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3.

Im Morgengrauen machte sich Axel Nyström auf den Weg, um seinem seit längerer Zeit gehegten Wunsch seiner Vorgesetzten nachzukommen und Christian Mortensen zu verhaften. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten zwar sein Mißtrauen bedeutend vertieft und seine Zweifel verstärkt, aber von einer Überzeugung konnte im vorliegenden Falle nicht die Rede sein. Er hoffte im Stillen, Christian vorzufinden und von ihm genügend klare Erklärungen zu bekommen; in welchem Falle er sich nach neuen Instruktionen umgesehen hätte.

Die beiden Geheimpolizisten, denen Strucks seinen Erfolg verdankte, erzählten ihre Erlebnisse eine Nuance zu vorsichtig und derart eindeutig, daß zum Schluß die ganze Schuld auf den Hund fiel, der sich in Unkenntnis aller Tatsachen rechtzeitig aus dem Staub gemacht hatte. Dieser Umstand gab Nyström zu denken – aber die Schlappe, die die Polizei erlitten, mußte irgendwie ausgewetzt werden.

Leider fielen alle Erwägungen des Inspektors in nichts zusammen, als er die Wohnung verlassen fand. Durch die aufgesprengte Tür quollen die Geheimpolizisten wie ein Bach durch einen geborstenen Staudamm, aber von den früheren Insassen war keine Spur zu entdecken. Außer einem liebenswürdig gehaltenen Brief, in dem Christian dem erregten Nyström sein Eigentum in warmen Worten ans Herz legte.

Dieser Umstand verwischte die letzten menschlichen Spuren in Nyströms Seele. Zielbewußte Entschlossenheit stand in seinem sonst so schläfrigen Gesicht, als er die ersten Befehle erteilte; sein Interesse« war erwacht und der Ehrgeiz des düpierten Polizisten brach sich siegreich Bahn.

Im Grunde genommen war auch viel Ärger vorhanden – er hatte Christian zu leicht genommen und erstarrte vor der unglaublichen Unverschämtheit dieses Mannes, der, gleich einem Napoleon, alle Züge im voraus mit wunderbarer Sicherheit berechnet hatte. Er erkannte, daß sich hinter dem seiner Meinung nach einfachen Äußeren Christian Mortensens ein starker und verschlagener Verbrecher verbarg.

Verschiedene Nachrichten, die er im Laufe der nächsten Stunden einzog, gaben dem Ganzen scharfe Umrisse. So erfuhr er, daß um Mitternacht ein elegant gekleideter, englisch sprechender Herr in Begleitung eines rothaarigen Dieners das Haus verlassen hatte; daß sich dieser Engländer mit einer Autodroschke zum Bahnhof hatte fahren lassen und dort eine Fahrkarte löste. Und daß dieser Engländer mit dem Portier ein längeres Gespräch über Verbindungsmöglichkeiten mit München geführt hatte.

Der Portier erinnerte sich genau an das seltsame Paar. »Er war groß und ganz blond«, sagte er mit viel Gesten und reichlichen Abschweifungen, »so blond wie die Weiber in den Schaufenstern der Friseure, und der Kleine wieder ganz rot. Pfui Teufel, ich habe in meinem Leben noch keine so roten Haare gesehen … Wenn er nicht so nobel gewesen wäre, hätte ich ihn gebeten, mir zu erlauben, an seinen Haaren eine Zigarette anzubrennen … Und der Koffer, hm – so ein Fiberkoffer; vielleicht fünfzehn Mark. Ein kleiner, mit Messingbeschlägen, wie man sie heute zu kaufen bekommt …«

Nyström war ein geduldiger Mann; er wußte, daß jedes Unterbrechen verderbliche Wirkungen haben konnte, so ließ er alle Erklärungen des Portiers ruhig über sich ergehen. Erst ganz zum Schluß erfuhr er, daß der pockennarbige Wilm den Koffer ins Abteil getragen hatte.

Wilm verschwieg zwar vorsichtigerweise die Höhe des Trinkgeldes, aber er umgab dafür die beiden Reisenden mit einer Gloriole wunderbarer, fast sagenhafter Größe.

»'s waren bestimmt Engländer«, sagte er und spuckte aus, »und sie haben nur englisch gesprochen; aber ich versteh was davon …«

»Und wohin sind sie gefahren?« Nyströms Stimme klang wie der Gesang einer stillenden Nurse.

»Nach München. Sie wollten nur den direkten Wagen haben. Sie können's beim Fahrkartenschalter erfragen.

Der Beamte beim Schalter schloß sich der Meinung der übrigen an. »Ich hab' zuerst das Reiseziel nicht verstanden und eine Karte nach Münster genommen, aber der Diener hat klar gesagt: München … Er hat's ganz gut ausgesprochen.«

Damit schien die Angelegenheit geklärt. Und alles hing nun davon ab, daß man die Verbrecher, denn solche waren es jetzt, noch vor Verlassen des heimatlichen Bodens faßte. Einmal im Ausland, waren langwierige diplomatische Notenwechsel nötig, und Spione lieferte das Ausland fast niemals aus.

Das Einfachste wäre nun gewesen, wenn sich der Inspektor sofort ein Flugzeug gesichert hätte, um München noch vor Christian zu erreichen; aber er vertrug Fahrten im Flugzeug nicht. So ließ er ein langes Telegramm an die Polizeidirektion München los, in dem er diese tatendurstige Behörde auf die beiden Flüchtlinge aufmerksam machte, und fuhr ihnen mit dem D-Zug früh um sieben Uhr zwölf nach.

Damit nahm die große Jagd ihren Anfang. Nyström wußte wohl, daß er Christian Mortensen auf der Spur war; aber er wußte nicht, daß er gleichzeitig Jeff Strucks vor sich hertrieb, der im gleichen Zug mit Christian Mortensen nach Süden jagte.

