solcher Weise quälen. »Fürchten Sie nichts, Herr Tukmany,« sprach sie mit sanfter Stimme dazwischen, »ich werde Sie nicht verrathen.«
Der Wilde war überrascht, sich mit seinem rechten Namen angeredet zu hören; er war schon ganz und gar an den Spottnamen gewöhnt. Er blickte im ersten Momente um sich, ob es nicht etwa gar ein Anderer sei, dem die Ansprache gelte. Dann aber fühlte er sich von der gütigen Protektion außerordentlich ergriffen. Unglaublich, aber wahr: der ungewaschene, von beständigem Fluchen unfläthige Mund ließ die Worte laut werden: »Ich küsse Ihnen die Hand, gnädige Frau.« Und dann fragte er, um dem Gespräche mit einem Male eine andere Wendung zu geben, rasch: »Haben Sie schon meine schönen Rosen gesehen? Ich will der gnädigen Frau ein Präsent machen.«
Leon rief mit geheucheltem Erstaunen: »Wie, Du fängst an, die Blüthen Deines Garibaldi zu verschenken?«
»Nichts da Garibaldi!« fuhr der wilde Palatin auf. »Mit dem ist's vorbei! Garibaldi ist ebenfalls ein Pecsovics geworden, ein Verräther, ein königlich Gesinnter, – er hat sich ergeben. Mazzini ist der einzige, wahrhaftige Mann! Ist Ihnen eine Mazzini-Rose gefällig? Wenn Sie die nicht wollen, bekommen Sie gar keine. Wenn Sie sie Garibaldi nennen, gebe ich Ihnen keine!«
Schwieriger war nun aber die Aufgabe, dem Mazzini beizukommen, denn er war als Rosenstrauch dichter mit mörderischen Waffen umgeben, als in Wirklichkeit. Der Wilde verstand sich dazu, mit einer eisernen Gabel in den selbst aufgeführten Wall Bresche zu legen und sich dann durch die enge Oeffnung hindurchzuzwängen, auf die Gefahr hin, seine zerfetzte Garderobe noch ärger zuzurichten. Er wählte die schönste unter den Rosen aus und brach sie für Livia. Das war ein Geschenk, wie sich keine Fürstin dessen rühmen konnte. Was hatte den Troglodyten dazu bewogen? Livia's Sanftmuth oder Leons Vertraulichkeit und Herablassung, oder vielleicht beide zusammen?
Der Troglodyt faßte Livia's Hand, in welcher sie die eben empfangene Rose hielt. »Das Eine bitte ich Sie aber: daß Sie die Rose nicht etwa Dem da geben. Der ist im Stande und benützt sie als Pfropfreis.«
»Nein. Ich will sie Niemandem geben,« erwiderte Livia gutmüthig. »Und ich gebe mein Ehrenwort, daß ich auch nicht einen Trieb davon pfropfen will,« versicherte Leon mit Pathos.
»Ach, auf Dein Wort gebe ich auch viel! Männerwort, Ehrenwort, Eidschwur – Alles Lüge. Nur den Worten der Weibsleute darf man trauen – so lange sie nicht verheirathet sind.«
»Was das nun wieder eine Grobheit ist!« fuhr ihn Leon an und legte demonstrativ Livia's Hand in seinen Arm.
»Ah was da – sie ist doch nicht Deine Frau. Wenn Ihr verheirathet wäret, so würde sie seither schon gebelfert haben.«
»Soll ich Dir den Schopf beuteln?«
»Damit wäre nichts bewiesen, Bruderherz, Du langer Napoleon. Wenn sie Deine Frau ist, so probire es einmal und gieb ihr einen Kuß.«
Auf dieses Wort wurde Livia roth bis über die Ohren. Sie wollte nichts weiter hören, sondern nahm Reißaus und zog Leon mit sich fort.
»Wie magst Du mit dem armen Menschen nur so grausam umgehen!« sprach Livia in mißbilligendem Tone zu Leon (um dem unterbrochenen Thema einen anderen Text zu substituiren.)
