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Dreizehntes Kapitel

Man lief, man suchte eine Zeitlang, fragte diesen und jenen um Auskunft und stand mit einem Male vorm Eingang »Zur goldenen Gans«. Im vordern Zimmer des Gasthauses saßen Stammgäste beim Bier, labten sich an Rettichen und sahen keineswegs so aus, als ob es ihnen im Lande nicht gefiele. Das waren also die Menschen nicht, die der Lorenz suchte. Man fragte, wo sich denn die Auswanderer aufhielten, die am andern Morgen auf einem der Rheindampfer sollten eingeschifft werden, um über Köln nach Bremerhaven befördert zu werden, und man wurde in ein Nebenzimmer gewiesen. Da sah es ganz anders aus als im Gastzimmer. Nirgends eine Spur von Komfort. Kein Bild an der Wand, keine Uhr, nichts als graue streifige Tapete. An den Fenstern keine Vorhänge, nichts als die simple Blendung der Scheiben mit weißer Ölfarbe. Tische und Stühle, die einzigen Möbel, so verschieden in ihrem Alter, ihrer Form, ihrem Material, ließen vermuten, daß sie aus unterschiedlichen Pfandhausversteigerungen zusammengetragen waren und hatten nichts Gemeinsames als die innere Gebrechlichkeit. Das ganze Zimmer sah so interimistisch, so provisorisch aus, und ohne daß es irgendwo geschrieben stand, konnte doch jeder Erfahrene in ihm die Aufschrift lesen: »Gut genug für ein solches Pack und die eine Nacht, die sie hier zubringen.«

Auf den Tischen lagen und standen Kleiderbündel, Kochgeschirr, Stücke Brot, angebissene Äpfel und hie und da ein abgestandener Rest Bier. Den Wänden entlang saßen auf den Bänken kleine Gruppen von Menschen, die durch die Verschiedenartigkeit ihrer Trachten anzeigten, daß sie Stichproben des ganzen deutschen Vaterlandes seien. Sie krochen förmlich ineinander hinein, nur zuweilen, wenn sie sich nicht beobachtet glaubten, warfen sie scheue, mißtrauische Blicke, in denen gleichwohl sich die Neugierde spiegelte, zu erfahren, wer ihre Schicksalsgenossen seien und wohin sie wohl reisen möchten, von einem zum andern. So oft die Tür aufging, wendeten sich aller Augen ihr zu und die Eingesessenen musterten die Neuankommenden, ihre Gesichter, ihre Kleidung, ihr Gepäck, um aus diesen Dingen einen vorläufigen Aufschluß über Heimat, Charakter und Lebensstellung ihrer Mitreisenden zu gewinnen.

Auch unsere Freunde waren durch die fragenden Blicke Spießruten gelaufen, hatten ihre Bündel am Ende einer langen Tafel zu einem Haufen aufgetürmt und versteckten sich hinter demselben. Der Trennungsschmerz der jüngsten Vergangenheit und die Ungewißheit der nächsten Zukunft zeichneten in alle, auch die jugendlichen Gesichter, die dunklen Linien einer tiefen Schwermut. Was man ansah, das bißchen Hausrat, das man mitgebracht, die braunen Töpfe, die da herumstanden, das weiße Leinen, in dem man seine Habseligkeiten fortschleppte, malten das Bild des zurückgebliebenen Vaterhauses, der Eltern und Geschwister, der Freunde und Verwandten, das Glück und den ganzen stillen Frieden des in seinen grünen Matten gebetteten Gebirgsdorfes vor die trauernde Seele und hüllten das Auge in den feuchten Glanz der Tränen. Die ganze tiefe Melancholie, die den öden Raum füllte, teilte sich einem jeden mit; und selbst den Lorenz überschlich zum ersten Male in seinem Leben ein seltsames Sehnen nach etwas Verlorenem, die ersten befremdlichen Regungen des Heimwehs. Was gestern noch alltäglich, so selbstverständlich war, erschien ihm heute, aus der Ferne gesehen, so traut, so begehrenswert. Was das Morgen bringen sollte, lag so unbestimmt vor ihm, daß er eigentlich nur eine große Öde sah, in der niemand war, der ihm ratend und helfend hätte beispringen können, und jetzt keimte in ihm der Gedanke, ob er nicht den Dorfteufel veranlassen könne, mit ihm zu reisen. Bevor er etwas sagte, ging er in einer Ecke des Zimmers mit seinem Geldbeutel zurate und überlegte, ob er die Mittel habe, seinen Plan auszuführen.