Jeff Strucks hatte, gleich nach dem Abenteuer in seiner Wohnung, die begründete Überzeugung, daß er die Stadt rasch verlassen müsse, wollte er sich des uneingeschränkten Besitzes seines Raubes versichern; denn im Augenblick schien ihm niemand gefährlicher zu sein als Christian Mortensen, dessen planvolles Draufgängertum er nun zur Genüge kannte. Außerdem konnte man einen Marinevertrag nicht jedermann anbieten – so ein Ding konnte nur im Ausland verschachert werden, und dazu brauchte man Zeit und viel Geduld. Und Zeit konnte nur unverzügliche Flucht schaffen.

So entschloß sich Strucks zu einem alten, aber immer noch sehr wirkungsvollen Trick: von Christian gefolgt, ging er auf einen Bahnhof und löste eine Fahrkarte nach Hamburg. Stieg umständlich in ein Abteil, ließ das Fenster herab und rief laut und knarrend nach Zeitungen; zog dann den Vorhang halb vor und wartete, bis das Abfahrtssignal ertönte. In dem Augenblick schlich er geschickt hinaus, kletterte über zwanzig Geleise und zwei Zäune, und erreichte seine Wohnung, in der er eine kleine Veränderung seines Äußeren vornahm …

Als der Münchener Zug losfuhr, saß Strucks in der für seinen Charakter gänzlich unpassenden Kleidung eines biederen Geistlichen in einer Ecke und las sein Brevier …

Im Nebenabteil lümmelte Christian in der Maske eines englischen Gentleman und las angestrengt die Times. Er hatte sich wundervoll hergerichtet, und sein Äußeres konnte allen prüfenden Beamtenblicken standhalten. Außerdem hatte er eine abweisende Miene aufgesetzt.

Eine Stunde nach der Abfahrt sandte er Farr ins Nebenabteil, um Erkundigungen einzuziehen. Farr trug jetzt eine grellrote Perücke, die seinem Gesicht einen schrecklichen Ausdruck verlieh; außerdem war sein Gesicht mit braunroten Punkten übersät, und die Augenbrauen, die unmenschlich vorprellten, gaben ihm das Aussehen eines echten, etwas liederlichen Tommys.

Der ältere Geistliche versorgte sein Brevier, nahm aus einer kleiner Schnupftabaksdose eine Prise und begann eine Unterhaltung. Er sprach leidlich englisch und Farrs offene, etwas kecke Antworten schienen ihm zu gefallen.

»'S ist Lord David O'Conell«, sagte Farr mit einem breiten Grinsen, »aber er bildet sich nichts darauf ein. 'N sehr netter Herr, falls er Sie interessiert.«

Wohin er führe, fragte Jeff leise. Er hatte irgendwo gelesen, daß ältere Geistliche bescheidene Leute wären, und bemühte sich jetzt, diesen Eindruck hervorzurufen.

»Nach Oberammergau«, sagte Farr. »'S soll'n ganz schönes Zeug sein, was sie dort spielen …«

»Sehr schön«, sagte Jeff. Er hatte von Oberammergau wenig gehört und wich der Frage aus. »Wohl sehr reich, Ihr Herr?«

»Massig«, sagte Farr und machte mit beiden Händen illustrierende Bewegungen. »Er hatt'n Scheck auf eine Million Pfund Sterling bei sich und trägt ihn ganz lose in der Tasche; wie andere Leute Schnupftücher.«

Jeff sagte den einzigen Spruch her, den er aus der Bibel wußte – es war darin die Rede von Philistern und Pharisäern, und meinte, es müsse sehr angenehm sein, so viel Geld zu haben. In dem Augenblick glich er einem Dämon, der seine gierigen Hände nach fernen Gütern ausstreckt.

»Sehr angenehm«, sagte Farr und stand auf, aber er macht sich nichts daraus. Wir fahren jetzt nach Genf.«

»Ich dachte, nach Oberammergau?«

»'N Station wie jede andere«, meinte Farr geringschätzig. »Aber in Genf ist jetzt 'ne Tagung von Admirälen, und der Lord ist in England so was wie 'n Admiral …«

»Zufällig«, sagte Jeff lächelnd, »fahre ich auch nach Genf …«

Der kleine gelenke Farr huschte ins Nebenabteil, und es begann ein flüsterndes Gespräch zwischen Herr und Diener, im Verlaufe dessen Seine Lordschaft für Augenblicke die steife Unnahbarkeit ablegte. Der Zug donnerte durch die Nacht, und kleine, schwach beleuchtete Stationen huschten eilig vorbei; neben den Schienen liefen die Telegraphendrähte und summten ein eintöniges Lied, dessen Refrain auf Christian Mortensen ausklang …

In Leipzig hielt der Zug nahezu eine halbe Stunde, und der Engländer verließ mit seinem Diener das Abteil. Genau vierundzwanzig Minuten später kletterte ein alter Professor – der Bedienstete, der ihm den Fiberkoffer mit Messingbeschlägen nachtrug, nannte ihn wenigstens so – das verlassene Abteil; in seiner Begleitung war eine verschleierte, in Trauer gekleidete Dame, von der eigentlich nichts weiter zu sehen war als wunderbare Beine, die in schwarzen Seidenstrümpfen staken. Sie konnte die Nichte oder auch die Töchter des alten, allem Anschein nach sehr kurzsichtigen Herrn sein.

