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Nun hatte ich die notwendigen Ausweise, aber weder Geld noch Schiff. Einmal hatte ich schon so viel Geld erhalten, daß ich wenigstens bis Port Said gekommen wäre, doch mußte ich angesammelte Schulden decken. Ein anderes Mal, gerade als ich gezahlt hatte, gab es ein passendes Schiff – leider aber nicht die Papiere, – da der Ausweis nach Bombay zum italienischen Konsul mußte und der Karachikonsul nicht das Recht zu visieren hatte. Wer könnte glauben, auch wenn ich die hundert Beispiele der Reihe nach anführen wollte, daß ein Mensch so haarsträubendes, ununterbrochenes Pech haben könne.
Miß Hoff begleitete mich. Wir hatten schon alle Zollbeamten aufgewiegelt, wir hatten schon bei allen Agenten vorgesprochen. Nun lag ein deutsches Schiff im Hafen, und ich wollte den Kapitän bitten, mich darauf mitzunehmen. Es war ein Frachtdampfer, der nach Bremen fuhr, und ich dachte mir (da andere Leute in der Tat nicht selten so fuhren), daß er mich für den Preis einer Zwischendecksfahrt mitnehmen und wie einen Matrosen verpflegen könnte. Das winzigste Loch zum Schlafen würde genügen, und wo man so viel Speise über Bord warf, kam es auf einen Mitessenden gar nicht an. Zweihundert Rupien (dreihundertfünfzig Mark) war aber mehr, als er für einen Koffer, fünfmal so groß und fünfmal so schwer, bezahlt erhalten hätte. Und ich war überdies »bewegliches Gut« in jedem Sinne …
Zuerst hatten wir das Pech, das richtige Dock zu versäumen, und mußten daher eine halbe Stunde weit im Staub zurücklaufen, hierauf eine endlose Hochbrücke kreuzen und zum Schluß herausfinden, daß die Brücke zum Schiff halb abgestellt war. Das hinderte uns nicht. Wir kletterten irgendwo empor und hingen plötzlich mitten in der Luft. Da sagte ein deutscher Offizier mit einem Lächeln:
»Heinz, nimm mal die Damen herunter!«
Ein Matrose half mir beim Abstieg und hob Miß Hoff, die beträchtlich mehr wog, herab. Da ich ihn deutsch ansprach, war er sehr nett, und wir gelangten nach einigen Hindernissen zum Kapitän, der ein sehr höflicher alter Herr war, der aber sagte, daß er erstens bei seiner Reederei anfragen müsse, und zweitens, daß er nicht einen einzigen Hafen im Mittelmeer berühre. Das war traurig! Wie konnte ich im Dezember, aus den glühenden Tropen kommend, die weite Reise durch das eisige Deutschland wagen? Da die Sache ohnedies ziemlich hoffnungslos aussah, dankten wir ihm und empfahlen uns. Diesmal war kein Matrose in der Nähe und die Nacht der Tropen schon angebrochen. Wir mußten auf die Reeling und von da auf die Brücke klettern. Bei einem Haar fielen wir zwischen Boot und Brücke ins schmutzige Hafenwasser, und zu allem Ueberfluß brach die Elektrische zusammen, die uns heimbringen sollte.
Da meinte selbst Miß Hoff, daß sie Aehnliches noch nie erlebt hätte.
Es war November, und die Winde fegten kalt über Belutschistan her. Ich lag unter drei geborgten Wolldecken, doch meist noch bei offenem Fenster. Die große Zeit der Hochzeiten war vorüber, dennoch wurde ich noch manchmal durch lautes Singen und schrille Musik aufgeweckt und setzte mich auf, um den Brautwagen, der nur ein von Ochsen gezogener, rotbehangener Karren war, in Augenschein zu nehmen. Meist tanzte eine Frau davor, hierauf kamen die Fackelträger, die Musikanten, die begleitenden Gäste. Neben der verschleierten, sehr geschmückten, mit einer Krone gekrönten Braut, saß unbeweglich der Bräutigam; die Kleine aber blickte alter Sitte gemäß immer zurück, breitete die Arme nach der Mutter aus, die auf der Schwelle des Elternhauses verblieben, und rief immerfort klagend nach ihr, überhäufte sie mit Vorwürfen, daß sie sie in ein fremdes Haus zu einem fremden Mann gehen ließ, und weinte, weinte – – das heißt, sie stieß die althergebrachten Wehrufe aus. Wie wahr mochten sie oft sein!
