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8.

Über der kleinen Stadt Zengg lag eine mörderische Hitze; die Sonne brannte unbarmherzig, und die kahlen Ufermauern bemühten sich, die Strahlen zurückzugeben; dicke Strahlenbündel lagen über den flachen Häusern und den dräuenden Mauern, als hätte die Sonne seit Jahrmillionen keine andere Beschäftigung, als die Menschen zu quälen.

Christian und Farr hatten zwei nette, kleine Zimmer mit Balkon in einem Privathaus an der Uferstraße gefunden; von ihren Fenstern aus sahen sie den Hafen und die schweren italienischen Segler, die sich gleich faulen Schlammtieren dickbäuchig im trägen Meer wälzten. Weit im Süden standen die harten Umrisse kahler, ausgeglühter Inseln.

Sie lehnten am Eisengitter, blickten in die Tiefe und langweilten sich.

»Es ist äußerst liebenswürdig von den Strucks, sich hier niedergelassen zu haben«, sagte Christian sinnend. »Aus so einem Ort, der fast ohne Verbindung mit der Außenwelt ist, kann man schwerer entkommen als aus einem Gefängnis.«

»Warum sie wohl hergekommen sind?« fragte Farr neugierig.

Christian lachte. »Eine kleine Ruhepause und ein ungestörter Kriegsrat sind in ihrer Lage mehr wert als Gold. Vielleicht warten sie noch auf jemand …«

»Es sind doch schon drei Personen?«

»Für diese Beschäftigung sind zehn nicht zu viel; ich will sie aber jetzt nicht stören, und es wäre gut, wenn auch du dich so wenig als möglich zeigen würdest.«

»Du lieber Gott, was soll man den ganzen Tag tun?«

»Vielleicht«, meinte Christian, »gehen wir in der Frühe hinaus – weit außerhalb der Stadt, und baden dort …«

»Ausgeschlossen«, sagte Farr fast heftig und wurde unvermittelt rot, »ich darf im Meer nicht baden; die Ärzte haben mir's verboten.«

»So?« Christian zuckte die Achsel. »Eine seltsame Krankheit in deinen Jahren …«

Er warf die halb ausgerauchte Zigarette auf die Straße, und ein leichter Windstoß, der sie abtrieb, verhinderte, daß sie Vollmer auf den Kopf fiel, der vor dem Haus stand und flotte Skizzen von ruhenden Segelbooten entwarf.

Er hatte beschlossen, als Maler aufzutreten und sofort mit seiner, ihm persönlich äußerst unsympathischen Arbeit begonnen.

In einem dunstigen, übelriechenden Zimmer des einzigen Hotels »Narenta« saßen unterdessen die Strucks und Hoffmann; manchmal schienen sie geeint zu sein, einigemal sprachen sie an einander vorbei, im allgemeinen aber stritten sie und gaben sich gegenseitig die Schuld an dem Pech, das sie überfallen.

»Es nützt nichts«, sagte Hoffmann endlich ärgerlich; der Schweiß rann ihm in großen Tropfen übers Gesicht und seine Lippen bebten. »Wie Arnoldi kommt, muß etwas geschehen. Wir können doch nicht vor dem Narren, dem Mortensen, bis nach Afrika laufen, nur weil es ihm gefällt …«

»Was soll das heißen?« fragte Gil mit zusammengepreßten Lippen.

»Nichts«, lachte Hoffmann. »Aber wir werden jedenfalls am Leichenbegängnis Christian Mortensens teilnehmen; ich bin sogar dafür, daß wir ihm einen Kranz geben.«

»Sie sprechen wie ein dummes Kind«, knurrte Jeff und stemmte beide Daumen nach abwärts auf den Tisch. Die alten Römer hatten seinerzeit diese Bewegung gemacht, um einen mißliebigen Gladiator vom Leben zum Tode zu befördern. »Mortensen ist jetzt nicht hier. In dem Nest kennt man jedes Kind. Wann kommt Arnoldi?«

»Morgen nachmittag.«

»Schön. Und Mathiessen?«

»Kaum vor übermorgen. Er ist gestern von Athen weggefahren.«

»Ein wahres Glück, daß wir dann nicht mehr hier sind«, höhnte Gil.