»Du siehst als Dame famos aus«, lobte Christian mit einem langen Blick auf die Beine, die Farr sofort unter den Sitz schob. »Ich hätte fast Lust, dich die ganze Reise in der Verkleidung machen zu lassen.«

Der Kleine machte eine hastige, etwas ärgerliche Bewegung. »Das wäre nicht gut«, sagte er, »denn man würde mich bald schnappen. Ich habe kein Talent, in Frauenkleidern herumzulaufen …«

»Jedenfalls mußt du Jeff in München folgen«, entschied Christian später, »und ihn nicht aus den Augen lassen. Ich steige in der Annenstraße 10 ab – du brauchst nur nach Hofrat Jeffer zu fragen.«

»Schön«, sagte Farr und lehnte sich in eine Ecke. Er war müde, und das seltsame Anstarren seines Herrn verursachte ihm unangenehme Gefühle … Später schliefen sie ein wenig und ließen sich von ihren Gedanken treiben. Am Nachmittag erst erreichten sie München und musterten eine Weile vom Fenster aus die durcheinanderwogende Menge. Drei Polizeibeamte in Uniform liefen aufgeregt den Zug entlang und blickten in alle Abteile; sie flitzten so nahe an Christian vorbei, daß er sie hätte greifen können. Beim Ausgang standen weitere Schutzleute, neben ihnen auffällige Herren in Zivil – Handschuhgröße sechzehn – und sahen angestrengt in das Gewühl. Manchmal zuckten ihre Finger; aber sonst ereignete sich nichts …

Christian Mortensen humpelte langsam an ihnen vorbei; er war einer der letzten Passagiere – und bestieg bedächtig eine Droschke.

Weit vor ihm fuhr Jeff Strucks, gefolgt von Farr.

Als Axel Nyström am Abend siegesgewiß ankam, war er ziemlich erstaunt über das negative Resultat seiner bisherigen Arbeit.

»Ein Engländer und sein Diener haben den Zug in Leipzig verlassen«, sagte ein Schutzmann, »aber sie sind nicht mehr zurückgekommen; vielleicht sind sie dort geblieben.«

»Nein«, sagte Nyström ärgerlich. »Sie sind in München.« Er wußte selbst nicht warum – aber eine innere Stimme sagte ihm, daß er recht hatte.

Aber wie konnte man Christian Mortensen in München finden?

Axel Nyström begann auf den Zufall zu hoffen und erhob ihn zu einer wichtigen Gottheit und zum Schutzpatron aller auf Fang ausziehenden Polizeibeamten.

*

Nirgends auf der Welt kann man so unbehelligt tun und lassen, was man will, wie gerade in München. Es ist eine Eigentümlichkeit der Münchener, daß sie sich um keinen Menschen kümmern, möge er noch so auffällig sein.

Als Farr – als junge elegante Dame gekleidet – dem Chauffeur den Auftrag gab, dem Wagen zu folgen, in dem der alte Geistliche Platz genommen hatte, wunderte sich der Mann nicht; in jeder anderen Stadt hätte dieser Umstand Entrüstung oder Schadenfreude oder Mißbilligung hervorgerufen, je nach der politischen Einstellung der Menschen.

»Der kimmt mir net aussa …« sagte der Chauffeur ruhig und warf die Tür mit einem Krach zu. Er hätte nichts gesagt, auch wenn der alte Geistliche die junge Dame verfolgt hätte. In seinem Inneren wunderte er sich wohl etwas über die seltsame Sache, aber diese Verwunderung war nicht stark genug, um in Worten Ausdruck zu finden.

Jeff warf einmal einen Blick zurück, aber er fand nichts Auffälliges daran, daß ihm eine Droschke neben vielen anderen folgte … In der Nähe der Ruhmeshalle stieg er aus und ging einige Schritt zu Fuß – bis er in einem großen schönen Haus verschwand. Einen Augenblick blieb Farr stehen und überlegte.

Das Haus hatte sogar einen Portier. Einen netten entgegenkommenden Mann, der eine ganze Weile die Banknote prüfte, ehe er antwortete.

»Der Herr?« sagte er nachdenklich. »Wo wird er hingegangen sein.« Da Farr eben das zu wissen wünschte, widerholte er die Frage.

»Ah, das kann der Bruder vom Herrn Strucks sein … wie mein S'? Ja – Strucks. I kann nix dafür, wenn Ihnen der Namen nicht g'fallt, aber er heißt so …«

»Gil Strucks?« fragte Farr neugierig.

»Sie wissen 's ja eh …« meinte der andere leicht gekränkt und ging ins Haus.

*

Christian war mit der Nachricht ganz zufrieden; er klopfte Farr vertraulich auf die Schulter.

»Ich dachte mir, daß er seinen Bruder aufsuchen würde; obwohl man nicht weiß, wer von beiden der größere Galgenvogel ist. Jedenfalls ist es zu staunen, daß sich Gil unter seinem wirklichen Namen hier aufhält. Auch scheint die Verkleidung des guten Jeff nichts Neues zu sein.«

Das Zimmer war nett und groß; zwei Fenster gingen auf die Annenstraße; außerdem hatte es einen eigenen Eingang vom Gang aus und konnte so jederzeit betreten werden, ohne daß dadurch die Aufmerksamkeit der Wirtin geweckt wurde.

Sie sahen eine Weile aus dem Fenster; Christian hatte keine rechte Lust, bei Tag auszugehen; auch war ihm im Bart und der weißen Perrücke zu heiß. Farr sah im Damenkostüm entzückend aus; die kurzen, leicht gewellten Haare umrahmten ein nettes, sonngebräuntes Mädchen-Sportgesicht.

»Und jetzt«, sagte er, um ein Gespräch in Fluß zu bringen.

»Nichts«, sagte Christian. »Heute abend will ich ihn beobachten und eine günstige Gelegenheit auskundschaften, um ihm das Dokument abzunehmen.«

»Welches Interesse haben Sie daran?« fragte Farr neugierig.

Einen Augenblick stutzte Christian, dann lachte er. »Du lieber Gott – dasselbe wie Jeff; so ein Ding ist Geld, viel Geld, und das kann man immer brauchen.«

»Ich hätte nie gedacht, daß Sie so einer sind«, sagte Farr strafend.