Früh am Morgen, wenn die ersten Mahrattiweiber ihrer Arbeit zueilten und die Karawanen wie ein wandelnder Rosenkranz an den niederen Parsihäuschen vorbeizogen, kam zuzeiten aus der entgegengesetzten Richtung ein mohammedanischer Leichenzug. Der Sarg, von vielen Männern getragen, schwankte unsicher hin und her, denn man nahm an, daß der Tote selbst die Richtung bestimme. Sie sangen alle laute eintönige Worte – Sprüche aus dem Koran – und hielten dabei die Hand lauschend hinter dem linken Ohr, vielleicht der Antwort der Erzengel gewärtig. Der Sarg war schön behangen, und immer drängten sich alle Leidtragenden in dichten Massen um ihn, folgten nie in geordnetem Zuge.
Es geschah auch eines Tages, als Regen mit Nebel kämpfte, daß eine Parsileiche vorübergetragen wurde. Sie war ganz in Weiß gehüllt, wie auch der Priester, die Begräbnisdiener … Ein Eisengestell, flach und schmucklos war's, auf dem der Tote getragen wurde, und sie mußten in diesem Wetter bis zu den Türmen des Schweigens wandern, die weit draußen hinter Karachi lagen. Dort würde nur der eine Diener die Leiche nehmen und auf den ihr bestimmten Platz im Turm tragen, mit einem Eisenhaken das weiße Gewand vom Leib reißen und den Aasgeiern die Beute überlassen. Das war eine alte Sitte, der gemäß man die Toten auf den Gipfeln der Berge den zersetzenden und dadurch reinigenden Strahlen der Sonne aussetzte. In der Tat – wieviel überflüssiger Prunk fällt damit hinweg, wieviel im Grunde zweckloses Grabbesuchen (wenn etwas überlebt, wird es etwa auf dem Moderhaufen sitzen bleiben?!), wieviel Kosten, die Hinterbliebene fast nie leicht zu leisten vermögen.
Ich wurde nie müde, während der Arbeit auf diese Straße zu schauen, die immer Neues bot, durch die morgens die Baumwollkratzer mit ihren umständlichen Werkzeugen in die Häuser zum Aufzupfen gingen; durch die man Schulkinder mit der Wärterin an der Spitze ziehen sah; durch die Arbeiterinnen lachend, schwatzend, mit Bündelchen und Kindern, eilten, und wo ruhige, unerschütterliche Schritte der Kamele den feinen, gelbweißen Sand aufwirbelten.
Die Französin hatte ebenso große Schwierigkeiten, nach Europa zurückzukehren, obschon sie geneigt war, eine freie Rückfahrt dadurch zu gewinnen, daß sie als Kindermädchen mit jemand reiste. Ich war entschlossen, in dem Falle lieber bis zum jüngsten Tag nachmittags in Karachi zu bleiben. Mein Columbusopfermut war bis zur äußersten Neige erschöpft. Es blieb auf dem Boden nichts als Bitterkeit und das Bewußtsein, daß mir das Schlechteste von allem würde angewiesen werden. Es war ja immer so.
Ich könnte über meine seelischen Empfindungen mit Schweigen hinweggehen. Ich tue es nicht, weil das Werk bestimmt ist, anderen Geschlechtsgenossinnen zu zeigen, was die Folge eines großen Unternehmens sein kann, selbst wenn man schuldlos ist. Ich krankte an unheilbarer Tropenneurasthenie, und meine Verhältnisse gestatteten es mir nicht, diese Schwermut erfolgreich abzuschütteln.