Jeff trat mit beiden Füßen nach seinem Bruder, verfehlte ihn aber, was seine Laune nicht besserte. »In diesen verdammten Dokumenten steckt unser ganzes Geld und wir schleppen sie nutzlos durch Europa. Hol der Teufel so ein Geschäft!«

»Mathiessen bringt zwei Angebote«, sagte Hoffmann. »Arnoldi hat leider die falsche Chiffre erwischt; ich kann seine Depesche nicht entziffern.«

»Wenn sie uns mal zwischen den Fingern haben«, sagte Jeff mißmutig, »werden sie bestimmt nicht den falschen Paragraphen erwischen.«

»Ah – hol Sie der Teufel«, ächzte Hoffmann. »Es ist wahrlich kein Vergnügen, mit ängstlichen Idioten zu arbeiten. Mortensen hin, Mortensen her – er ist verteufelt geschickt, aber irgendwie muß er zu fassen sein. Was zum Kuckuck ist der Mann eigentlich?«

»Das möchte ich auch wissen«, brummte Gil.

Jeff hob den Kopf. »Was er ist? Das weiß nur er. Nach seinen Verbindungen zu urteilen, gehört er der amerikanischen Gruppe an. Chicago oder Frisco. In Mossul hat er mit Kennedy geprunkt, dem kleinen Kennedy, den die Engländer voriges Jahr als Spion erschießen ließen. Er ist nächtelang mit ihm zusammen gesessen. Wie ich ihm die Ölaktien abgeknöpft habe, war er mit Kennedy hinter mir her.«

»Also einer von der Zunft.«

*

Christian und Farr kamen erst gegen Mitternacht nach Hause. Sie waren in der Stadt gewesen, hatten alte, uninteressante Häuser bewundert und endlosen Erzählungen mitteilungsbedürftiger Ortsbewohner gelauscht.

Eine Weile noch saßen sie am Balkon und rauchten. Weit draußen zogen stille Lichter vorbei: Es waren Fischer, die mit grellen Azetylenlampen die Fische anlockten. Vor der Hafeneinfahrt blinzelte ein grünes Blinklicht und erhöhte trotz der vorgetäuschten Lebhaftigkeit die trostlose Stille des Ortes …

»Hoffentlich«, sagte Christian und blickte auf den sternenbesäten Himmel, »hat Ulla meine Depesche bekommen.«

»Haben Sie ihr berichtet, daß Sie hier bleiben?«

»Natürlich …«

»Und wenn sie herkommt?« fragte der ewig neugierige Farr.

Christian wiegte den Kopf. »Es wäre ein Glück und ein Unglück. Die Sache hier gefällt mir nicht.«

»Was fürchten Sie?«

»Nichts«, sagte Christian und stand auf, »es ist aber Zeit, daß wir schlafen gehen.« Als sie sich trennten, setzte er hinzu: »Wie zum Kuckuck kannst du den ganzen Tag in dem schwarzen Zeug da herumlaufen … Zieh' dir doch tagsüber ein Badekostüm an.«

Aber Farr huschte eilig aus dem Zimmer, ohne zu antworten.

Der nächste Tag verging eintönig.

Der Mittagsdampfer brachte einen neuen Sommergast, einen großen, stämmigen Mann, der im Touristenkostüm aussah wie eine schlecht angezogene Auslagenfensterpuppe, und Christian stieß einen leisen Pfiff aus, als er ihn sah. Er hatte Vinzenz Arnoldi sofort erkannt.

»Fehlt nur noch Mathiessen«, sagte er zu sich selbst, »dann ist die Gesellschaft vollzählig; falls der gute Mathiessen in der Zwischenzeit nicht erschlagen worden ist …«

Wie vorauszusehen, ging Arnoldi mit wunderbarer Sicherheit auf das Hotel »Narenta« zu, und die dicken heißen Mauern verschlangen seine breite Gestalt.

Und dann war der Abend da; der Abend mit seinem Leben und dem leisen Wind, der einige Abkühlung brachte.

Christian stand am Hauptplatz und sprach mit einem Einheimischen über die Fauna und Flora des Küstenlandes; da aber in einem Umkreis von vierzig Kilometern kein Grashalm wuchs und sich seit Menschengedenken kein Tier in diese Gegend verirrt hatte, war das Gespräch ziemlich einseitig und wenig belebt.

Männer und Frauen standen ringsherum und warteten geduldig; um die Zeit war der Autobus aus Fiume fällig und die Ankunft dieses staubigen und verschmutzten Wagens bedeutete eine Abwechslung; er brachte Menschen aus einer fernen, fremden Welt.

»Jetzt muß er gleich kommen«, sagte der Einheimische und zog zum vierzigstenmal seine Uhr.