»Du kannst mich ja der Polizei anzeigen«, kam es leicht geärgert zurück. »Unser Freund Nyström wird sich sicher irgendwo in der Nähe herumtreiben.«

Farr zuckte nur die Achsel, sagte aber nichts.

Am Abend gingen sie aus; beim Rathaus vorbei – zum Maximilianeum und zur Pinakothek; es war ein wundervoller Abend, und vereinzelte Herren blieben stehen und blickten Farr nach, der sich leicht in den Hüften wiegte.

Christian verhielt sich die ganze Zeit über reserviert; die Bewunderung, die sein Begleiter erregte, schien ihm nicht ganz recht zu sein.

Dann stießen sie unvermutet an einer Ecke auf Axel Nyström. Sie gingen ganz knapp an einander vorbei und verschwanden in entgegengesetzten Richtungen; obwohl diese Bemerkung nicht ganz richtig ist. Kaum einige Schritte weiter drehte sich der alte, weißhaarige Herr mit erstaunlicher Gelenkigkeit um und stelzte dem Detektiv nach. Er folgte ihm durch vier Gassen und erreichte ihn gerade in der Halle des Hotels Bavaria; im Augenblick, als Nyström dem zweiten Portier einige Fragen stellte; es war augenscheinlich, daß sich der Detektiv legitimiert hatte, denn der Hüter der Ordnung war von einer seltsamen Unfreundlichkeit. Er legte seiner Stimme keinen Zwang an.

»Herrgott – Sie können ja die Bücher anschauen. Wir haben keinen einzigen Engländer im Hotel …«

»Gut, gut«, sagte Nyström leicht nervös; einige Gäste sahen auf, und die allgemeine Aufmerksamkeit, die sein Besuch erregte, war ihm unangenehm. »Ich möchte Sie aber ersuchen, der Polizeidirektion sofort telephonisch Mitteilung zu machen, falls einer kommt.«

»Bitte sehr«, sagte der Portier und wandte sich hochmütig um.

»Er sucht uns«, sagte Christian im Gehen. »Irgendwie muß er erfahren haben, daß wir als Engländer und Diener weggefahren sind.«

»Haben Sie sich deshalb in Leipzig umgezogen?« fragte Farr.

»Natürlich. – Nyström ist ein verdammter Esel, und vor solchen Leuten muß man sich höllisch in acht nehmen. Hoffentlich kommt er uns nicht in die Quere … Wir müssen jedenfalls auf Jeff aufpassen.«

Aber Jeff schien keine Lust zu haben, sich vorläufig auf den Weg zu machen; zuerst standen sie länger als eine Stunde vor dem Hause, dann setzte Christian einen Privatdetektiv hin, der gegen Geld und gute Worte – das erstere überwog – hoch und heilig versprach, Jeff Strucks nicht aus den Augen zu lassen.

»Er wird seine Sache gut machen,« meinte Christian am Nachhauseweg, »denn er war niemals bei der Polizei; solche romantische Menschen, die viel Karl May gelesen haben, eignen sich ganz gut zu Überwachungsdiensten. Außerdem hat Jeff keine Ahnung von seiner Existenz.«

»Und wenn er eine andere Verkleidung wählt?«

»Keine Gefahr,« lachte der etwas selbstsichere Christian, »er ist hier als Geistlicher bekannt und je weiter er nach Süden kommt, um so mehr kann ihm diese Maske nützen; der Norden hat für Angehörige der römischen Kirche nicht viel übrig.«

Sie aßen in einem Restaurant und gingen dann langsam nach Hause; es war nahezu Mitternacht und die Luft lau und balsamisch.

Christian wurde leicht poetisch. »Wenn so ein Wetter herrscht,« sagte er leise, mit einem, Unterton in der Stimme, der Farr aufhorchen ließ, »möchte ich mich ganz meinen Launen und Wünschen hingeben.«

»Und was sind das für Wünsche?« Die Stimme Farrs schien leicht zu zittern. Aber der ändere merkte nichts davon.

»So etwas einem Mann zu sagen, wäre deplaciert,« kam es übermütig zurück.

Als sie die Perücken ablegten, streckten sie sich wohlig; Christian – in seiner natürlichen Gestalt – machte einige Übungen. Dann zog er seine Pyjamas an.

Das Zimmer hatte nur ein Bett …

Erst als sie sich zum Schlafengehen rüsteten, entdeckten sie diesen Umstand. Christian lachte: »Es bleibt nichts anderes übrig, als daß wir beide in das eine Bett kriechen,« sagte er gut gelaunt. »A la guerra comme à la guerre. Du bist nicht so groß, um mich zu stören.«

Farr hatte sich in einer dunklen Ecke umgezogen; jetzt trat er als schmucker Boy ins Licht.

»Ja«, sagte er leicht verlegen, »es ginge schon, aber – hm, Sie sind der Herr und ich der Diener …«

»Hör' auf mit dem Unsinn«, sagte Christian und warf sich mit einem Schwung in die Polster. »Bist du noch nie mit jemand im Bett gelegen?«

»Einen Augenblick«, sagte Farr und stülpte sich eine Kappe auf die Haare, »da fällt mir ein, daß ich an der Ecke drüben am Nachmittag ein Notizbuch verloren habe. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich's suche …«

»Ein Notizbuch«, sagte Christian und setzte sich mit einem Ruck auf; einen Augenblick hatte ihn ein unangenehmes Gefühl überfallen. »Du hast mir früher kein Wort darüber gesagt …«

»Ich wollte Sie in Ihren Gedanken nicht stören.«

»Wirklich?« Eine kleine Pause. Dann hart: »Du kannst gehen – wenn du mir aber den Nyström herschickst, gibts eine häßliche Schießerei …«

*

Auch den nächsten Tag verließ Jeff Strucks seine Wohnung nicht. Vom Detektiv, der mit dem Portier Freundschaft geschlossen hatte, erfuhr Christian, daß Jeff krank sei; er hatte sich leicht erkältet und sollte einige Tage das Zimmer hüten.