Weil wir nun beide gern heim wollten – sie, um ihren Jack zu heiraten, ich, um den letzten Wunsch meiner Mutter zu erfüllen, – dachten wir lange ernstlich daran, auf einem Motorrade mit eben diesem nun militärfreien Jack, als Männer verkleidet, nach Belutschistan zu entfliehen und von da durch Persien Europa zu erreichen. Der Gedanke aber, daß Jack und das Rad (weil alle, die durch das Land zogen, erschossen wurden, wenn nicht der Emir sie beschützte), verloren gehen und wir in einem Harem bärtiger übelriechender Belutschis enden könnten, sogar vermutlich enden würden, setzte dem Plan ein Ende. Sie fuhr auf einem sehr schönen Dampfer heim, übergab die ihr anvertrauten Kinder immer ihren Verehrern, tanzte und unterhielt sich königlich, nahm eine Menge reizender Sachen für ihr Heim mit, die ich mir nicht leisten konnte, obschon der Gesamtwert meiner längst in der Heimat eingetroffenen Arbeiten viele tausend Mark ausmachte …
Ich packte alle Geschenke der freundlichen Heimbewohner und die Gaben Miß Hoffs in meine beiden armseligen Koffer, verstaute die kranke Erika mit der gleichen Sorgfalt wie immer und wartete.
Mabel S. war im Sterben. Sie wußte es nicht. Sie saß nur bleich auf der Veranda des Hospitals und sah dem Spiel der Raben auf den breitkronigen Tropenbäumen und unten im parkartigen Hofe zu. Man hatte ihr die Brust herausgenommen, und sie eiterte weiter. Der Geruch war schrecklich. Zuzeiten fühlte sie ihn selbst und fragte bestürzt, ob sie sich getäuscht habe.
Ich besuchte sie täglich, bis ihre Schwester sie besuchen konnte. Es war mir schwer, das eigene Unglück abzuschütteln, um heiter vor ihr zu sein, die ich beinahe beneidete. Sie war nahe am Ziel.
Was für furchtbaren Gebilden ich bei diesen Besuchen öfter begegnete! Unten, im Erdgeschoß, saßen die Eingeborenen, die viel ruhiger im Ertragen der Schmerzen waren. Sie kauerten auf den Betten oder kochten auf kleinen Holzkohlenherden draußen auf der Steinveranda ihre zeremoniell zubereitete, einfache Kost. Manche hatten die Nasen verloren, andere litten an seltsamen Auswüchsen; doch der schlimmste Anblick für mich war ein Mann, dessen Arm wie ein dürrer brauner Ast aussah und von dem wie Früchte runde, braune Auswüchse, kleinere und größere, hingen. Das war eine indische Beulenkrankheit und genug, einen das Gruseln zu lehren.
Vor dem Hospital hatte ein Krämer aus der Himalayagegend ein Tuch ausgebreitet, auf dem, in Holzkistchen, allerlei Wurzeln ausgestellt lagen. Sie heilten Unfruchtbarkeit, Schwäche, Fieber, Durchfall, je nach Art und Beschaffenheit. Ich kaufte von mehreren eine kleine Probe.
Später kam ich an der Karawanserei vorüber, in der man ein Zimmer mit einem Gurtenbett um acht Annas täglich haben konnte. Alle Räume hakten stark vergitterte Fenster, und die Türen gingen nicht auf die Straße, sondern auf den weiten Innenhof. In der Regel stiegen Mohammedaner hier ab, doch fand man auch Anhänger anderer Religionen. Um die Kamele mit den blauen Glückskugeln standen neugierige nackte Kinder.
Von den Tempeln, dem Mohorramfest, bei dem die Särge der unbegrabenen Sonne des Propheten in feierlichem Zuge durch die Stadt getragen wurden, von den Teufelsbeschwörungen, den Ausflügen in die Umgebung, den Erfahrungen auf Minora, der vorgelagerten Insel, wohin man baden geht, von dem langen Strand Karachis, wo die gefürchteten Wasserskorpione das Schwimmen erschweren und auch Medusen hindernd nahen, habe ich nicht erzählt; ich wünschte, ich könnte – wenigstens im Geiste – immer in Karachi bleiben, doch muß mein Werk nun enden, wie meine Reise geendet hat.
