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In Venedig.

Ich dachte zurück an Karachi. Miß Mabel S. war nach Sukker zurückgekehrt. Es war besser für sie, unter den Ihren und von Liebe umgeben, zu sterben. Die kleine Modistin, ihre Busenfeindin, die ebenfalls seit langem das Heim verlassen und sich geweigert hatte, sie zu besuchen, war dem Irrsinn verfallen und nun selbst im gleichen Hospital. Sie trug einen Ring am Finger, und vielleicht glaubte sie, im Palast des steinreichen, glutäugigen Nawabs zu sein. Beide starben kurz hintereinander.

Die kleine Streitsüchtige war nach einem Ort am persischen Golf als Erzieherin gegangen, meine freundliche Wegweiserin war wieder in Sukker Missionslehrerin, Edna R. oben in Quetta an der Grenze von Belutschistan, die Französin auf der Heimfahrt, die Deutsche schon in Bremen. So waren wir alle zerstreut, die wir vor wenigen Monaten zusammen gewesen.

Selbst Jill hatte ihrer Jungfräulichkeit entsagen dürfen und Junge geworfen; nur eins lebte, die anderen kamen tot zur Welt. Man soll selbst als Hund nicht zu lange auf die Liebe verzichten; es macht sich bestraft.

Der Morgen war klar und eisig. Von den Höhen grüßte der Schnee herüber, und die Bora pfiff einem schier das Herz aus dem Leib. Die übrigen Reisenden waren schnell abgetan, doch ich als Journalistin mußte mich einem langen Kreuzverhör unterwerfen, das allerdings sehr liebenswürdig geführt wurde, aber dennoch ermüdete. Zum Schluß mußte ich den Beamten unbedingt noch zum nahen Polizeiamt begleiten. Er müsse natürlich meine Ankunft an die Grenze telegraphieren. Es wäre zu gefährlich sonst.

Himmel, so viel Umstände, um in sein eigenes Land zurückzukehren!

Der Wind biß mir beinahe die Nase weg. Oben im Raum des Gestrengen brannte ein guter Ofen, und ich ließ mich mit mehr Freude verhören. Je länger die Fragen, desto länger die Wärme, aber selbst der Wissensdurst eines italienischen Polizeibeamten erschöpft sich mit der Zeit, und so wurde ich von ihm wie ein kostbares Gut auf das Schiff zurückgebracht und freigegeben. Meine Koffer mußten ans Land geschafft werden, daher trug ein schwächlicher, stöhnender Mann sie keuchend bis zum Bahnhof, wo ich sie hinterließ, den keuchenden Mann zur nächsten Bank mitnahm und ihn auszahlte. Nicht in der ersten Bank, sondern in der zweiten, weil die erste von einer kroatischen Bank nichts annehmen wollte. Das war Europa mit seiner Kleinzügigkeit! Ich war in der Tat zu Hause …

Zum dritten Mal in meinem Leben stand ich in Venedig vor dem San Marco und zum dritten Mal traurig. Gewiß gehört zu Venedig wie zum Leben die Liebe und die Zufriedenheit des Herzens. Man kann vor dem Tadsch Mahal stehen und mit müden Augen in die unvergleichliche Pracht schauen; man kann auch unberührt vor San Marco bleiben, besonders wenn man an den Zehen friert. Ich fror, und daher trat ich, anstatt in die Kirche, in das nächste Geschäft und sagte zu dem herbeispringenden Manne:

»Haben Sie eine warme, wollene Hemdhose?«

Er brachte eine aus englischer Wolle, warm und teuer zum Erschrecken; vorwiegend teuer.

Ich fühlte meine Schenkel argentinisches Gefrierfleisch werden und erklärte kurz, die Hose nur zu kaufen, wenn ich sie gleich anziehen könne, was angesichts der drei Verkäufer ziemlich schwer schien. Er führte mich indessen in einen Warenraum, und ich erschien behost wieder, etwas weniger mit der Welt zerfallen. Ich kaufte auch Handschuhe, um meine blauen Finger westlich weiß zu machen, und zwei Kleider, damit ich nicht als vorsintflutliche Wundererscheinung eintraf.

All das hatte ziemlich viel Zeit in Anspruch genommen, denn ich hatte auch heim telegraphiert und an meinen Vertreter geschrieben, die Sammlungen an mich abgehen zu lassen. Nun fuhr ich mit dem kleinen Kanaldampfer wieder dem Bahnhof zu.