Farr war in aller Frühe zurückgekehrt; auf die Frage Christians, wo er gewesen, zuckte er bloß die Achsel.

»Vor den Frauenzimmern hier sollst du dich hüten«, sagte der junge Mann ernst. »Du wirst sie nicht mehr los und einen Ballast können wir nicht brauchen …«

Als die Dämmerung herabsank, zogen sie sich um; Lord David O'Conell und sein Diener fuhren mit kleinem Gepäck beim Hotel Bavaria vor und belegten zwei Zimmer. Das große Gepäck sollte folgen.

»Ob Seine Lordschaft gleich in die Zimmer gehen wolle …?«

»Nein«, sagte Christian und gab Farr einen Wink, »wir müssen eine kleine Besuch machen.« Er sprach das gebrochene Deutsch gut, aber doch so deutlich, daß man unschwer heraushören konnte, es wäre gefälscht.

»Wann dös Engländer san,« sagte der Portier und spuckte aus, »so bin i a Chines …«

Er telephonierte gleich an die Polizeidirektion und hatte das Glück, Nyström zu treffen. Der Detektiv hörte geduldig die lange, etwas rüde Erklärung des Portiers an.

»Ausgegangen sagen Sie?«

»Ausgangen – aber sie kommen wieder.«

»Schön. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, will ich gegen elf Uhr mit einem Mann hinkommen; sprechen Sie jedenfalls mit niemand über die Sache …«

»Wo werd i …«, sagte der Portier und fügte noch einige sehr lehrreiche, linguistisch interessante Bemerkungen über die Aussprache wirklicher Engländer bei.

Das dauerte geraume Weile; es dauerte so lange, daß er gar nicht merkte, daß Nyström bereits abgehängt hatte. Diese Entdeckung ließ seinen alten Zorn gegen die Polizei und ihre Organe aufflammen. Er machte dem Fräulein, das sich erkundigte, ob er noch spreche, kein Hehl aus seinen Ansichten …

Unterdessen war mit dem Abendzug Mister John H. Street mit Diener im Hotel angekommen; ein einfacher, nett gekleideter Amerikaner, der ganz gut deutsch sprach und, ohne lange zu reden, zwei Zimmer mietete; als der Portier nach seinem mißglückten Gespräch mit Nyström zum Pult zurückkam, machte er ein Gesicht, das jede Vertraulichkeit ausschloß. So erfuhr er nichts von der Ankunft des Amerikaners; vor dem Tor stand Christian mit Farr und äugte sehr interessiert hinein.

»Ich will heute hier übernachten«, sagte er endlich, »und du kannst dein Zimmer haben … In meinem Leben habe ich noch keinen so schamhaften Diener gehabt.«

Der Zufall wollte es, daß Professor Joachim Biach aus Jena mit seiner Tochter Irene die Zimmer 212, 213 bekamen; auf 214 logierte der Amerikaner.

Als sie gegen zehn Uhr aus dem Speisesaal langsam die Treppe hinaufgingen, sahen sie Nyström in der Halle sitzen; er hatte eine große Zeitung entfaltet, hinter der er halb versank; der breitschultrige Mann neben ihm, der wie ein verkleideter Metzgergehilfe anmutete, mochte sein polizeilicher Begleiter sein. Nyström trug ein strahlendes Lächeln zur Schau und blickte manchmal kampflustig herum …

Gegen elf Uhr klopfte Christian an Farrs Tür; und der Junge flitzte lautlos ins andere Zimmer. So standen sie – angestrengt horchend. Ihre Geduld wurde von einem vollen Erfolg gekrönt.

Nyström, müde des langen Wartens, hatte sich endlich erhoben.

»Es ist Zeit«, sagte er leise. »Welches Zimmer hat der Engländer.«

»214,« sagte der halbschlafende Nachtportier und warf einen zerstreuten Blick auf die Schlüsseltafel.

Minuten später klopfte ein harter Knöchel gebieterisch an John H. Streets Tür. Einmal, zweimal. Beim drittenmal regte sich der Amerikaner.

»Bitte öffnen Sie sofort«, sagte Nyström höflich und eindringlich …«

Die Tür flog auf; John H. Street erschien im Türrahmen; hinter ihm sein herkulisch gebauter Diener.

Nyström übersah den Diener. Sein Interesse galt dem Herrn. Im ungewissen Licht der Deckenlampe glaubte er, verwandte Züge zu entdecken. »Das Haus ist umzingelt,« sagte er leise, »leisten Sie keinen Widerstand, sonst müßte ich Gewalt anwenden …«

»Sie sind wohl verrückt«, fragte Mister Street, leicht blinzelnd. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Polizei.«

»Street machte Miene, die Tür zu schließen; aber Nyström schob blitzschnell einen Fuß in den Spalt. »Wenn Sie Unsinn machen, lasse ich Sie in Eisen schließen«, sagte er eindringlich. »Machen Sie keine Dummheiten, Mortensen.«

»Aha«, sagte Christian im Nebenzimmer zu Farr.

»Mortensen?« sagte der Amerikaner und eine leichte Falte stieg zwischen seine Brauen. »Ich bin John H. Street aus Baltimore, USA. und nicht Mortensen; und jetzt will ich schlafen …«

»Im Namen des Gesetzes«, sagte Nyström laut und warf sich gegen die Tür; der breitschultrige Mann mit den großen Händen folgte wie eine gut abgerichtete Bulldogge.

»Uah …« machte Mister Street und ging langsam zurück. Dann schnellte er beide Arme vor und seine beweglichen Fäuste hämmerten auf Axel Nyströms entsetztem Gesicht eine kurze Skala. Der Diener begann sich mit dem anderen Mann zu beschäftigen.