Da ging die Tür auf, und ein Auswanderer von ganz anderem Schrot und Korn als die Anwesenden trat herein.

Das erste, was den Neuankommenden auszeichnete, war der Umstand, daß er keinerlei Gepäck hatte; für ihn gab es bereits Reisebureaus, Lagerräume für Handgepäck und Dienstmänner. Wie käme ein Mann von seiner Bedeutung dazu, sich mit allerlei Kisten und Kästen zu beschleppen; er hatte genug zu tragen an der schweren goldenen Uhrkette, die ihm von einer Westentasche zur anderen über das imposante Vorgebirge seines Bauches herüberhing und an den Ringen, die reichlich ein Drittel seiner Finger unter einer schweren Vergoldung unsichtbar machten. In dem fetten Gesicht wiegte sich auf einer leicht verkupferten Nase ein goldener Zwicker, der seiner Schwere nach ganz gut als Kuhjoch hätte Verwendung finden können, und die Knöpfe in dem Vorhemd waren so umfangreich, daß es den Anschein hatte, als wenn sie sich von den Manschetten nach oben verirrt hätten.

Dieser Mann, der die Bewunderung aller unserer Freunde in hohem Maße erregte, ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, damit man auch seiner Kehrseite die gebührende Beachtung schenken könne, winkte dann den Kellner mit der Weinkarte zu sich heran und fuhr, ohne ein Wort zu reden, mit dem Nagel des rechten Zeigefingers langsam und bedächtig von der linken Kante des Papiers zur rechten. Der Kellner, als ob er kurzsichtig wäre, fuhr diesen Strich mit der Nase nach, dann sah man die Schwalbenschwänze seines Frackes unter der Tür verschwinden. Schneller als man ahnen konnte, war er wieder zurück und pflanzte eine Flasche roten Burgunders auf der Tischecke auf, die ihm ein neuerliches Fingerzeichen des Fremden bezeichnete. Dieser selber setzte übrigens seine Promenade durchs Zimmer eifrig fort und nur zuweilen kehrte er zur Flasche zurück, um ein Glas des dunkelroten Rebensaftes hastig in sich hineinzuschütten. Als er endlich von seinen Rekognoszierungsgängen ermüdet war, suchte er einen Stuhl, um sich vor der Weinflasche niederzusetzen. Zufällig erwischte er einen invaliden und als er sah, daß nur noch drei Beine Vertrauen verdienten, so trat er auch diese ab, zerriß mit den Händen das Gestell der Rückenlehne und warf das Ganze wie einen Haufen Kaffeeholz unter den Tisch.

Den Zuschauern imponierte diese Tat ungemein, denn ein jeder sagte sich, daß der Unbekannte den Rückhalt für sein brutales Vorgehen entweder in seiner Persönlichkeit oder mindestens in seinem Portemonnaie besitzen müsse.

Der gewichtige Herr sah sich derweilen nach einem andern Stuhle um, den er mit seiner Leibesfülle belasten wollte und als er erst glücklich einmal saß, wurde er leutselig und herablassend und wendete sich zunächst an unsern Lorenz mit der gewiß berechtigten Frage, wohin er zu reisen und in welcher Weise er in Amerika sein Leben einzurichten gedenke. Der Lorenz machte die bekannte Pantomime mit der Hand über seine rechte Schulter und sagte auf das wohin?: »Hintere nach Buffalo, wo ich einen Onkel habe, der mich bei den Pferden oder auch beim Rindvieh verwenden kann.«

Der Fremde schien die Antwort kaum gehört zu haben, denn seine Blicke musterten, während sie erfolgte, mit großem Interesse die braunen Schwarzwaldmädchen, vor allem aber den Michael Hely.