Am Vormittag hatte ich dem Schaffner an Stelle eines Zehn-Centesimo-Stückes eine Lira gegeben. Am Nachmittag erkannte er mich und gab mir das Kleingeld zurück. Das nenne ich Ehrlichkeit.

Und so höflich sind sie alle! Es umschmeichelt das Herz und die Sinne. Jeder erteilt Auskunft, jeder hilft, jeder schenkt ein Lächeln.

Der kleine Dampfer kroch allzu langsam vorwärts. Ich hatte einmal den Weg verfehlt gehabt. Nun fuhr der Zug aus der Halle, als ich eben mit dem Gepäck anlangte. Ich fuhr mit einem anderen Zuge sofort nach Mestre nach. Wieder fuhr er aus der Halle, als ich aus dem Zug sprang. Ein Nacheilen bis Triest im Luxuszug schien ebenso hoffnungslos, obwohl ich es auf Anraten des Beamten unternahm. Als ich in Triest eintraf, erfuhr ich, daß der Achtuhrzug nur bis Oktober verkehrte. Der nächste Eilzug nach Wien fuhr erst nach elf.

 

Im Wartesaal.

Nun würden mich die Behörden vergeblich an der Grenze erwarten. Ich würde aber auch, schlimmstes aller Geschicke, am Tage in meiner Vaterstadt eintreffen müssen. Alles ging fehl auf dieser Reise, vom ersten bis zum letzten Augenblick.

Im Wartezimmer der Dritten brannte ein Feuer. Es wärmte nur, wenn man dicht daneben saß. Ich hüllte mich, so gut es ging, in den leichten Schal, versuchte die kalten Füße bis an das Knie hinaufzuziehen, merkte, wie die harte Bank Striemen auf meinem Körper machte.

Draußen blies die Bora ihr Drohlied. Die Fenster klirrten, die Leute traten keuchend ein, bliesen sich die erstarrten Finger, verschwanden erst beim Nahen des Zuges. In ein Hotel gehen? Es graute mir vor dem Winde, dem ungeheizten Raum. Ein Bahnbeamter näherte sich mir, führte mich in den Saal der Zweiten, wo das Sofa weich und der Ofen etwas wärmer war. Die Neu-Guineaspeere mußten mir dies Vorrecht verschafft haben, denn wir wurden nicht entfernt. Die Uebrigen saßen dicht am Ofen, ich versuchte zu liegen, wenn nicht zu schlafen.

Triest! Mit welchen Hoffnungen war ich ausgefahren, mit welchem Mute, mit welcher Gesundheit! Wie herrlich hatte ich mir das Wiederkehren gedacht! Beim Pfeifen der Bora lag ich mit geschlossenen Augen und träumte noch einmal den Traum, der mich in der Südsee gestärkt hatte und der nun zerrann wie es Träume immer taten …

Es war Sommer, und ich fuhr über Tarvis durch das wunderschöne, geliebte Oberkrain, wo der Triglav mit seinen sieben Seen hinter der Burg Veldes aufragte, wo die Wasserfälle an blauen Enzianen und am roten Almrausch vorbeisprühten und wo ich als Kind das Lied vom roten Sarafan gehört hatte, in dem es hieß, daß die Freuden des Lebens und mit ihnen die Süße der Seligkeit kommen würden, doch daß sie schwanden und die Röte der Jugend nie auf die Wangen zurückkehrte, die Kraft und Frische der Hände verloren war, mit denen das Mütterchen den roten Sarafan nähte. Wie und warum war ich an allen Seligkeiten vorbeigeglitten? Welcher Unstern stand über der Stunde meiner Geburt?

Aber das war ja der Traum nicht. Es war Sommer, und ich sah Fahnen und Mädchen mit Blumen, und Männer, die sangen. Der Zug fuhr ein, und jemand überreichte mir die Blumen und die Wünsche und die Krainerwürste. Ich kehrte ja bald heim in mein Land! Und die Burschen sangen, während ich näher der steirischen Grenze fuhr …

Man wartete. Ueberall wartete man.

Heute wartete man auch. An der Grenze die hochlöbliche Polizei.

Dazu also hatte ich durchgehalten!? Als ob man dem Manne, der endlich mit dem Flugschiff als Erster Amerika erreicht hatte, gesagt haben würde:

»Bitte, nur hereinspaziert! Das Kerkerloch steht schon offen!«

Und was hatte er gelitten und gekämpft, verglichen mit dem, was ich durchgemacht und auch errungen hatte? So war noch keine Frau gereist, am wenigsten acht Jahre …

Vielleicht wäre es am besten gewesen, einfach zu rufen:

»Fatiniza, Fatiniza …!«

Aber nur der Schaffner mit gefrorenem Schnurrbart rief:

»Sie können einsteigen; es ist wärmer im Zug!!«

Ich stieg ein.

