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Achtes Kapitel

An dieser Stelle seiner Erzählung brach der Michael Hely ab, ging vor die Tür, holte frische Holzscheite, um das niederbrennende Feuer zu unterhalten. Wir benützten die Pause, um uns in einem tiefen Atemzuge Luft zu verschaffen von der schauerlichen Bangigkeit, die unsere Brust zusammenschnürte; dann wagten wir die Beine zu strecken und sahen einander an. Eine fahle Blässe lag auf jedem Gesicht, die auch durch das grelle Rot unserer Käppis nicht belebt wurde. Es war offenbar, ein Gefühl durchbebte uns alle. Es war jene prickelnde Erregung der Nerven, die halb Lustgefühl ist und halb Unlust; jener Reiz des Schauervollen, der uns ängstigt und doch freut, dem wir entfliehen möchten, dem wir uns aber gleichwohl nicht entziehen können. Doch es gab noch eine andere Ursache unserer Erregung. Das ganze Zimmer war nämlich mit Rauch und Kohlendunst erfüllt, und der Wind, der ab und zu in den Schornstein stieß, jagte die Asche von der Feuerstelle und streute sie wie Mehltau über unsere Kleider.

Als der Michael Hely vom Gange, wo er sein Holz liegen hatte, wieder ins Zimmer trat, kam ihm die verdorbene Luft des Raumes zum Bewußtsein und er bat uns, das Stroh herauszunehmen, womit die Schießscharten verstopft waren, und den Laden am Fenster ein wenig zu öffnen. So strich der feuchte Dunst ins Freie und kroch erkaltend an der Außenseite der Turmes hinauf, wo eine schmutziggraue Straße anzeigte, daß schon seit hundert und mehr Jahren die Ventilation des Turmgemaches die gleiche sei. Als es im Zimmer heller war, schlossen wir wieder die Löcher, setzten uns etwas erleichtert nieder, und der Michael Hely begann aufs neue:

»Dort, wo der Atlas gegen das Mittelmeer abfällt, im sogenannten Tell, liegt Orleansville. Die Backsteinmauern seiner Kasernen spiegeln sich in den Fluten des großen Scheliff, ebenso wie die roten Hosen der Soldaten, die Zigaretten rauchend und plaudernd auf den Kaimauern herumlaufen. Orleansville ist eine so moderne Stadt, daß menschlicher Berechnung nach deren erster Einwohner noch heute lebt. Sie verdankt ihr Entstehen strategischen Erwägungen, und diejenigen, die sie bevölkerten, waren versprengte Exemplare aller bekannten Menschenrassen, die unter dem Sammelnamen Fremdenlegion die Kasernen füllten.

Einer dieser Legionäre und mein Stubengenosse war Gaston Riviere, ein Mensch, der die Kraft eines Stieres mit der Gutmütigkeit eines Pudels in seiner Person vereinigte.

Eines Tages wurden dreizehn Mann unter Führung eines Unteroffiziers beordert, ein Schreiben an den Amine der Kabylenstämme in Oran oben zu überbringen. Gaston und ich waren dabei.

Wir zogen ab und liefen viele Tage den Wassern des Scheliff entgegen, der in grausigen Schluchten sich seine Straße zum Meere gebrochen hat. Langsam und vorsichtig setzten auf dem schmalen Felsenpfade die Maultiere, die uns trugen, einen Fuß vor den andern und manchmal blieben sie gar ganz stehen und naschten an dem Thymian oder an den Blättern des Mastixstrauches, den das Hochland der ›Schotts‹ hervorbringt.

Zuweilen führte unser Weg durch eine Furt von einem Ufer des Flusses zum andern. Dann gingen unsere Tiere bedächtig vor, setzten den einen Vorderfuß im Flußbett fest und sondierten mit dem andern, ob das Niveau sich senkte oder hob. Für uns gab es kein anderes Mittel, den mit der Tageszeit wechselnden Wasserstand des Flusses zu beurteilen, als den Instinkt und die Klugheit unserer Maultiere. Waren sie durch Zureden nicht zu bewegen, den Fluß zu überschreiten, so blieb uns nichts anderes übrig, als am diesseitigen Ufer zu harren, bis die Verhältnisse im Strom sich gebessert hatten. Gewöhnlich war der Abend die Zeit des höchsten Wasserstandes, weil dann der auf den Höhen der Tiaretberge über Tag geschmolzene Schnee unter Schäumen und Gurgeln sich durch die Schluchten und Biegungen des Stromes drängte und seine Wassermasse um das Fünf- bis Zehnfache vermehrte.