Sein intelligentes Gesicht und sein bewegliches Wesen machten offenbar einen guten Eindruck auf den Mann, in dessen Zügen man deutlich lesen konnte, daß er für den Jungen einen Plan fix und fertig habe. Ohne zu wissen, ob derselbe überhaupt nach Amerika reise oder nicht, sagte er trocken: »Für Dich habe ich eine Stelle. Barkeeper in meinem Austernsalon.«

Der Hely meinte: »Wenn ihn jemand mitnehmen wolle, so ginge er gern, aber er habe kein Reisegeld und wäre auch lieber zu Schafen gegangen als in eine Wirtschaft.« Der Fremde versprach ihm das Reisegeld auszulegen, »aber Barkeeper mußt Du unter allen Umständen werden. Das ist die erste Sprosse auf der Leiter zum Millionär. Zwischenherein kannst Du wohl einmal die Schafe hüten. Allein jedes regelrechte Avancement beginnt in Amerika mit dem Barkeeper. Auch ich habe so angefangen und jetzt bin ich der Besitzer eines Austernsalons, einer Bierbrauerei, einer Nagelmühle und besorge so nebenher noch an Sonntagen das Amt eines Predigers in einer freireligiösen Gemeinde.«

Als sich dem Michael Hely eine solche Perspektive auf Reichtum und Stellungen eröffnete, willigte er ein Barkeeper zu werden, obgleich er noch keine Ahnung hatte, welche Rechte oder Pflichten mit seiner zukünftigen Würde verbunden seien.

Während dieser Auseinandersetzung waren die lauernden Augen des Fremden an den Körpern der Schwarzwaldmädchen suchend und tastend auf- und niedergegangen. Die Hände eines Viehhändlers waren nicht geschickter das Fleisch an den intimsten Stellen herauszufinden, als es seine Blicke vermochten. Nicht, daß sich Lüsternheit und verhaltene Gier aus seinen Augen stahl, nein, es war nur die prüfende Musterung eines überlegenen Menschen, der Kenner ist, der nur die Ware vertreibt ohne sie selber zu genießen.

Die Mädchen zitterten unter diesen Blicken in einem unbestimmten Gefühl von Angst, wie die Taube zittert, wenn über ihr der Geier schwebt. Mit instinktiver Scham empfand jede, daß sie vor diesem Manne manches zu verbergen hatte und so suchte eine um die andere das flammende Antlitz und den wogenden Busen hinter dem Rücken ihrer Nachbarin zu verstecken, bis nur mehr eine übrig blieb, mit der sich die folgende Unterhaltung abspielte:

»Und Sie, was werden Sie in der Neuen Welt beginnen?«

»Ich suche einen Dienst.«

»Einen Dienst, das ist zu allgemein. Sagen Sie lieber, was wollen, was können Sie schaffen?«

»Vielleicht könnte ich zu Kindern kommen.«

»Zu Kindern kommen? Hahaha! Das hätten Sie zu Hause gekonnt, das eben sollen Sie nicht. Sie sollen nicht zu Kindern kommen. So dumm ist drüben niemand. Nein, Sie sollen gut leben, sich putzen, spazieren fahren. Wer so schön ist wie Sie, muß nicht zu Kindern kommen wollen. Es ist zum Lachen. Überlassen Sie es mir, für Ihr Fortkommen zu sorgen. Für Sie und den Kleinen da will ich die Tickets kaufen. Auch diesem will ich gern behilflich sein, nur muß er mir versprechen, drüben eine bessere Sorte Tabak zu rauchen, als die ist, die er eben im Feuer hat.« Damit wendete er sich nach dem Lorenz um und winkte ihm gönnerhaft zu.

»Ihr seid sehr gütig,« sagte das harmlose Kind der Berge und es hätte gern noch mehr gesagt, um seinem Danke Ausdruck zu verleihen, wenn nicht eben ein Polizist in strammer Haltung neben dem Fremden aufgetaucht wäre.

Ein paar leise Worte wurden gewechselt. Der Dicke schien einen Augenblick betreten, aber er faßte sich alsbald wieder und ging, als ob er zu einem Spaziergang aufgefordert wäre, unbefangen neben dem Diener des Gesetzes aus dem Zimmer.