Die Sache schien mit der Zeit laut werden zu wollen.

»Das werden Sie büßen«, knirschte der Inspektor jetzt selbst wütend und ging zum Angriff vor; aber vor der Beweglichkeit des Amerikaners, der seine besten Jugendjahre in Kolorado verbracht hatte, mußte er zurückweichen; im nächsten Augenblick sauste ein schwerer dunkler Körper an ihm vorbei. Sein Gesicht erreichte um zwei Sekunden früher die Wand als er.

Die Tür des Nebenzimmers flog auf, und das erregte Gesicht eines alten Herrn wurde sichtbar.

»Kellner«, schrie er. »Kellner! – Hier wird gemordet – Hilfe …«

»So seien Sie doch ruhig«, ächzte Nyström und stand auf.

»Hilfe …« schrillte die Stimme des alten Herrn durch die Stille, und Türen begannen aufzufliegen. Lebhafte Schritte näherten sich.

»Ich bin doch …«

Der Satz sank in Nyströms Kehle zurück; viele kräftige Arme bemächtigten sich seiner, und der alte Herr mußte mit Mühe abgehalten werden; er stieß unaufhörlich mit einem Fuß nach den Schienbeinen des Detektivs. Dabei schrie er abwechselnd: »Diebe – Mörder – Räuber …«

Erst später – viel später gelang es Axel Nyström, dem rasch herbeigeholten Schutzmann seine Identität und seine Unschuld zu beweisen.

»Sie haben mir die Nummer angegeben«, schrie der Inspektor den herbeigeholten Portier an. »Was zum Teufel erlauben Sie sich mit der Polizei unpassende Scherze?«

»Sie sind ein Narr«, sagte der Portier. »Ich habe Ihnen das Zimmer 88 bis 90 genannt. – Wenn Sie in fremde Zimmer gehen und sich wie ein Trunkenbold aufführen, geschieht Ihnen recht …«

*

»Die Sache«, sagte Christian am nächsten Morgen zu Farr, »war sehr lehrreich. Wir wissen jetzt, auf welche Weise man Nyström hinters Licht führen kann.«

»Ich würde Ihnen doch raten, sich vor ihm in acht zu nehmen«, sagte der Diener ängstlich.

»Du bist ein Hasenfuß«, entgegnete Christian wegwerfend. »Aber ich bin nicht hergekommen, um Nyström zu sehen.

Auch der nächste Tag verging ohne irgend ein Ereignis; Jeff war eine Stunde lang ausgegangen, und der Privatdetektiv berichtete umständlich über diesen Spaziergang. Zu Mittag beobachtete Christian Gil Strucks, einen großen, starken Mann, der einen leicht wiegenden Gang hatte und einem durchgegangenen Sträfling verzweifelt ähnlich sah. Vor einigen Jahren war Christian mit dem älteren Gil gelegentlich eines Aktendiebstahls zusammengewachsen – aber die gleich darauf einsetzende polizeiliche Untersuchung war resultatlos verlaufen. Nur verlegte Gil Strucks damals seinen Wohnort nach München. Aber in den Archiven vieler Polizeidirektionen war sein Name nebst seinem Bild und einem haarscharfen Fingerabdruck zu finden …

Erst am Nachmittag des dritten Tages schien eine Unruhe über die beiden Brüder zu kommen; sie gingen ins Telegraphenamt, wohin ihnen Christian folgte; aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht herausbekommen, was und wohin sie depeschierten; die Straßenbahn, die sie benützten, war ziemlich leer und ein Anbiedern aus dem Grunde unmöglich.

So wechselte Christian gegen Abend seine Verkleidung; er wählte das unauffällige Gewand eines Eckenstehers, während sich Farr mit einem Radmantel und einer tief in die Stirn gezogenen Kappe begnügte. Zwanzig Schritt vor ihnen stand der Privatdetektiv und betrachtete zum hundertsten Male eine recht uninteressante Auslage eines Krämers, dessen Geschäft der Wohnung der Brüder gerade gegenüberlag. Es war eine zähe Überwachung, aber sie war von Erfolg gekrönt wie alle Dinge des Lebens, die mit einer gewissen Zähigkeit und Energie in Szene gesetzt werden.

»Wenn er jetzt ausgeht,« sagte Christian leise zu Farr, »folgst du ihm und streust mit Papierschnitzeln Zeichen über den eingeschlagenen Weg; ich komme in kurzer Zeit nach.«

»Was werden Sie tun?« fragte der Kleine ängstlich.

»Was jeder Gentleman an meiner Stelle täte«, sagte Christian lachend; »Aber nimm dir Kartonstücke; Papier wird leicht vom Wind verweht.«

Gil Strucks war ein ungehobelter, rüder Mensch; als er mit seinem Bruder das Haus verließ, konnte er sich's nicht versagen, auf den Privatdetektiv zuzugehen und ihn anzurempeln; nur die ausgesprochene Friedlichkeit und körperliche Schwäche dieses Mannes verhinderten eine erregtere Auseinandersetzung. Aber die Szene nahm den Brüdern die Möglichkeit, Christian und seinem Begleiter Aufmerksamkeit zu schenken. Als sie vor dem Rathaus in einen Wagen stiegen, folgte ihnen der kleine, behende Farr und begann mit Kartonschnitzeln um sich zu werfen wie Kinder mit Kieselsteinen.

Gleich darauf verschwand Christian im Hause Jeffs; der Portier hatte sich mit seinem Bier zurückgezogen und pflegte der Ruhe. Die Wohnungstür ging verhältnismäßig leicht auf, aber die schwere Zimmertür mußte der junge Mann mangels Zeit einfach mit einem Brecheisen sprengen. Trotz des nicht zu vermeidenden Lärms, der dabei entstand, regte sich nichts im Hause. Es schien allem Anscheine nach spärlich bewohnt zu sein.