So ereignete es sich des öftern, daß wir die aus Reiserhütten bestehenden, Gurbis genannten Dörfer der seßhaften Eingeborenen nicht mehr erreichten und uns im Freien einrichten mußten, wie es eben gehen wollte. Wir zündeten dann ein Feuer an, um die räuberischen Wölfe abzuschrecken, banden unsere Maultiere an Pflöcken fest, die wir in die Erde rammten und deckten somit jedem derselben auf dem saftigen Rasen einen runden Tisch, dessen Größe durch die Länge des Strickes gegeben war, an dem sie sich wie der Uhrzeiger am Zifferblatt um den Pflock als Mittelpunkt eines Kreises bewegen konnten. Nachdem wir so für die Tiere gesorgt, durchstöberten wir unser Gepäck und suchten nach Dingen, die geeignet wären, in irgendeiner Zubereitung unserem wenig anspruchsvollen Soldatenmagen als Abendessen zu dienen. Reis und Maccaroni wanderten mit gevierteilten Hühnern in die Feldkessel und schmorten duftend über dem Feuer. Dazu kam als Getränke ein Schluck Raki oder Dattelschnaps aus der Feldflasche, und nach dem Essen ein Pfeifenkopf voll Tabak, bei dessen sanfter Glut wir alle hinter uns liegende Mühen des Tages vergaßen und alle vor uns liegende Gefahren, welche die Nacht uns bringen konnte.

Aber nicht immer war soviel vorhanden, daß wir alle Anforderungen unseres Magens ganz befriedigen konnten, er mußte sich oft genug mit einer Abschlagszahlung begnügen und zuweilen sogar mit der schmeichelnden Hoffnung, daß wir es in den nächsten Tagen besser haben würden.

In solcher Verfassung saßen wir eines Abends, bevor die Sonne sank, ausgehungert am felsigen Gestade des Stromes und sahen am andern Ufer die Fleischtöpfe Ägyptens in Gestalt von Kühen, denen die blökenden Kälber folgten, auf vier Beinen herumlaufen, und unsere Unterhaltung drehte sich, wie das ja so nahe lag, um Kalbs- und Rinderbraten. Bei dem internationalen Charakter unserer Gesellschaft war es nur natürlich, daß jeder die Art der Zubereitung in seinem Heimatlande pries. Wir lieben Anklänge an eine uns von Kindheit her vertraute Empfindung, schon um dessentwillen, weil mit ihr gleichzeitig andere Vorstellungen erwachen, die uns zurückversetzen in längst vergangene Zeiten, an den Tisch im Vaterhaus, in den Kreis der Gespielen, in jene sonnigen Tage, wo die Sorge weder den Schlaf, noch die Furcht den Hunger zu verscheuchen vermochte.

Je länger wir über das Essen redeten, um so lebhafter wurde unser Verlangen danach, und es regte sich kein aus dem siebenten Gebot hergeleiteter Widerspruch, als Gaston sich erhob und uns erklärte, daß er mit einem Kalbe kommen werde, oder nie mehr.

Er stieg, als die Dämmerung bereits die Schlucht in ein willkommenes Dunkel hüllte, hernieder und trat beherzt in die tobende Flut. Im Scheine unseres Lagerfeuers sahen wir erst seine Kniee, dann seine Hüften unter dem Wasser verschwinden. Dann begrub der Strom auch seine Schultern, und man sah nichts als einen Kopf, der abgelöst vom Körper zwischen mitgerissenen Zweigen des wilden Lorbeers, der immergrünen Eiche und der Zwergpalme zu schwimmen schien. Dann und wann kamen ein Paar starke Arme über das Wasser und wehrten die Baumstämme ab, die im Flusse trieben und leicht auch den harten Schädel eines Gaston Riviere zerdrücken konnten. Während er sich oben Luft schaffte, griffen losgelöste Schlingpflanzen, die in ihrem verworrenen Wurzelwerk Steine und Geröll mit sich führten, und auf dem Grunde des Flußbettes weiterkollernd, fortgeschoben wurden, nach Gastons Beinen und suchten ihn zu Fall zu bringen. Auch gab es im Flusse Schlangen, die das Hochwasser zu benützen pflegten, um sich das Vergnügen einer billigen Talfahrt zu bereiten. Durch all diese Gefahren kämpfte sich Gaston durch. Wir sahen, wie er am andern Ufer aus dem Flusse stieg und sich wie ein nasser Pudel schüttelte. Dann entzog sich sein ferneres Schicksal unserer Beobachtung.

Ängstlich lauschten wir auf jeden Ton, der vom jenseitigen Gestade unser Ohr erreichen konnte. Je näher Gaston den Reisighütten der Kabylen kommen mußte, um so vorsichtiger wurde unser Verkehr miteinander. Wir unterhielten uns nur noch im Flüsterton, ja wir beugten den Kopf und zogen die Schultern an, als ob wir persönlich gezwungen wären, zwischen Zäunen und Riegelwänden durchzuschlüpfen; jeden Augenblick fürchteten wir das Geschrei menschlicher Stimmen oder das Krachen der langen Araberflinten zu hören.

Als wir den Verwegenen auf dem Rückwege vermuten konnten, senkten wir unsere Köpfe zum Flusse nieder. Unsere Augen suchten die Finsternis zu durchstechen und aus dem strudelnden Chaos die Formen menschlicher Bildung herauszuschälen.