 

An der Grenze.

Eine kleine Bulgarin, die aus Frankreich in ihr Land zurückreiste, saß im Halbabteil. Sie wickelte die Decke fester um sich und war froh, daß ich französisch sprach. Diese Grenzen!

Wir rollten uns zusammen, beide auf einem Sitz, was nicht leicht war. Es war auch nicht für lange Zeit. Erst kam der Schaffner, um unsere Karten zu studieren, dann der Bahndiener, altes Papierwerk wegzutragen, dann der italienische Zollbeamte, um einen kurzen Abschiedsblick auf unsere Sachen zu werfen, dann ein Mann, der unseren Paß beliebäugeln wollte, endlich Postumia und dahinter meine Grenze.

Der Zollbeamte sprach Serbisch. Ich antwortete Französisch. Das verstand er nicht. Deutsch aber verstand er, und nun wurde ich zum Dolmetsch. Ich öffnete mein Gepäck. In der Schachtel hatte ich allerlei Samen und obschon eigentlich nur Wissenschaftliches, dennoch Dinge, die einer Zollbehörde Interesse einflößten. Ein Paket, in Zeitungspapier gewickelt, hielt ich gedankenverloren in der Hand. Es war Tee. Er sagte mir, ich sollte schließen. Ich legte das Paket hinein, die Gedanken weitab. Das Komische der Sache verstand ich erst im Erinnern.

Die beiden anderen Koffer überließ ich ihm, weil ich zuerst als Dolmetsch durch den Zug sollte. Es gab viele Ausländer, die nur Französisch sprachen. Das rettete meine Koffer. Fröstelnd ging ich zu meiner Erika zurück.

»Werden wir nie Ruhe haben?« fragte die Bulgarin, die schon die zweite Nacht reiste.

»Noch lange nicht!« sagte ich mit der Lust eines Unheilvogels. Ruhe, das begann ich zu verstehen, fand man nur im Grabe …

Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür, und der Paßbeamte stand wie die Säule eherner Gerechtigkeit auf der Schwelle. Er las meinen Wisch – den Ausweis des Gouverneurs von Sind –, der ihn kalt ließ, und bemerkte mißtrauisch:

»Sie sind keine Jugoslavin!«

»Ich bin es!« behauptete ich.

»Das kann jeder sagen!« Kam da jemand vom Lande der Tiger und wollte zum mächtigen Königreich …!! »Haben Sie noch den alten Paß?« erkundigte er sich, da ich meine noch nicht verdunsteten slovenischen Redensarten hervorholte, von denen mir die mit drei Worten wohl als angenehmste, doch diesseits der Grenze nicht als diplomatisch empfehlenswerteste schien.

Ich reichte ihm das Wunder von vier Weltteilen. Er verschwand.

Die Bulgarin rollte sich fester in ihren Wollschal.

»Haben wir jetzt Ruhe?«

»O nein!« erwiderte ich hoffnungsvoll.

Nach einer Viertelstunde kam der Beamte und gab mir die Papiere zurück.

»Gut, daß Sie den alten Paß hatten,« meinte er freundlicher, »sonst hätte ich es nie geglaubt!«

Er hatte recht; ich glaubte auch an nichts mehr.

»Jetzt werden wir Ruhe haben!« meinte ich und lachte. Lachte, weil ich tausendmal unterwegs geträumt hatte, was der Zollbeamte Schönes sagen würde, wenn er endlich mich und den Paß sah. Nun wußte ich genau, was er sagen würde und sagen wollte.

Mit Hinsicht auf die Ruhe hatte ich mich getäuscht. Der Schaffner, ein älterer Mann, stammte scheinbar aus unserem Gebiet. Er sah mich an und sprach Deutsch. Es rührte mich zu einem Trinkgeld. Hier war noch einer von den Alten. Er stellte mir eine neue Karte aus und befahl mir, in Laibach umzusteigen.

Es war zwischen drei und vier Uhr früh. Der Tag, der da herandämmern würde, brachte sicher viel Leid. Schweres auf jeden Fall. Ich wollte schlafen. Da vergaß man alles, selbst die Wünsche seines Herzens.

Aber zu zweien auf einer zu engen Bank gelingt es nicht. Ich döste mit zusammengezogenen Gliedern, bis der Morgen grau über die Schneefelder kroch, dann suchte ich meine Habseligkeiten in Ordnung zu bringen.