Sein Gefühl hatte ihn nicht betrogen; statt eines Wagens tauchten zwei auf, die schwer schaukelnd die steile Uferstraße herabrollten; eine ungeheure Spannung lag über den Gesichtern der wartenden Menschen, und aus den engen Nebengassen quollen immer neue Leute.

Mit einem scharfen Ruck hielten die Wagen gerade vor dem Brunnen, der seit vier Monaten kein Wasser mehr führte, und die Türen flogen auf.

Und Christian prallte mit einem leisen Wehlaut zurück.

Lächelnd sprang Mabel Johnson als erste zur Erde und half dem etwas schwerfälligen Papa Johnson aus dem Karren; dann entstieg Nyström der dunklen Tiefe und als letzter – Mathiessen.

»Farr«, keuchte Mortensen zwei Minuten später und drückte eine Hand aufs fieberhaft klopfende Herz, »Farr – Mabel ist da.«

»Mabel …« kam es fassungslos zurück.

»Und Johnson …«

»Johnson …«

»Und Nyström …«

»Hilf Himmel …«

»Und Mathiessen …«

Farr begann zu lachen. »Und Mayer und Müller und Schulz. Du lieber Gott, haben Sie mich erschreckt. Sie sollten bei der Temperatur keine solchen Scherze machen.«

Aber das Lachen verging ihm, als er Christian ansah.

Christian Mortensen sah in dem Augenblick wirklich alt und verfallen aus.

*

Der zweite, der die Johnsons und Nyströms eräugt hatte, war Jeff Strucks, der Unermüdliche. Er fuhr sich zweimal über die Augen, rieb eine Weile mit dem Ärmel über die Scheibe; als das Bild blieb, begann er schrecklich zu fluchen. Neben ihm tauchten Gil und Hoffmann auf; alle überragend, Vinzenz Arnoldi. Acht blutunterlaufene Augen starrten auf die liebliche Amerikanerin, die sich leicht in den Hüften wiegte und lispelte; wenn sie erregt war, stieß sie mit der Zunge an und lispelte.

»Hol' der Teufel die Gesellschaft«, sagte endlich Gil wütend und hieb mit der Faust auf das Fensterbrett, was er gleich darauf bitter bereute. Das Brett war mit herausstehenden Nägeln nur lose auf der Unterlage befestigt. »Ein dummer Zufall – aber die Leute gehen uns nichts an …«

Jeff wandte sein trotz der Hitze bleiches Gesicht herum.

»Die Johnsons – von mir aus«, sagte er schwer schluckend. »Aber weißt du, warum Nyström hier ist?«

*

»Weil er Christian Mortensen verfolgt und hofft, ihn hier zu finden.«

Einen Augenblick senkte sich eisiges Schweigen über den heißen Raum. Dann sagte Arnoldi klar und hart: »Umso besser. Ich freue mich seit zwei Jahren, diesem Christian Mortensen wieder einmal zu begegnen.«

Die Tür flog auf und Olaf Mathiessen stand auf der Schwelle.

Ein sehniger, hübscher, braungebrannter Mann mit eleganten Bewegungen, der sein Gesicht zu einer Grimasse verzog, als er die Gruppe sah.

»Stellt ihr nun lebende Bilder«, sagte er lachend, »oder wartet ihr auf einen Geist? – Prost, Jeff. Wie stehts mit dem Geschäft?«

»Geschäft ist wundervoll …« lallte Gil, der sich von seinem ersten Schreck, den ihm das unvermutete Klopfen eingeflößt hatte, noch immer nicht erholen konnte.

In der Kirche Santa Maria de pescatori traf unterdessen die unruhige Mabel Johnson den bedächtigen Vollmer; er hatte sie mit einem heimlich zugesteckten Zettel zu diesem Stelldichein eingeladen.

»Er ist hier«, sagte der Detektiv leise, »und wohnt mit einem alten Herrn – ich glaube, es ist ein Professor – in einem Privathaus an der Uferstraße. Aber – er ist verkleidet.«

»Verkleidet?« Mabel warf die großen Kinderaugen erstaunt herum.

»Ja … hm. Als Frau.«

»Oh – very nice«, sagte die Amerikanerin. »Da kann ich mich als Mann verkleiden, und wir feiern Hochzeit.« Sie lachte leise gurrend.

Ehe sie sich trennten, sagte Vollmer noch bedächtig: »Und vergessen Sie nicht, seinen Aufenthaltsort geheim zu halten. Nyström ist ihm, scheint's, auf den Spuren …«

»Wonderful«, seufzte Mabel; sie hatte sich trotz Amerika – oder vielleicht eben deshalb – eine große Portion Romantik bewahrt.