Von der Tür aus rief er noch einmal in die Stube zurück: »Scherereien mit meinen Pässen und dem Gepäck. Ich werde mit der Bahn nachfahren. Spätestens sehen wir uns in Mainz wieder.«

Als der Fremde weg war, versammelte sich die ganze Gesellschaft der Auswanderer um die Helden unserer Erzählung, wie sich einst Israel um die Kundschafter Josua und Kaleb versammelte. Denn wie diese hatten die Glücklichen ein sehr respektables Stück des gelobten Landes in der Person des Fremden kennen gelernt. Zwar hatten ihn alle gesehen, alle gleich gut gehört was gesprochen worden war, aber gleichwohl rückten sie den wenigen Bevorzugten näher auf den Leib und ließen sich wieder und wieder erzählen, wie die Unterhaltung begann, sich fortsetzte und wie sie endete. Man beneidete sie um die mächtige Protektion, deren sie sich von jetzt zu erfreuen schienen; denn ihr Gönner war reich, steinreich, das konnte ein Schielender sehen und ein Blinder riechen. Der Mann war Deutsch-Amerikaner, das erhöhte das Interesse an seiner Persönlichkeit, er war arm hinübergekommen und reich geworden, damit stahl er sich förmlich ins intimste Seelenleben dieser Leute hinein, er war ihnen kein Fremder mehr, er hatte erreicht, was sie erstrebten. Er war mithin ihr Vorbild, ja die eigene Fortsetzung eines jeden. Er war der starke, aufrechtstehende Baum, an dem der immergrüne Efeu ihrer Hoffnungen und Wünsche sich aufrichtete und emporrankte. Er war so mächtig, daß sogar die Uniform des Polizisten vor ihm ihre Schrecken verlor. War er nicht fast mit dem gefürchteten Diener der Gerechtigkeit umgegangen, als ob er einer seiner Knechte wäre? Er war, was sie erst werden wollten.

Sein Erscheinen hatte die trübselige Stimmung von vorhin verbannt und die Gedanken im Fluge über Jahrzehnte hinweg zu dem Augenblick hingetragen, wo ein jedes von ihnen reich mit Schätzen beladen in die Heimat und in den Kreis all der Lieben, denen man gestern so wehmutsvoll Lebewohl gesagt, zurückkehren konnte, um sich nicht mehr von ihnen zu trennen.

Jetzt, wo das Eis kühler Zurückhaltung gebrochen war, kam man rasch einander näher, wurde vertrauter, war aufgeräumt und guter Dinge. Man ließ ein paar Glas Bier kommen, die von Mund zu Mund im Kreise herumwanderten; andere bestellten sich eine Portion Käse oder eine kleine dicke Knoblauchswurst. Man war der reine Verschwender geworden und tat so, als ob man die erträumten Millionen bereits als reale Wirklichkeiten in der Tasche hätte.

Nur der Lorenz war stumm und einsilbiger als vordem. Die Bemerkung, daß er einen schlechten Tabak rauche hatte sein Ehrgefühl verletzt. In diesem Punkte war er empfindlich. Rauchte er denn nicht etwa gut genug? AB-Reiter, das runde Packet zu drei Kreuzern! Gab's denn Menschen, welche die Verschwendung noch weiter trieben?

Er nahm sich den zukünftigen Barkeeper beiseite und ging mit ihm vor die Tür. Draußen unter vier Augen fragte er ihn auf Ehre und Gewissen, was das für eine Sorte sei, die der Herr Pfarrer rauche. Als er erfuhr, es sei schwarzer Kanaster, halb Blätter, halb Rippen, war sein Plan fix und fertig. Er ging zurück, nahm den Überzug eines Kopfkissens und verschwand mit diesem und dem Barkeeper in den Gassen der Stadt.

Als sie zu einem Hause kamen, vor dem ein schwarzlackierter Mohr aus Gips aus einer weißen Tonpfeife rauchte, griffen sie beherzt nach der messingenen Türklinke und traten ein. »Haben Sie schwarzen Kanaster, halb Rippen, halb Blätter?« fragte der Lorenz, und als die Antwort bejahend ausfiel, öffnete er den Schlitz in dem Kissenüberzug, ließ sich hineinfüllen, soviel hineinging, bezahlte und trat über die Schwelle des Ladens den Rückweg an nach der Auswanderer-Herberge.