»Weil er es nicht besser verdient. Wenn man ihm kühn entgegentritt, so wird er zahm; wie man aber vor ihm zurückweicht, sinnt er auf Unfug. Jeder, der an ihm vorbeikommt, sollte ihm getrost ein Kopfstück versetzen; hat er's heute nicht verdient, so verdient er es morgen, und spielt er dem Einen keinen Possen, so thut er's doch sicherlich dem Andern. Er muß getreten werden, wenn er reden, und getreten, wenn er schweigen soll. Ich bin überzeugt, daß ihm auch heute kein Titelchen Unrecht geschehen ist mit Allem was er weggekriegt hat. – Nun da haben wir's ja – hab' ich's nicht gesagt?!«
»Jesus Maria!«
*
»Was war geschehen?«
Raphaela hatte fort geträumt. Der jugendliche Held hat die Höhe der Pyramide erstiegen; er steht dort vor der glänzenden Gestalt, die in dem Sarge liegt; er faßt ihre Hand, die Gestorbene schließt die Finger der ihrigen krampfhaft, so daß ihrer Beide Hände nicht mehr von einander lassen können, und Finger in Finger verschränkt sind. – Da plötzlich beginnt die ganze große Pyramide zu wanken, ein entsetzlicher Krach und die todte Braut sammt dem Bräutigam stürzen zusammen in die Tiefe. Die Prinzessin schreckte aus ihrem Traume empor und – erblickte auch wachend Leons Gesicht vor sich. »Was ist geschehen?« fragte sie erschrocken.
»Zum Glück nicht viel,« antwortete Bruder Napoleon. »Der Wagen ist mit beiden vorderen Rädern zugleich in den Graben gestürzt.«
»Und Kutscher und Lakai?«
»Sind der Eine nach rechts, der Andere nach links gepurzelt; da arbeiten sie sich eben aus den Gruben zu beiden Seiten des Weges heraus; Schaden haben sie nicht genommen, nur kothig sind sie bis an den Hals.«
»Aber wie ist denn das nur zugegangen?«
»Sicherlich hat Alles geschlafen, was nur immer ein reines Gewissen hat, und die Pferde lenkten in den Nebenweg ein; hier hat aber der alte Bösewicht die beiden Schutzgräben so eng an einander aufgeworfen, daß beide Räder den Boden verloren. Habe ich's nicht gesagt, Fräulein Livia?«
»Livia! Du bist auch da? Ach wie gut, daß ihr mir entgegengekommen seid. Was fangen wir denn jetzt nur an?«
»Vor allem wollen wir den gestürzten Wagen wieder flott machen und ihn zurückwenden. Die zwei Bursche können sich so über und über kothig nicht auf den Bock setzen. Die gehen zu Fuß nach Hause; ich werde kutschiren.«
»Das geht nicht,« entgegnete die Prinzessin. »Wenn Sie kutschiren und Papa uns ankommen sieht, so erfährt er von dem Unfall und das regt ihn auf. Lieber will ich kutschiren, er denkt dann, ich thue es zum Vergnügen.« Da müßte sich nun aber die Prinzessin zu Napoleon setzen. Das geht auch nicht. »Livia wird bei mir sitzen; Sie aber, mein Herr, bei Madame Corysanden.« So geht es. Mittlerweile hatten die Bursche den Wagen wieder auf die Räder gestellt. Sie wetterten nicht übel über Den, der die Gräben aufgeworfen. Der aber wälzte sich in diesem Augenblick vor Lachen.
Daheim rühmte sich Livia gegen alle Welt des Geschenkes, welches sie von dem bösen Nachbar bekommen. Ueber Tisch war der Palatin der Gegenstand der Unterhaltung. Jedermann wußte irgend eine haarsträubende Dummheit von ihm zu erzählen; alle diese Einzelheiten zusammengenommen ließen den Troglodyten als ein wieder zu einem vollkommenen Affen degenerirtes Darwinsches Urmeisterstück erscheinen.
... »Und vor fünfunddreißig Jahren war dieser Mensch ein eben so gemüthlicher, heiterer, gutherziger und witziger junger Mann, wie heute Bruder Napoleon,« bemerkte schließlich der alte Rentmeister. » Ja er war sogar schön; die Mädchen waren völlig vernarrt in ihn.«
... Als sich desselben Tages Nachmittag Napoleon von Zarkany von der fürstlichen Familie verabschiedete, blieb ihm bei dem Händedruck, den er mit Livien wechselte, ein Epheublatt in der Hand zurück. Das immergrüne Blatt sollte besagen:
»Geh! ... Ich will Dich erwarten ...«
*