Es stand in den Sternen geschrieben, daß ich auf einem italienischen Dampfer ausfahren und auf einem italienischen die Heimfahrt antreten sollte. Ich bin müde, alle Schwierigkeiten zu erwähnen, möchte nur sagen, daß ich den Zwischendeckspreis zahlen sollte, weil mein Geld nicht in seinem vollen Umfang eingetroffen war. Man hatte mir von daheim dreißig Pfund gekabelt und nicht angegeben, daß die zuerst begehrten fünfzig Pfund in Port Said lagen. So mußte ich mich unnötigerweise tausend Demütigungen aussetzen, bis der Konsul versprach, mit dem Kapitän Rücksprache zu nehmen und mir ein Lager im Hospital des Schiffes anweisen zu lassen. Die Kost dagegen …
Die Kost kümmerte mich nicht.
Sie waren alle sehr gut im Heim. Die Leiterin gab mir ein warmes gestricktes Kleidchen, denn in Karachi war es sehr schwer, etwas Nettes in europäischer Ausführung zu erhalten, und ich wollte nicht wie ein Hadernbündel in Europa eintreffen. Auch das noch!
Von den übrigen Mädchen erhielt ich Bücher, Taschentücher, von Miß Hoffs Tante, die aus Benares eingetroffen war, ein herrliches Täschchen mit echter Gold- und Silberstickerei, und Miß Hoff begleitete mich im Wagen bis hinaus zum Hafen. Mein Gepäck kam an Bord, der Wagen fuhr davon. Ich fragte nach der Kabine, und der aufsichtshabende Mann sagte mir, daß ich nicht eine Kabine oder ein Bett haben könne, sondern auf freiem Deck schlafen und mich selbst verköstigen müsse.
So? – Ich winkte einem Kuli. »Was wünschen Sie?«
»Ich werde mein Gepäck ans Land schaffen lassen und verlange von der Gesellschaft mein Geld zurück. Ich fahre nicht, bleibe in Karachi. Wie kann ich, im Dezember, auf freiem Deck schlafen, – ich, die ich tropenverwöhnt und schwerkrank bin?«
»Warten Sie, bis das Schiff fährt, dann findet sich vielleicht etwas«, meinte er begütigend, denn ich war entschlossen, nie, nie heimzukehren. Ich würde eben in Indien eine Stelle annehmen, meine Arbeiten zurückfordern und den Vertrieb der Werke von einem festen Mittelpunkt aus selbst übernehmen.
Wenn man von daheim nicht einmal richtig kabeln konnte!
Vielleicht sah ich wirklich ungewöhnlich hart und entschlossen aus (sonst mache ich nicht den Eindruck) oder, wahrscheinlicher, merkte auch er, daß ich in der Tat krank war, denn er verschwand, ich suchte den Konsul aus, und da ich italienisch sprach, wurde ich vorgelassen. Der Konsul brummte, der Mann brummte, der Kapitän brummte, und letzten Endes brummte ich, aber zum Schluß – das muß ich sehr lobend hervorheben – sperrte der Kapitän die schlechteste Kabine der Ersten aus und mich samt der Erika hinein. Für jemand anderen wäre sie in der Tat schlecht gewesen, weil sie so lag, daß kein Luftzug hineinkonnte und man im Roten Meer Gefahr lief zu zerschmelzen, aber ich war jenseits des Schmelzgrades und freute mich, einen Raum für mich allein zu haben. Ich bettete die Erika zurecht und verständigte Miß Hoff von meinem Zimmerchen. Wir nahmen Abschied. Das Schiff ging erst in der Nacht, würde aber bald wenden. Alle Besucher mußten es daher verlassen.
Sie stand lange noch unten auf dem schmucklosen Damm und winkte, und ich stand oben auf dem Schiff, das mich heimbringen sollte, und fühlte nichts, – nach all den Jahren von äußerstem Schaffen – als die Stachel erlittener Demütigungen und das Wissen, daß mein letzter Freund zurückblieb, um langsam in der unausbleiblichen Erkaltung des Getrenntseins verloren zu gehen.
In der Nacht schwanden die Lichter von Karachi, versanken als schwarze Striche die Belutschihügel, entglitt mir Indien mit seinem nie endenden Zauber …
Ich weinte nicht. Wer weint, der kann noch hoffen.