Die beiden Kästen waren im Nu ausgeräumt; Christian nahm sich nicht die Mühe, die Spuren seiner Tätigkeit zu verwischen; die Matratzen schnitt er geschickt auf und durchsuchte das Roßhaar. Er bedauerte, es nicht anzünden zu können, da die hierdurch alarmierte Feuerwehr seinem Tätigkeitsdrang bestimmt ein Ziel gesetzt hätte. Auch hinderte ihn seine immerhin gute Erziehung, andere unschuldige Leute in Gefahr zu bringen. Im Eisenschrank fand er außer wertlosen Papieren nichts als einen Chiffernschlüssel, den er rasch abschrieb; er enthielt ungefähr hundert, teils recht interessante Codeworte. Aber so sehr er suchte, das braune Kuvert konnte er nirgends finden. Demnach mußte es Jeff bei sich tragen, was in Anbetracht der Wichtigkeit des Dokuments auch wahrscheinlich schien …

Ein Geräusch auf der Treppe riß ihn aus seiner beschaulichen Tätigkeit und brachte ihn in die Gegenwart zurück; verschiedene Kleinigkeiten hatten seine Gedanken unwillkürlich auf die Wanderung geführt.

Das Geräusch verstummte; noch einen letzten Blick warf Christian zurück; aus begreiflichen Gründen stellte er sich die Frage, wo die Brüder diese Nacht schlafen würden, dann schlich er behend aus, der Wohnung und erreichte unangefochten die Straße.

Weiße, viereckige Kartonstückchen, die in regelmäßigen Abständen auf dem Boden lagen, führten ihn mit unfehlbarer Sicherheit weiter; wie einen Jagdhund die Witterung … Mit Rücksicht auf die Zeichen mußte er zu Fuß gehen und erreichte nach knapp einer Stunde ein Lokal in der Nähe von Nymphenburg, in dem viele Leute saßen; vor dem Eingang, im Schatten einer Kastanie, stand Farr und gab ihm ein kaum wahrnehmbares Zeichen.

»Sie sind drinnen«, flüsterte er erregt; die Hetzjagd ohne seinen Herren hatte ihn sichtlich nervös gemacht. »Aber sie haben mit niemand gesprochen.«

»Haben sie dich am Weg angesehen?«

»Nein«, sagte Farr leise lachend. Er hatte ein eigenartiges gurrendes Lachen; »ich habe ihnen den Rücken gekehrt und sie im Glas des rückwärtigen Fensters beobachtet.«

Es war dunkel geworden und ein leichter Nebel bedeckte die Gegend; die hohen Straßenlampen schwankten im linden Abendwind, und die Konturen der Gegenstände begannen zu verschwimmen.

»Auf jeden Fall«, sagte Christian nach einer Weile leise, »habe ich einen Wagen mit unseren Sachen bei unserem Haus stehen; er hält in der ersten kleinen Gasse links. Sollten wir uns trennen müssen, triffst du mich dort.«

»Besser wär's, wir trennten uns nicht«, sagte Farr gepreßt; er griff unwillkürlich mit seiner kleinen zitternden Hand nach dem Arm seines Herrn.

Christian ging rings um den großen Gasthausgarten und versuchte, ihn von allen Seiten zu übersehen; er bemerkte Jeff, der mit seinem Bruder in einer Ecke saß und ein leises, sehr ernstes Gespräch zu führen schien. Das lange Herumgehen machte ihn nervös und er trabte mit langen Schritten zum Ausgang. Viele Leute verließen jetzt das Gasthaus, und endlich kamen Jeff und Gil. Sie schoben sich durch die Menge. Der hoch zugeknöpfte Rock Jeffs machte Christian ernste Sorgen. Die vielen Menschen ließen ihn zum erstenmal unsicher werden … Irgend etwas schien in der Luft zu liegen …

Es glückte ihm mühelos, knapp hinter Gil den Wagen zu besteigen – der Zufall fügte es auch, – daß sie nicht weit vom Ausgang standen, und Christian schob sich unmerklich auf die andere Seite, so daß er neben Jeff zu stehen kam … Hinter ihm – aber durch andere Leute getrennt, stand Farr, die unruhigen dunklen Augen auf seinen Herrn geheftet. Und dann stieg noch ein Gast ein; ein großer, hagerer Mann in einem lichten Anzug, und Christian überlief es kalt. Es war Axel Nyström …

Die Glocke des Wagens klingelte melancholisch, und das Gefährt schob sich wie ein müdes großes Tier durch die Dunkelheit; die kleinen Häuser fielen zurück und größere Gebäude tauchten ins Licht. Die Gegend wurde heller und belebter, und hie und da standen Schutzleute; Menschen, denen Christian, ohne zu wollen, abschätzende Blicke zuwarf.

Langsam und vorsichtig begannen seine leichten Hände Jeffs Soutane abzutasten; huschten über kleine runde Knöpfe – er schien etliche vierzig zu haben – und blieben dann an einem Gegenstand haften, der die linke Brust plastisch hervortreten ließ. Es mußte dem Gefühl nach eine Brieftasche sein, aber eine Tasche von großem Format und, soweit sich Christian erinnerte, konnte der braune Umschlag darin ausgezeichnet Platz finden.