Der Kaufmann, der seinen Kunden offenbar für einen Kleinkrämer vom Lande hielt, bedankte sich für das Geschäft und rief ihm nach: »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen,« rief der Dorfteufel, »aber nicht in Ihrem Laden. Was wir an Sachen brauchen, holt demnächst unser Diener.«

Aus der Straße kam dann nach kurzer Unterredung zwischen dem Lorenz und dem Michael Hely noch folgender Separatvertrag zustande: »Der Barkeeper übernimmt auf eigene Rechnung und Gefahr den Transport des eingekauften Tabaks von Mannheim bis nach Amerika und erhält dafür nach eigener Wahl eine Mundharmonika, die von zwei Seiten zu spielen ist und in einem Messinggehäuse stecken muß. Der bedungene Gegenstand sollte sofort zur Stelle geschafft und dem Barkeeper zur freien Benutzung übergeben werden.«

Ein Soldat, der gerade des Wegs kam, wurde angehalten und um Auskunft gebeten. Er wies unsere Freunde in ein Spielwarengeschäft, wo sie bald fanden, was sie suchten. Als sie mit dem Tabak und der Mundharmonika endlich unter freiem Himmel standen, war es bereits finstere Nacht. Einige Öllampen, die an eisernen Ketten über der Straße baumelten, qualmten aus Leibeskräften und taten auch sonst alles, was sie konnten, um die Finsternis recht anschaulich zu machen. Allein all die Helle und der Glanz, die sie produzierten, war nur eben ausreichend, um ihr eigenes Eisengerippe zu beleuchten und es noch mit einem rotglühenden Heiligenscheine zu umgeben. Auf den Straßen unten herrschte eine infernale Dunkelheit und niemand war imstande, weiter als bis zu seinem vierten Westenknopf abwärts zu sehen. Ohne die Führung des Barkeepers hätte der Lorenz im Leben nicht mehr den Weg zurück nach der Herberge gefunden, denn er hatte auch die Schildbezeichnung des Logishauses richtig vergessen. Wohl wußte er, daß irgendein Federvieh bei der Taufe des Wirtshauses Pate gestanden, ob dies aber ein Storch, eine Gans oder ein Uhu war, das war ihm vollkommen schleierhaft. Sein Gefährte aber war vorsichtiger gewesen; er hatte auf dem Herwege von Zeit zu Zeit einen Kreidestrich an die Laternenpfähle gemacht. Diese sah man eben noch bei der trübseligen Beleuchtung und diesen gingen sie jetzt nach und so kamen sie ohne jede Fährlichkeit bald nach Hause.

Dieser neue Beweis von Mutterwitz und angeborener Geriebenheit vermehrte das Ansehen, in dem der Knabe bereits stand, und unter den Auswanderern war niemand, der gerne freiwillig auf seine Reisebegleitung verzichtet hätte.

Die übrigen Leute von der Gesellschaft traf man noch in der gleichen Verfassung wie man sie verlassen hatte, zu Scherzen und kleinen Ausgelassenheiten aufgelegt. Auch die Mundharmonika trug das Ihre dazu bei, die Trauer und das Heimweh zu vertreiben und diese verscheuchten Menschenkinder einander näher zu bringen.

Als der Schlaf seine Rechte geltend machte, wurden diejenigen, die für ihre Nachtruhe sechs Kreuzer aufzuwenden wagten, von einer drallen Magd über ausgetretene Stufen nach einer engen Dachkammer geleitet, wo sie zwischen dem Fuß- und Kopfende der Lade etwas vorfanden, das mit einem Bette aus einer gänsereichen Gegend, wie es die Auswanderer zu sehen gewohnt waren, eine nur sehr entfernte Ähnlichkeit hatte.

Wer die Ausgabe scheute, streckte sich auf den Bänken aus, schob sein Bündel unter das Haupt und überließ es der Müdigkeit, den Schlaf herbeizurufen, der allerdings durch die Bequemlichkeit der Lagerung allein kaum angelockt worden wäre. Sie alle, in ihren Träumen noch bescheiden, sahen Reichtümer und so gewaltige Schätze, daß man damit ein eigenes Häuschen kaufen konnte und Land, so weite Strecken, daß es ausreichend wäre, zwei Kühe zu ernähren und Kartoffeln darauf zu Pflanzen und Kraut und grüne Bohnen. Ja, dann wollte man es sich bequem machen und wollte ein Schwein füttern und wenn es erst so recht fett war, dann wollte man aus dem Hause gehn und der Metzger sollte es schlachten; denn man wollte nicht zugegen sein in dem Augenblick, wo das arme Tier die schreckliche Überzeugung gewinnen mußte, daß alles, was die Menschen seither Liebes und Gutes an ihm getan, nur berechnende Schlauheit und gräßlicher Eigennutz gewesen seien.