Mit dem Gehör bemühten wir uns der Unzulänglichkeit des Gesichtes nachzuhelfen. Wir lauschten auf die monotone Weise, die der Fluß sang und hofften auf einen fremdartigen Ton, der uns verkündete, daß Gaston Riviere bei dem Konzerte mitwirke. Dabei ärgerte uns das Bellen der Wölfe und das Geheul der Schakale, die unser Lagerfeuer in gemessener Entfernung umkreisten, ebenso wie der heisere Schrei des Aasgeiers in den Lüften, weil sie unsere Beobachtungen störten und uns zu dem Glauben zwangen, wir könnten einen Hilferuf überhört haben.

So verging zwischen Hoffen und Fürchten eine bange Zeit. Das Feuer war niedergebrannt. Wir fachten es von neuem an. Haushoch züngelte die Flamme in die Luft und beleuchtete über uns die Felswand, aus deren zerklüftetem Gestein die Zeder verwegen niederhing und uns zu erschlagen drohte.

Da, jetzt eben, ohne daß ein Mensch sagen konnte, woher er gekommen war, stand Gaston Riviere im Scheine der Flamme unter uns, bückte sich, stellte ein Säugetier, das er, wie Herkules den erymanthischen Eber, über den Schultern trug, vor uns auf die Erde nieder und zog den Kopf zwischen dessen Vorder- und Hinterbeinen heraus.

Ein wieherndes Gelächter, in das sogar unsere Maultiere einstimmten, begrüßte die Ankömmlinge. Gaston hatte sich in der Dunkelheit des Stalles vergriffen und vor uns stand ein leibhaftiger Esel, den seine langen Ohren und sein graues Fell genügend davor schützten, daß er über unsere Feldkessel hinaus eine Ruhestätte in unseren Magen finden sollte. Der Graue sah sehr vergnügt drein, und vielleicht hat niemals ein Esel vergnügter in seiner Haut gesteckt, als er in diesem Augenblick. Von allen Seiten regnete es höhnische Worte und spitzige Bemerkungen fielen prasselnd nieder, wie Hagelkörner auf einen Panzer.

›Gaston, Du bist zu spät zur Welt gekommen, wenn Du mit König Saul ausgezogen wärest, ich wette, Ihr hättet den Esel des Kis gefunden,‹ rief ein krummnasiger Savoyarde.

›Nach Lappland mußt Du gehen, wenn Du stehlen willst,‹ bemerkte ein stämmiger Norweger, ›dort kommen die Kälber mit Geweihen zur Welt und sind eher mit einem Hirsch, als mit einem Esel zu verwechseln.‹

›Warum hast Du den Grauen nicht gekitzelt?‹ rief ein Gascogner, ›vielleicht hätte er mit Dir geredet und den Irrtum aufgeklärt.‹

Gaston hätte dreinschlagen mögen, aber mehr noch als über die anderen, ärgerte er sich über sich selbst.

Warum hatte er so unbedacht gehandelt? Wußte er nicht, daß der Esel zu den Einhufern gehörte, und die Kuh mit ihrer Deszendenz zu den Zweihufern? Konnte nicht ein Blinder den Unterschied der beiden Arten mit dem Stocke tasten? Warum hatte er nicht den Huf befühlt? Was der König fehlt, büßen die Völker; was der Kopf fehlt, die Beine.

Gaston verschwand zu unserem Schrecken aufs neue in dem tosenden Strudel des Scheliff, aber er war glücklicher als der Knappe in Schillers Taucher. Nach geraumer Weile erschien er wieder, diesmal mit einem Kalbe, das uns an diesem Abend die Mahlzeit lieferte, so saftig und wohlschmeckend, wie nur je eine auf den Tischen der Mächtigen dieser Erde geduftet hat.

Seht, meine Kinder, so war Gaston Riviere. Er fürchtete sich nicht, nicht vor dem Löwen, der in den Schluchten des Atlas haust, nicht vor der Flinte der Beduinen, nicht vor dem Gewürm, das den Sumpfboden der Salzseen gefährlich macht, er fürchtete sich selbst vor dem Teufel nicht. Und doch gab es etwas, wovor er sich fürchtete, doch darüber sollt Ihr ein andermal eine Geschichte hören, wenn wir wieder zusammen kommen.«

So endete der Michael Hely seine Erzählung. Indem er sich erhob, gab er uns ein Zeichen zum Aufbruch. War auch der Abend schon bis zur zehnten Stunde vorgeschritten, so drückte doch der Schlaf noch nicht unsere Augendeckel und nur ungern verließen wir unsere Plätze am Feuer. Während wir unsere Käppis an den Nägeln der Wände aufhingen, kroch der Feldmann aus seinem Versteck hinter dem Herde hervor, streckte sich ein paarmal, schlappte das Fußbad seines Herrn, sprang, einer alten Gewohnheit folgend, auf das Fußende des Bettes und rollte sich zu einem Klumpen zusammen, kaum größer als ein Laib Brot.

War die Tür hinter uns ins Schloß gefahren, so lag der alte graue Torturm finster und vereinsamt da. Alles Leben schien in ihm erstorben, und nur die Ratte kletterte am Glockenseil hinauf, um nachzusehen, ob nicht in den Taubennestern des Gebälkes frische Eier zu finden wären.

 


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