Als sie ins Hotel kam, stand Olaf Mathiessen vor dem Haus und blickte mit großen, blauen Augen der Ankommenden entgegen. Er hatte sie im Bus kennengelernt und Eindruck auf sie gemacht. Die Amerikanerin war ein Mädchen mit einer sehr empfänglichen Seele.

»Hallo«, rief sie ihn kameradschaftlich an. »Zählen Sie eigentlich die Sterne?«

Er nickte ernsthaft. »Ja – aber ich habe nur einen einzigen gefunden.« Die Schmeichelei war plump. Aber Mabel war in Kolorado-USA. aufgewachsen. Sie lachte eine ganze Skala auf und ab.

»Was machen Sie hier?« fragte sie neugierig.

»Ich wollte weiterfahren«, log Mathiessen, »aber Sie hindern mich daran.«

»Ich?« Die Kinderaugen begannen vor Vergnügen zu funkeln. »Das wußte ich nicht.«

»Darum sage ichs Ihnen.«

Mabel machte ein komisch ernstes Gesicht. »Ich kenne Sie ja gar nicht.«

»Ich«, sagte Olaf Mathiessen und verbeugte sich leicht, »entstamme einer sehr gewissenhaften Familie mit guten Sitten.«

»Scheint eine zähe Eigenart zu haben, diese Familie.«

»Ja – und ist dabei etwas nachlässig. Wir haben niemals das Bedürfnis, gewisse Beweggründe unseres Tuns zu erklären. Erklärungen abzugeben liegt uns überhaupt nicht.«

»Oh!« Mabel Johnson machte ein erschrockenes Gesicht. »Leidenschaftliche Selbstvergessenheit und so …«

»Eher eine Art entschlossenen Vorgehens angesichts heikler Umstände.«

»Und was wären diese heiklen Umstände?« forschte die junge Dame neugierig.

»Ihre Anwesenheit.«

Mabel verzog den Mund. »Sie scheinen mir ziemlich taktlos zu sein in der Wahl Ihrer Bemerkungen.«

»Erbfehler«, nickte der junge Mann lachend. »Einer meiner Vorfahren war Geistlicher.«

*

Um zehn Uhr hatte sich Christian erst so weit erholt, daß er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er ging im Zimmer auf und ab und wälzte eine Fülle von Gedanken in seinem Hirn. Zwischendurch trank er Limonade und rauchte.

»Farr«, sagte er endlich, »ich wünschte, ich hätte mich niemals in die Sache eingelassen.« Es schwang etwas in Christians Stimme mit, das Farr aufhorchen ließ …

»Warum?« fragte er, ohne aufzusehen.

»Weil ich mich meinem eigentlichen Leben entziehe und Wege gehe, die ins Unendliche führen. Der Gedanke an Ulla quält mich mehr als ich dachte …«

Farr fand diese Bemerkung ziemlich nett und machte auch eine diesbezügliche Bemerkung, aber Christian schüttelte den Kopf.

»Es ist nicht nur das. Die ganze Sache beginnt sich zu verwirren und man kann leicht den Überblick verlieren. Daß sie Arnoldi und Mathiessen hergerufen haben, begreife ich. Aber was macht Nyström in dem Nest? Wer hat ihn hergebracht? Wie ist er auf unsere Spur gekommen? Denn – schließlich ist er doch hinter uns her.«

Der Abend verlief ungemütlich; Farr war wortkarg und hatte kleine, unruhige Augen, und Christian fühlte eine drückende Beklemmung, der er nicht Herr werden konnte. Er versuchte auf alle möglichen Arten, sich abzulenken. Zum Schlusse wurde er bummelwitzig.

»Wenn du Mabel nicht erhörst«, sagte er grinsend, »wird sie mir einen Antrag machen.« Dann sinnend: »Ob Ulla sehr verzweifelt wäre, wenn Sie das sähe …«

*

Im dumpfen Zimmer des Hotels »Narenta« arbeitete unterdessen der Kriegsrat. Jeff saß rittlings auf einem Sessel und lauschte den Ausführungen Vinzenz Arnoldis, der eben in längerer Rede klipp und klar bewies, daß etwas geschehen müsse.

»Ich habe bei verschiedenen Leuten angeklopft«, sagte er, »und zwei bindende Angebote erhalten. Aber die Vorsichtsmaßregeln sind derart, daß ich nur im äußersten Notfall auf diese Angebote greifen möchte.«

»Also nichts«, knurrte Gil.