Farr stand jetzt knapp hinter Nyström; wenn sich der Detektiv umwandte, mußte er den jungen Menschen sehen und dann …

Christian erwog einige Möglichkeiten, aber alle diese Möglichkeiten liefen überraschenderweise auf dasselbe hinaus; auf einen fürchterlichen Schlag, den er gegen das Kinn des ahnungslosen Detektivs führte und auf einen noch schrecklicheren Sprung aus dem fahrenden Wagen …

»Pech«, sagte er zu sich selbst, »verdammtes Pech … wenn ich Farr wenigstens hinausbringen könnte!« Aber Farr schien mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. So hob Christian leise die Hand, in der zwischen Daumen und Zeigefinger die haarscharfe Rasierklinge steckte, und benützte einen Stoß des sich nach vorne durchdrängenden Schaffners dazu, das schwarze Priestergewand zu verderben … Unglücklicherweise in demselben Augenblick, in dem Jeff halb instinktiv die Hand hob. Das Messer traf dessen Daumen und biß sich tief hinein.

»Herrgott«, sagte Christian ärgerlich und drehte sich um, »wer hat denn hier Sensen? Da hat mir jemand meinen ganzen Anzug zerschnitten.«

Seltsamerweise sagte Jeff noch immer nichts; er versuchte einmal seinen Arm aus der Enge zu ziehen, aber Christian preßte sich so eng an ihn daß er ihn nicht bewegen konnte, und strebte dann unmerklich dem Ausgang zu. Vielleicht wäre noch alles gut gegangen, aber der kleine, unkluge Farr wandte sich in diesem Moment um, sah Nyström knapp vor sich und stieß einen leisen Schrei aus. Dieser Schrei verriet ihn …

»Hallo, Farr«, sagte der Inspektor mit vor Freude zitternder Stimme und griff mit starker Hand nach dem ängstlich zurückweichenden Burschen. »Da ist Ihr famoser Mortensen sicher nicht weit …«

Der Name Mortensen erweckte in dem nicht weit stehenden Jeff unliebsame Erinnerungen; auch der Name Farr wirkte wie ein häßliches Echo; blitzschnell erinnerte er sich an seinen arg zerschnittenen Daumen und erhob seine Stimme:

»Niemand darf hinaus … man hat mir meine Tasche aufgeschnitten. Ich …« In dem Augenblick erkannte er aber Nyström und brach jäh ab. Im Wagen entstand eine lebhafte Unruhe, und die Passagiere reckten die Hälse.

Nyström hob einen freien Arm, ergriff das Klingelseil und gab das Haltezeichen; von vorne kam die erregte Stimme des Schaffners und mehrere der Mitfahrenden mengten sich ein … Alles spitzte sich zu.

Unter anderen Umständen wäre es um Christian und um Farr geschehen gewesen … Unter anderen Umständen; aber der Zufall fügte es anders. Gerade im rückwärtigen Teil des Wagens befanden sich einige sehr energische und hilfsbereite Mitglieder einer weitverbreiteten Gilde, die zwar staatlich nicht anerkannt, aber gesellschaftlich verpönt ist; einer dieser Leute eräugte das blanke Metallschild Nyströms und trat ihm blitzschnell und ausgiebig auf den Fuß. Dieser Umstand öffnete die Faust des Detektivs, und Farr nützte die karge Gelegenheit, um sich bis zum Ausgang durchzuarbeiten, an dem zwei weitere, sehr bekannte Taschendiebe standen.

Sie wehrten einen kurzen Angriff Nyströms sehr sicher ab und wollten eben Farr aus dem Wagen drängen, als der Inspektor seine Pfeife an die Lippen führte und einen schrillen Pfiff ertönen ließ. Von zwei Seiten kam die Antwort, und der Schaffner eilte jetzt mit einigen bravbürgerlichen Passagieren dem bedrängten Organ Staatlicher Ordnung zu Hilfe; der Wagenführer war abgesprungen und kam mit schweren Schritten nach hinten.

»Niemand darf hinaus«, schrie Nyström und gewann das Freie, »Im Namen des Gesetzes …« Aber in diesem entscheidenden Augenblick zeigte sich Christians Gewandtheit … Er stieß den jäh zurückfallenden Jeff zur Seite, und lähmte dadurch auf Sekunden den angriffsfreudigen Teil des Wagens; gab Farr mit der linken Hand einen leichten Stoß und schoß mit wunderbarer Sicherheit Nyström die geballte Faust unters Kinn. Einem herbeieilenden Schutzmann stellte er ein Bein, gab der stürzenden Gruppe noch einen kurzen Abschiedsgruß und verschwand in der Dunkelheit … Genau zwei Minuten später trat ein neugieriger älterer Herr, der einen grauen Vollbart hatte und goldene Brillen trug, in den Kreis der sich rasch ansammelnden Neugieriger! und beteiligte sich an der allgemeinen Unterhaltung.

Als Jeff und Gil nach knapp einer Stunde in ihre Wohnung stiegen, wartete der Fremde geduldig an der Ecke; als die Brüder kurz darauf in höchster Eile das Haus verließen, heftete er sich an ihre Fersen und hörte sie vor dem Rathaus einen Wagen aufnehmen.

Er hatte nur ein Wort aufgefangen: Rosenheim. Aber das schien ihm zu genügen.

Eine Stunde fast wartete Christian erregt neben dem Wagen. Die Rathausuhr schlug elf und Farr war noch immer nicht zu sehen. Schon saß Christian hinter dem Volant – die Zähne zusammengebissen und seine Hand spielte mit dem Kupplungshebel – als eine kleine schmächtige Gestalt atemlos herangerannt kam.

»Endlich«, knurrte Christian ärgerlich und wollte noch etwas hinzufügen – dann sagte er nur: »Nanu …«

Farr war ihm mit einem Satz an den Hals geflogen und begann hilflos zu weinen …

In den wilden Jahren seines Lebens hatte Christian Mortensen viele seltsame Dinge erlebt – aber niemals war es ihm passiert, daß ihn ein Diener weinend umarmte und sich an seinem Herzen ausweinte.

Er war die erste Zeit der Fahrt aus begreiflichen Gründen sehr schweigsam und zurückhaltend. Außerdem war er wütend, daß sein Anschlag auf Jeff Strucks so schmählich mißglückt war.


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