Welch' bescheidene Vorstellungen von Wohlleben und Glück! So hüllt der Mensch im Anfang die Begehrlichkeit in enge Windeln; aber das Glück füttert sie, daß sie wächst und daß ihr selbst ein Herzogsmantel zu eng erscheint.

Am nächsten Morgen rief eines dem andern ermunternd zu und bald waren alle reisefertig. Die Hopfenzupfer wollten den Auswanderern noch das Geleite zum Rhein geben und so brachen, als eben die Nacht der Dämmerung wich, alle gemeinsam auf. Ein leichter Nebel, den der Westwind vom Wasser abgetrieben und in der Stadt verzottelt hatte, kroch am Boden hin und verwandelte den Straßenstaub in eine zähe, schlüpfrige Schmiere, die jeden Pflasterstein sorgfältig überzog und auf der die über und über mit Nägeln besetzten Schuhe der Reisenden nur schwer den nötigen Halt fanden. Neben dem mit gehobenem Selbstgefühl einherschreitenden Lorenz trottelte der Michael Hely. Er hatte den mit Tabak gefüllten Kissenüberzug wie eine Haube über den Kopf gestülpt, so daß dessen Zipfel bis zu seinen Schultern niederhingen. Er gaffte an den Häusern in die Höhe und zog, leise präludierend, mit den müßigen Händen die Mundharmonika langsam zwischen den Lippen hin und her. Zu allem Unglück kam ihm jetzt ein Hund zwischen die Beine und ehe noch ein Mensch wußte, wie dies zugegangen sein konnte, lag der schwarze Portorico, halb Blatt, halb Rippen, in einem tiefen, von Schlamm und schmutziger Jauche gefülltem Floß, wie sie damals die Monotonie des Mannheimer Straßenpflasters so belebend unterbrachen. Während der künftige Millionär platt im Schmutze liegen blieb und mit allen zehn Fingern nach der Harmonika angelte, die spurlos untergesunken war, fiel dem Lorenz vor Schrecken die Pfeife aus dem Mund. Zwar war sie nicht in Scherben gegangen, aber wenn dies auch der Fall gewesen wäre, und wenn selbst die Welt in Trümmer zerfallen wäre, seine Niedergeschlagenheit war keiner Steigerung mehr fähig. Am liebsten wäre er wieder heimgekehrt. Was nützte ihm die schönste Pfeife mit noch so grünen Troddeln, wenn der Tabak feucht war und nicht brennen wollte, und wie sollte er ohne Tabak leben und in Amerika weiterkommen?

Allein es war keine Zeit, sich diesen traurigen Erwägungen allzulange hinzugeben; eiligst suchte er zu retten, was zu retten war. Mit einer überraschend flinken Handbewegung hob er das Bündel aus dem tabakfeindlichen Element und schüttelte den Inhalt des Kopfkissens aufs Trottoir. Hier sortierte er nun in sehr übler Laune seine Ware, während sich die Ihleins Lisbeth mit einer provisorischen Säuberung des Barkeepers befaßte. Was gut war, barg der Lorenz in den Taschen und Ärmeln seines ausgezogenen Wamses, das Schlechte legte er in den Kissenüberzug zurück und warf diesen über die eigenen Schultern. So setzte man mit einiger Verspätung den Gang nach dem Rheine fort.

Auf dieser Strecke ließ die Ihleins Lisbeth den Barkeeper nicht mehr von der Hand. Je näher der Augenblick der Trennung kam, um so mehr fühlte diese vom Unglück geläuterte Seele das Band, das sie mit dem von aller Welt Verstoßenen verknüpfte. Sie griff in ihre Tasche, holte ein grünes Bändchen heraus, legte es ihm um den Hals und schob eine kleine Medaille vorn unter den Hemdekragen des Knaben. »Die Muttergottes von Dettelbach möge Dich schützen auf allen Deinen Wegen,« murmelte sie leise, wie segnend über seinem Haupte, dann suchte sie unter den Münzen ihres Geldbeutels und was sie entbehrlich fand, schob sie in die Westentasche des Knaben. »Sei fleißig und wenn Du einst wiederkommst und ehrlich verdientes Geld mitbringst, dann gibst Du mir das wieder zurück.« Nach diesen Worten sprach sie nichts mehr und nur an dem warmen Druck der Hand fühlte der jugendliche Auswanderer, daß auch er in der Heimat ein Wesen zurücklasse, dem sein Scheiden nahe ging.

 


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