»Von mir aus – wenn Sie's so bezeichnen. Wenn Sie bessere Vorschläge haben, ich hätte nichts dagegen.«

»Wie steht die Angelegenheit mit Christian Mortensen«, fragte Mathiessen neugierig.

»Es ist die Frage, ob er hier ist«, sagte Jeff bedächtig. »Die Anwesenheit Nyströms läßt darauf schließen. Aber gesehen hat ihn noch keiner von uns.«

»Und wenn er hier ist?«

»Dann«, fuhr Jeff erregt auf, »plant er irgendeine Teufelei, die uns ruinieren soll. Ich kenne den Kerl viel zu genau, als daß ich ihm nicht alles zutrauen würde.«

Mathiessen nickte ergeben. »Einverstanden. Sprechen wir Punkt für Punkt durch. Als unsere Gesellschaft vor zwei Jahren gegründet wurde, übernahm jeder einen Teil der Pflichten. Dann hat sich plötzlich ein außerhalb der Gesellschaft Stehender hineingemengt – das war Christian Mortensen … Hatte er bisher greifbare Erfolge?«

»Nein«, sagte Gil fest.

»Ausgezeichnet. Was weiß er?«

»Alles.«

Mathiessen hob den klugen Kopf. »Wieso alles?«

Jeff berichtete kurz sein Abenteuer mit dem angeblichen Johnson und flocht zwischendurch persönliche Bemerkungen ein, die die Erzählung belebten.

»Das ist sehr unangenehm«, sagte Mathiessen endlich nachdenklich. »Denn jetzt kann der Mann mit einem festen Ziel arbeiten … Einen Augenblick, Gil. – Jedenfalls, soweit meine Auskünfte richtig sind, gehört er der amerikanischen Gruppe an. Kennedy, Lowell und so weiter. Warum können wir uns mit ihm nicht einigen? Schließlich: was er will, ist doch nur Geld.«

»Wenn es nur Geld ist«, meinte der vorsichtige Hoffmann.

Einmal schluckte Gil und warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu. »Der Zufall hat uns diesen Amerikaner Johnson in den Weg geführt. Wenn wir uns seiner oder seiner Tochter bemächtigen könnten. Solche Leute zahlen anstandslos Lösegeld, wenn es darauf ankommt.«

Eine Weile herrschte drückendes Schweigen; dann sagte Mathiessen mit heiserem Lachen: »Die Idee ist ausgezeichnet. – Und wer soll sie durchführen?«

»Sie«, sagte Gil und streckte seinen Zeigefinger gegen Mathiessen aus.

*

Am nächsten Morgen machte sich Mabel Johnson auf den Weg, um nach Farr zu sehen; vor ihr ging Vollmer, seine Staffelei und einen dicken Block Zeichenpapier unterm Arm; vor dem Hause, in dem Christian wohnte, blieb er stehen und stellte die Staffelei auf. Das war das vereinbarte Zeichen.

Mabel hatte wohl leichtes Herzklopfen, als sie die Treppe hinaufstieg; aber der forsche Tätigkeitsdrang, der ihr ganzes Wesen beherrschte, trieb sie vorwärts. Sie klopfte ergebnislos an zwei Türen. Als sie die dritte öffnete, stand sie einer alten, lächelnden Dame gegenüber.

Es war die Wirtin.

»Mi rincresce ma non parlo tedescho …«

»Farr …« sagte Mabel und legte viel Gefühl in ihre Stimme. »John! – Warum bist du vor mir geflohen?«

»Scusi Signora, ma …«

Mabel lächelte siegesgewiß. Sie hatte sich Vollmers Beschreibung gemerkt. »John«, sagte sie verträumt, »deine Verkleidung ist reizend. Aber du hast auch andere Pflichten. Papa hat ein Motorboot gemietet, und du kannst jeden Augenblick mit uns kommen … auch dein Freund.«

Die Wirtin merkte, daß da etwas nicht stimmte; sie war eine gute alte Dame, und die Amerikanerin tat ihr unbewußt leid; so legte sie ihr eine Hand auf den Arm und sagte: »Carina … Lei e sicuro inamorata … si si, ma …«

Die Stimme und die Geste waren für Mabel zu viel; mit einem kleinen spitzen Schrei fiel sie der Dame um den Hals und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen … Der Kuß schmeckte nach Roger-Gallet und Elida. Von irgendwo kam ein leiser Duft von Pixavon und Nivea. Dann erstarrte Mabel mitten in der Bewegung … Trotz des Alters hatte die Dame vor ihr unzweifelhaft weibliche Attribute, die an ihrem Geschlecht nicht zweifeln ließen.