War dieser leere Bahnhof, diese verschneite kleine Stadt wirklich Laibach? Der Schaffner bestätigte es, half mir beim Umsteigen. Ich trat in ein gut geheiztes Abteil, in dem zwei Herren mit finsteren Gesichtern slawische Blätter lasen. Geräuschlos legte ich die Speere ins Netz und meine Erika darauf. Zog den rotweißen Mantel aus und blieb im weißen Wollkleide sitzen. Ganz wie andere Sterbliche, nur vielleicht etwas brauner über dem gelbweißen Malariaton des Gesichts.

 

Die Dame im Zug.

Es schneite.

Die Buchen neigten sich unter der Last, tiefgesenkt standen die Weiden am Rande schmaler Bäche. Ein Wald ähnelte dem anderen, ein Ort war wie der vorige, und die Namen hatten sich alle verändert. In den Schluchten waren vereiste Mühlen, auf der verschneiten Straße ging eine gebückte Bäuerin mit dem Rückenkorb, das Kopftuch unter dem Kinn geknotet, die weiten Röcke aufgeschürzt. Wo war ich?

Ein Ort wie der andere, unerkennbar, fremdbenannt. Am Ende fuhr ich an meiner Vaterstadt vorüber, ohne es zu bemerken. Die Sache erschien mir komisch – – wie einem bei einem Begräbnis ein sonderbarer Zwischenfall komisch erscheinen mag, dann dachte ich wieder, den Blick auf den Schneefeldern, wie damals, als ich in die Novembernacht hineingefahren war:

»Wenn sie tot ist, steige ich nicht aus. Ich fahre nach Marburg weiter und von da ins Ausland zurück!«

Seit mehreren Wochen war ich ohne Nachricht. Vielleicht war all mein Hasten, waren alle Opfer und Demütigungen nutzlos.

Was erwartete mich – – –?

Ungewisser als meine Ausfahrt war mein Heimkehren nach vielen Jahren.

Bekannter war ich in der weiten Welt, in Indien, in Neuseeland, in …

Eine Dame stieg ein und entfaltete die »Woche«. Sie verstand also Deutsch. Nach einem kurzen Zögern fragte ich:

»Ich bitte, sind wir schon an Steinbrück vorübergekommen?«

Sie hob den Kopf und sagte:

»Die nächste Station ist Steinbrück.«

Ich dankte und lehnte mich zurück. Gott sei Dank, daß es schneite! Das war ein Schleier, der Wohltat.

Die Dame hatte das Blatt fallen gelassen und beobachtete mich verstohlen. Ich war sicher, sie nicht zu kennen. Wir verließen Steinbrück. Sie fragte nach meinem Reiseziel, und ich nannte es.

»Sie fahren zu Besuch?« erkundigte sie sich.

Ich hätte gern gesagt, daß es nur ein Besuch war. Ganz müde entgegnete ich, denn nach weiteren zwei Orten war ich am Ziel, daß ich in jener Stadt lebte. Sollte ich fragen?

Aber ich fragte nicht. Da sagte sie, mich fest anblickend:

»Ich glaube zu erraten, wer Sie sind! Sie sind die Schriftstellerin …«

So mag es Ulysses gewesen sein, als der getreue alte Hund in Ithaka an ihm hochgesprungen war. »Wie sehr auch die Sonne das Antlitz verbrannt …!« Jemand kannte mich also doch – dem Namen nach?! War alles nicht ganz, ganz umsonst gewesen?

Von all den weißgekleideten Mädchen, dem Ehrenbogen, der Musik, den Gesichtern liebender Freunde war also nichts geblieben, als diese eine Unbekannte?

Immerhin eine, die an mich gedacht hatte, während ich draußen gedarbt und gelitten, eine, die gelesen und sich darüber gefreut hatte.

Eine.

Gott segne diese Eine.

Der Herr, der so finster in sein fremdsprachiges Blatt geblickt hatte, half mir plötzlich, die Erika herunterheben, der Schaffner kam und warf meine Koffer ins Freie. Grau war der Morgen, weiß wie ein Leichentuch der Schnee.

Ich stand mitten auf der weichen Masse. Das war der Boden meiner Heimat.

In der Hand hielt ich die Neu-Guinea-Pfeile, zu Füßen stand die Erika. Da sagte eine fremde Stimme:

»Sind Sie Fräulein Karlin? Ich wohne in Ihrem Hause.«

Ich war sie, nach der er gefragt hatte, und das Haus war mein Haus; leider! Ich folgte ihm.


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