Schrecklich verlegen prallte die Amerikanerin zurück.

Sie stand und starrte.

So entging es ihr, daß nebenan eine Tür aufging, und daß Farr sich leise entfernte; er hatte einen Anzug Christians angelegt – obwohl er ihm zu groß war – aber die ewigen Weiberkleider störten ihn schrecklich. Außerdem hatte er die Amerikanerin kommen sehen und hatte das einzige Bedürfnis, zwischen sich und ihr recht viele Meter guter Straßen zu legen …

»Ich möchte wissen«, sagte Vollmer halblaut und malte in einen violetten Himmel eine rote Möwe, »was die Miß oben treibt … Ihr Bräutigam ist doch soeben auf und davon.«

Es bedurfte langer und eingehender Erklärungen des Detektivs, ehe Mabel alles verstand; ein trotziger Zug legte sich um ihren Mund und ihre erstaunten Kinderaugen waren verdächtig feucht. Aber sie biß die Zähne zusammen.

In Kolorado-USA. pflegt man nicht nach einem durchgegangenen Liebhaber zu heulen.

Mit diesen Gedanken war sie bis zum Bad gekommen und beschloß, ins Wasser zu gehen; ein eilfertiger und sehr devoter Diener brachte ihr aus dem Hotel einen entzückenden Badeanzug.

Gerade als sie ins Wasser steigen wollte, sah sie Olaf Mathiessen auf sich zukommen; er wirkte in seinem schmucken Trikot wie ein griechischer Gott, und Mabels Augen glänzten vor Vergnügen.

Das Vergnügen war gegenseitig; Mathiessens Augen umfuhren kosend die wundervollen Linien Mabels; in dem Kostüm sah sie groß und schön aus. Ihre langen Beine hätten einen Bildhauer auch aus anderen als künstlerischen Gründen begeistert.

»Endlich«, sagte er lächelnd und preßte ihre zarten Finger. »Sie kommen wie Diana aus dem Walde oder, besser gesagt, wie Aphrodite aus den Wellen.«

»Sie wollen also so lange bleiben wie ich?« fragte sie endlich kokett.

»Ich weiche früher keinen Schritt.«

»Und wenn andere dazwischenkommen?« forschte sie neugierig.

»Dann«, sagte er fest und machte ein ärgerliches Gesicht, »gibt's nur einen Ausweg.«

»Und der ist?«

»Daß Sie mich heiraten«, sagte er, selbst einen Augenblick über seine Kühnheit erschrocken.

Seltsamerweise nahm ihm Mabel die Bemerkung nicht übel; sie zeigte eine Reihe tadelloser Perlenzähne, und benahm sich wie ein Backfisch in irgendeinem versteckten Ort Mitteleuropas.

Sie schwammen um die Wette; als sie müde wurde, legte sie eine Hand auf seine Schulter und ließ sich von ihm ziehen.

Jeff, der soeben ins Bad gekommen war und die Szene beobachtete, schmunzelte vergnügt. »Mathiessen ist ein famoser Mann«, sagte er zu seinem Bruder. »Vierundzwanzig Stunden in dem Nest und schon ist er vertraut mit der Amerikanerin, als würden sie sich hundert Jahre kennen.«

»Bei dem Aussehen …« sagte Gil neidig und blickte auf seine etwas schief geratenen Gliedmaßen.

Mabel lag in der Sonne und blinzelte in den blauen Himmel.

»Sie werden mit uns essen«, sagte sie, »allein mit Pa ist's sehr langweilig; und dann werden Sie mich in einem Motorboot spazieren fahren.«

»Wohin Sie wollen …«

»Ausgezeichnet. Wir wollen hingehen, wo es wenig Menschen gibt.«

»Mabel«, sagte Mathiessen und erhob sich halb, um das schöne Bild besser genießen zu können, »Sie haben bessere Ideen als alle unsere Dichter und Schriftsteller. Wann wollen Sie fahren?«

Die Amerikanerin dachte einen Augenblick nach. »Morgen. Heute muß ich noch eine andere Sache erledigen.«

Trotz dem Drängen Mathiessens ließ sie sich nicht herbei zu verraten, was sie mit der anderen Sache meinte.

In Dingen, die ihre Seele betrafen, war Mabel genau so verschwiegen, wie alle anderen Frauen.


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